Wie kein Zweiter kann Matthias Zschokke hinter dem Gewöhnlichen das Unheimliche fühlbar machen - er ist ein großer Poetisierer des Alltäglichen. Matthias Zschokke stattet seine Helden nie mit Fähigkeiten aus, die nicht von dieser Welt sind, so dass man bewundernd oder neidisch zu ihnen aufsehen müsste. Im Gegenteil: Er setzt sie neben seine Leser, und er sitzt selbst neben seinen Helden und schaut ihnen in ihrem Alltag mit großem Staunen zu. Und was er dabei alles entdeckt! In seinem neuen Roman geht es um einen, der sich hinlegt, wenn er satt ist; und wenn er Hunger hat, steht er wieder auf. Gern hat er, wenn die Frau, mit der er zusammenlebt, dabei neben ihm liegt und steht. Aber die großen Schicksalsfragen bleiben ihm trotzdem nicht erspart. Er ist ein Held, dessen Mutter sterben will. Auch sein Freund hat keine rechte Lust mehr am Leben. Beide erhoffen sich, dass der Held sie aus dem Jammertal führen möge. Doch der weiß nicht, wie er das anstellen soll. Lieber geht er Kaffee trinken, schaut Hunden, Frauen und Männern beim Leben zu, was ihm manchmal gefällt, manchmal nicht, isst Käse, der ihm manchmal schmeckt, manchmal nicht, sieht nasse Schnürsenkel an Kinderschuhen und Wolkenfetzen, die hinter Möwen herjagen. Das findet er alles so interessant, dass er darüber fast seine Mutter und seinen Freund vergisst.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.11.2016Ach, das Übliche
Wie schreibt man über Langeweile, ohne zu langweilen? Matthias Zschokke döst über einer Antwort ein
Vor Romanen, in denen Schriftsteller vorkommen, sollte man sich hüten. In diesem speziellen Genre geht es zumeist um Menschen, die nicht wissen, worüber sie schreiben sollen. Ihre chronische Erfolglosigkeit verwandeln sie in eine Welt- und Menschenverachtung, aus der heraus ihnen dann vielleicht doch etwas einfällt. Matthias Zschokke führt dieses Genre des Schriftstellerproblemromans ad absurdum, indem er seiner Schriftstellerfigur den Vornamen Roman gibt. Den betont man zwar auf der ersten Silbe, dennoch ist die Wortgleichheit reizvoll, steht doch der Name des Helden als Gattungsbezeichnung auf dem Buchcover, die sich so in einer Art literarischem Zirkel selbst zum Gegenstand macht.
Roman also, Hauptfigur im Roman „Die Wolken waren groß und weiß und zogen da oben dahin“, ist um die sechzig, hat Schreibschwierigkeiten und gleicht den in vielen Zschokke-Romanen erprobten Figuren. Er hat einen Büroraum in Berlin gemietet, in einer Fabrik in Moabit, aber eigentlich nur, um jeden Tag dorthin zu radeln und dem Dasein in abgeschiedener Stille zu trotzen. Ihn Schriftsteller zu nennen, wäre übertrieben. Roman schreibt zwar, aber er schreibt keine Romane. Stattdessen verfasst er Mails an seine 1 000 Kilometer entfernte Mutter, an einen 500 Kilometer entfernten Freund und an eine Tante in Amerika. Die Mutter möchte gerne sterben und bittet den Sohn diesbezüglich um Hilfe, und etwa in der Mutter des Buches stirbt sie dann auch, einfach so. Der Freund, ebenfalls lebensmüde, ist nach einer Operation mit gescheiterter Narkose nicht mehr richtig ansprechbar und fällt als Briefpartner ebenfalls aus. Und die Tante in Amerika spielt sowieso keine Rolle.
Was soll man bloß erzählen, wenn jeden Tag dasselbe passiert? Und wenn man eigentlich nur sagen kann: „Von mir weiß ich nichts zu berichten“? Im Treppenhaus oder auf der Straße trifft Roman immer wieder die unvermeidlichen Nachbarn, die er nicht treffen will, weil jede Begegnung in ihrer Unvermeidlichkeit peinlich ist. Doch die Ausweichmanöver, um ihnen zu entgehen, sind mindestens genauso peinlich. Am Kiosk kauft er jeden Tag dieselbe Tageszeitung, um sie zu gründlich zu lesen und das Gelesene sofort wieder zu vergessen. Und im Café bestellt er jeden Tag aufrituelle Weise denselben kleinen Latte Macchiato und schafft es nie, einfach nur „das Übliche“ zu sagen. Er fährt mit dem Fahrrad zu seiner sogenannten Arbeit, im Sommer mit der Geliebten drei Wochen nach Griechenland, wo sie jedes Mal auf derselben Insel landen, der sie entrinnen möchten. So ist das Leben in Zschokke-Romanen, ein Zirkel von Peinlichkeit, Sinnlosigkeit und Vereinsamung.
