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© BÜCHERmagazin, Ingeborg Waldinger (wal)
Private Pilgerschaft: Dagmar Leupolds Roman "Die Witwen" erzählt von Abenteuern der Seele
Das Coverbild, eine Montage von Alexey Kondakov, ist perfekt gewählt: Vier weniger als leicht bekleidete Frauen umgarnen handgreiflich einen ebenfalls nackten, satyrhaften Mann - die altmeisterliche Nymphen-Gruppe ist in das Interieur eines Straßenbahnwagens verpflanzt. Dies passt zu Dagmar Leupolds Faible für die antike Travestie. Die vier Heldinnen ihres jüngsten Romans sind keine Witwen, eine von ihnen könnte immerhin eine sein - ihr Gatte Otto ist seit acht Jahren im Fernen Osten verschollen. Dass die Zurückgebliebene Penny heißt, von Penelope, und mit Hingabe strickt, kann man als etwas aufdringliche Referenz verbuchen. Alle vier Damen in gerade noch mittleren Jahren, Berliner Schulfreundinnen einst, haben sich vor geraumer Zeit im fiktiven Örtchen Steinbronn an der Mosel niedergelassen, in dem die Idylle sie eisern im Griff hat. Es kommt, wie es kommen muss: Sie wollen nicht mehr warten, sie wollen endlich wieder einmal etwas erleben. Denn Witwe sein heißt, wie Dorothea "Dodo" vom abschreckenden Beispiel ihrer Mutter weiß, "starr werden, versteifen. Nichts weht und nichts fließt, und an der Nasenwurzel eine Kerbe vom Schicksalsschlag."
Als Erfüllungsgehilfe bietet sich Bendix an, von Benedikt, der Gebenedeite, der sich stolz Privatier nennt; ein verkrachter Philosoph, vor Jahren von seiner großen Liebe schnöde verlassen, ein Pessimist folglich in eigener wie in allgemeiner Sache, der nicht mehr an das politische Konzept der Freiheit glaubt in einer Zeit, die sich nicht für Lebensentwürfe interessiert, sondern für "Lifestyles". Bendix will und soll den Damen bei ihrer Suche mit ungewisser Aufgabenstellung als Chauffeur dienen. Sein Bierkonsum, behauptet er frech, sei kompatibel "mit anderen Süchten, Sehnsüchten beispielsweise".
Den vier Frauen gefällt an ihm die Mischung aus Gleichmut und Eindringlichkeit, aber auch sein Reiseplan: der Mosel bis an ihre Quelle zu folgen: "Anfänge sind immer unterirdisch." Und so gelangen die Reisenden von einem symbolisch befrachteten Ort zum nächsten, nach Schengen und zum einstigen Schlachtfeld am Hartmannswillerkopf, wo eine Autopanne zum einzigen Ereignis wird, das den Untertitel "Abenteuerroman" im landläufigen Sinn einigermaßen zu rechtfertigen scheint. Das Warten auf den Pannendienst eröffnet einen weiteren Raum für das Erzählen: eine jede trägt ihr Scherflein bei, Bendix leistet Hebammendienste als Zuhörer.
Dass es Dagmar Leupold eher um die Abenteuer der Seele zu tun ist und durchaus auch um ein Lehrstück in Sachen Lebensweisheit, ahnt man bald, und gern möchte man profitieren von paradoxen Erkenntnissen wie der, dass Altern insofern verjüngt, "als es in Unsicherheiten zurückversetzt, die dem Heranwachsen angehört hatten. Allerdings mit dem Unterschied, dass keine Zukunft mehr aufscheinen kann, in der das Unzugängliche, das Beunglückende . . . überwunden sein würde." Der naheliegenden Engführung ins Praktisch-Erotische versagt sich die Erzählerin zum Glück. Dennoch begreifen wir mit den Protagonistinnen, dass die Wunschlosigkeit eingefahrener Lebensgeleise ein "Zustand der Dürftigkeit" ist.
Dem dankbaren Annehmen solcher Einsichten steht allerdings eine gewisse forcierte Munterkeit der Erzählstimme entgegen. Der Leser bewundert ihren Einfallsreichtum en détail, die stilistische Delikatesse und aphoristische Prägnanz und fühlt sich doch auch überfordert von der aufgeregt-aufgeräumten Mitteilsamkeit. Er fragt sich, ob ein Protagonist, der seine Zierfische nach berühmten Philosophen benennt - "Bloch geht es schlecht, Leibniz dagegen gedeiht" -, den Bogen der Originalität nicht überspannt und ob das Fahrzeug von Penelope & Co. wirklich auch noch ein Fiat Ulysse sein muss.
Doch gerade als sich bei der Lektüre Zweifel einstellen, ob unechte Witwen überhaupt Anspruch auf echte Anteilnahme haben, gelingt es Dagmar Leupold, den vier Erzählerinnen im Auto, in dieser "Bergungskapsel" aus "Erdennot", Kontur und Tiefe zu verleihen und so gleichsam rückwirkend die allzu gedehnte Exposition zu veredeln. Man sieht: Das alles weiß die Autorin ohnehin selbst. Weshalb sie Bendix seinem besten Freund (die Briefe gehören zum Romanmaterial) gestehen lässt, Schreiben verleite immer "zur Pose. Schreiben war wie toupieren: Blößen kaschieren, Fülle vortäuschen."
Wenn indes Dodo, die "Partisanin" des Gärtnerns, die überall Pflanzen hinterlässt wie andere Graffiti, von der zementenen Witwenschaft ihrer Mutter erzählt, gegen die die Tochter mit der Darbietung von Witzen und unglaublichen Geschichten verzweifelt anzugehen suchte und vor der sie Hals über Kopf in die Männerwelt flüchtete, dann bekommen all die verwaisten Betthälften, bekommt der ganze Empty-Bed-Blues dieses Romans seinen Resonanzraum. Und wenn die Feldenkrais-Dozentin Beatrice (ja, natürlich: Dante) von ihrem langjährigen Liebhaber spricht, dem Italiener Giuliano, dem sie als heimliche Zweitfrau einigen rhetorischen Aufwand, nicht aber das Bekenntnis zum gemeinsamen Kind wert war, worauf sie es wunschgemäß abtreiben ließ, dann verliert Leupolds Erzählgestus alles Blumige und kommt zum - dunklen - Punkt. Während Bendix sich der Nachkommenschaft aus Prinzip verweigert, weil er das Geschlecht der Gegenwart für unheilbar verseucht hält, leidet Beatrice als "femme stérile". Die falschen Witwen, versammelt auf einer Bühne des Ersten Weltkriegs, sind tatsächlich tragische Gestalten: "Hängengeblieben an diesem verrückten Ort, einem Massengrab von Lebensgeschichten. Nicht vergessenen, sondern verhinderten, gewaltsam abgebrochenen."
Das gilt in "Die Witwen" auch für die schöne, blonde Laura, die Sex vom ersten Mal an als öd und ekelhaft empfindet und die Pflege der perfekten Maske zum Beruf macht, ehe sie auf Logopädin umsattelt. Und für Penny natürlich, einst Lehrerin, heute Juniorchefin im wirtlosen "Rebstock", die eine poetische Phänomenologie des Wartens entwickelt: als "Absage an das Zeiterleben, das uns regelt". Demgemäß liest sie Penelopes Brauch, der Wiedervereinigung mit dem Gatten zuliebe das tagsüber Gewobene des Nachts wieder aufzutrennen, nicht als Stillstand, sondern als Vertiefung der Existenz.
So lässt sich schließlich auch Dagmar Leupolds Virtuosität deuten. Es gibt eine Reihe von Sätzen, die einem in ihrer Anschaulichkeit geradezu auf der Zunge zergehen. Über einen Mann und seinen Hund zum Beispiel: "Hängendes Gesäß beide, nur Gang, kein Fortschritt." Oder über Giulianos Ringfinger: "aber auch ohne Ring sah der Finger verheiratet aus". Oder wenn es von Dodos Mutter heißt, sie schritt aus, "als wäre der Bürgersteig ihr Gegner". Aber die Bedeutung dieses "Abenteuerromans" liegt nicht im glänzend Gelungenen, sondern im Wissen um die rettende Kraft der Erzählung, die über das Existenzminimum hinausgeht, die stets mehr macht aus Verlust und Verrat, aus Not und Tod: "Wir runden ja auch beim Zählen auf, warum dann nicht beim Erzählen."
So verwundert es nicht, dass die Pilgerschaft am Ende in die umgekehrte Richtung führt, von der Quelle zum Meer - auch wenn kein Odysseus dort je ankommen wird.
DANIELA STRIGL
Dagmar Leupold: "Die Witwen". Ein Abenteuerroman.
Verlag Jung und Jung,
Salzburg 2016. 233 S., geb., 22,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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