Die Geliebte wohnt zwar mit Roman in einer Wohnung, tritt aber nur selten in Erscheinung. Sie ist Literaturwissenschaftlerin – was sonst –, doch viel mehr als Ja oder Nein haben sie und Roman sich nicht zu sagen. Flüchtige Berührungen im Flur lassen ein sexuelles Begehren auflodern wie eine Erinnerung an vergangene Zeiten, doch auch daraus wird nichts, weil das Bewusstsein der Lächerlichkeit dieser Übungen und der dazu erforderlichen strapaziösen Verrenkungen den Vollzug verhindert. Roman ist eine ziemlich trostlose Figur, so wie dieser Roman insgesamt eine ziemlich trostlose Angelegenheit ist und sein will.
Langeweile mag ein verbreitetes Daseins-Phänomen sein, bleibt jedoch literarisch ein Problem. Wie erzählt man von ihr, ohne dabei selbst zu langweilen? Worüber noch reden, wenn man in den Augen des Gesprächspartners „die Langeweile gähnen“ sieht? Ist das komisch, heroisch oder doch bloß langweilig? Wie soll man weiterlesen, wenn der Romanheld seinerseits beim Lesen von Literatur im Sessel neben dem Fenster eindöst? Und was soll man davon halten, wenn auch die titelgebenden Wolken gar nicht der Rede wert sind, weil der Held sie nicht sieht, sondern stattdessen auf den Boden blickt? Da fand er früher manchmal verlorene Gegenstände, jetzt nicht mehr, seit die Augen schlechter geworden sind.
Früher – das ist die Zeitform des Romans und so ist dieser hier in einem konsequenten „Gestern“ angesiedelt. Es umfasst alles, was ist und war, weil jeder Tag, so leer er auch sei, ein Gestern hat, und weil Erzählen bedeutet, sich diesem Gestern zuzuwenden. Doch es reicht nicht aus, die immerwährende, immergleiche Gegenwart in ein Gestern zu verwandeln, um literarische Funken aus ihr herauszuschlagen. Vielleicht hat Zschokke das selbst gemerkt, wenn er den „Wolken“-Roman in ein Theaterstück münden lässt, das Roman geschrieben hat, aber nie zur Aufführung kam, weil der erwünschte Hauptdarsteller während einer Lesung auf offener Bühne gestorben ist. Das unaufgeführte Stück wird deshalb im Konjunktiv erzählt, als Nichtgeschehenes, bei dem sich dies und jenes ereignen würde. Tatsächlich handelt es sich aber auch nur um ein scheiterndes Gespräch in einem Restaurant.
Immerhin schaffen es die Figuren auf der Bühne im Unterschied zu Roman, einfach nur „Ach, das Übliche“ zu sagen. Die Frage jedoch, warum es nicht genüge, lau zu sein, bleibt unbeantwortet. Und so schlafen auch die Theaterfiguren auf der erdachten Bühne ein. Und Roman döst vermutlich im Sessel weiter vor sich hin. Lassen wir ihn schlafen.
JÖRG MAGENAU
Was soll man denn auch
erzählen, wenn jeden Tag
dasselbe passiert?
Matthias Zschokke:
Die Wolken waren groß und weiß und zogen da oben dahin. Roman. Wallstein Verlag, Göttingen 2016.
220 Seiten, 19,90 Euro. E-Book 15,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Wie schreibt man über Langeweile, ohne zu langweilen? Matthias Zschokke döst über einer Antwort ein
Vor Romanen, in denen Schriftsteller vorkommen, sollte man sich hüten. In diesem speziellen Genre geht es zumeist um Menschen, die nicht wissen, worüber sie schreiben sollen. Ihre chronische Erfolglosigkeit verwandeln sie in eine Welt- und Menschenverachtung, aus der heraus ihnen dann vielleicht doch etwas einfällt. Matthias Zschokke führt dieses Genre des Schriftstellerproblemromans ad absurdum, indem er seiner Schriftstellerfigur den Vornamen Roman gibt. Den betont man zwar auf der ersten Silbe, dennoch ist die Wortgleichheit reizvoll, steht doch der Name des Helden als Gattungsbezeichnung auf dem Buchcover, die sich so in einer Art literarischem Zirkel selbst zum Gegenstand macht.
Roman also, Hauptfigur im Roman „Die Wolken waren groß und weiß und zogen da oben dahin“, ist um die sechzig, hat Schreibschwierigkeiten und gleicht den in vielen Zschokke-Romanen erprobten Figuren. Er hat einen Büroraum in Berlin gemietet, in einer Fabrik in Moabit, aber eigentlich nur, um jeden Tag dorthin zu radeln und dem Dasein in abgeschiedener Stille zu trotzen. Ihn Schriftsteller zu nennen, wäre übertrieben. Roman schreibt zwar, aber er schreibt keine Romane. Stattdessen verfasst er Mails an seine 1 000 Kilometer entfernte Mutter, an einen 500 Kilometer entfernten Freund und an eine Tante in Amerika. Die Mutter möchte gerne sterben und bittet den Sohn diesbezüglich um Hilfe, und etwa in der Mutter des Buches stirbt sie dann auch, einfach so. Der Freund, ebenfalls lebensmüde, ist nach einer Operation mit gescheiterter Narkose nicht mehr richtig ansprechbar und fällt als Briefpartner ebenfalls aus. Und die Tante in Amerika spielt sowieso keine Rolle.
Was soll man bloß erzählen, wenn jeden Tag dasselbe passiert? Und wenn man eigentlich nur sagen kann: „Von mir weiß ich nichts zu berichten“? Im Treppenhaus oder auf der Straße trifft Roman immer wieder die unvermeidlichen Nachbarn, die er nicht treffen will, weil jede Begegnung in ihrer Unvermeidlichkeit peinlich ist. Doch die Ausweichmanöver, um ihnen zu entgehen, sind mindestens genauso peinlich. Am Kiosk kauft er jeden Tag dieselbe Tageszeitung, um sie zu gründlich zu lesen und das Gelesene sofort wieder zu vergessen. Und im Café bestellt er jeden Tag aufrituelle Weise denselben kleinen Latte Macchiato und schafft es nie, einfach nur „das Übliche“ zu sagen. Er fährt mit dem Fahrrad zu seiner sogenannten Arbeit, im Sommer mit der Geliebten drei Wochen nach Griechenland, wo sie jedes Mal auf derselben Insel landen, der sie entrinnen möchten. So ist das Leben in Zschokke-Romanen, ein Zirkel von Peinlichkeit, Sinnlosigkeit und Vereinsamung.
Die Geliebte wohnt zwar mit Roman in einer Wohnung, tritt aber nur selten in Erscheinung. Sie ist Literaturwissenschaftlerin – was sonst –, doch viel mehr als Ja oder Nein haben sie und Roman sich nicht zu sagen. Flüchtige Berührungen im Flur lassen ein sexuelles Begehren auflodern wie eine Erinnerung an vergangene Zeiten, doch auch daraus wird nichts, weil das Bewusstsein der Lächerlichkeit dieser Übungen und der dazu erforderlichen strapaziösen Verrenkungen den Vollzug verhindert. Roman ist eine ziemlich trostlose Figur, so wie dieser Roman insgesamt eine ziemlich trostlose Angelegenheit ist und sein will.
Langeweile mag ein verbreitetes Daseins-Phänomen sein, bleibt jedoch literarisch ein Problem. Wie erzählt man von ihr, ohne dabei selbst zu langweilen? Worüber noch reden, wenn man in den Augen des Gesprächspartners „die Langeweile gähnen“ sieht? Ist das komisch, heroisch oder doch bloß langweilig? Wie soll man weiterlesen, wenn der Romanheld seinerseits beim Lesen von Literatur im Sessel neben dem Fenster eindöst? Und was soll man davon halten, wenn auch die titelgebenden Wolken gar nicht der Rede wert sind, weil der Held sie nicht sieht, sondern stattdessen auf den Boden blickt? Da fand er früher manchmal verlorene Gegenstände, jetzt nicht mehr, seit die Augen schlechter geworden sind.
Früher – das ist die Zeitform des Romans und so ist dieser hier in einem konsequenten „Gestern“ angesiedelt. Es umfasst alles, was ist und war, weil jeder Tag, so leer er auch sei, ein Gestern hat, und weil Erzählen bedeutet, sich diesem Gestern zuzuwenden. Doch es reicht nicht aus, die immerwährende, immergleiche Gegenwart in ein Gestern zu verwandeln, um literarische Funken aus ihr herauszuschlagen. Vielleicht hat Zschokke das selbst gemerkt, wenn er den „Wolken“-Roman in ein Theaterstück münden lässt, das Roman geschrieben hat, aber nie zur Aufführung kam, weil der erwünschte Hauptdarsteller während einer Lesung auf offener Bühne gestorben ist. Das unaufgeführte Stück wird deshalb im Konjunktiv erzählt, als Nichtgeschehenes, bei dem sich dies und jenes ereignen würde. Tatsächlich handelt es sich aber auch nur um ein scheiterndes Gespräch in einem Restaurant.
Immerhin schaffen es die Figuren auf der Bühne im Unterschied zu Roman, einfach nur „Ach, das Übliche“ zu sagen. Die Frage jedoch, warum es nicht genüge, lau zu sein, bleibt unbeantwortet. Und so schlafen auch die Theaterfiguren auf der erdachten Bühne ein. Und Roman döst vermutlich im Sessel weiter vor sich hin. Lassen wir ihn schlafen.
JÖRG MAGENAU
Was soll man denn auch
erzählen, wenn jeden Tag
dasselbe passiert?
Matthias Zschokke:
Die Wolken waren groß und weiß und zogen da oben dahin. Roman. Wallstein Verlag, Göttingen 2016.
220 Seiten, 19,90 Euro. E-Book 15,99 Euro.
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»Ein riesiges Vergnügen, bis zum allerletzten Satz, der sehr schön mehrdeutig und unmöglich ist. Das Beste an dem Buch ist, dass es in Allem sogar Hoffnung spendet!« (Matthias Braun, Buchhandlung Braun & Hassenpflug)