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Ein reiche Fundgrube des Grotesken, Grausamen, Komischen und Banalen: Klaus Zeyringer schreibt eine Geschichte der Presse am Leitfaden der Vermischten Meldungen.
Die Kanalisation gebiert Schrecken. Dort lauern "Geierkraken", die ihre Fangarme durch Gullydeckel stecken und die Fußgelenke von Passanten umklammern. Das berichtete die bayrische "Isar-Post" am 14. September 1953 in ihrer Rubrik "Weite Welt" über die tiefe Unterwelt im brasilianischen Belo Horizonte. Die Geschichte fand Eingang in Heimito von Doderers 1956 veröffentlichten Roman "Die Dämonen", wo sich zwei Protagonisten über diesen "Unsinn" unterhalten. Aber der Fund aus der Zeitung inspirierte den Autor darüber hinaus zu einer Schlüsselpassage, in der es um den Brand des Wiener Justizpalastes geht: Der "dämonische" Berufsverbrecher Meisgeier schiebt eine zur Fußangel gebogene Stahlrute von unten durch ein Kanalgitter, bringt mehrere Polizisten zu Fall und wird durch abwärts gefeuerte Schüsse getötet.
Die Meldungen aus der Rubrik "Vermischtes" waren die Keimzellen so manchen literarischen Werks. Theodor Fontane beispielsweise fand die Stoffe für "Effi Briest" und seine Ballade "Die Brücke am Tay" in der "Vossischen Zeitung". Und in James Joyces "Ulysses" haben sich die zusammengewürfelten Absonderlichkeiten des Alltags, die den Charakter dieses journalistischen Genres ausmachen, nicht nur inhaltlich, sondern auch kompositorisch niedergeschlagen.
Der Germanist Klaus Zeyringer hat der Welt der Vermischten Meldungen und Kleinen Chroniken, die Kurioses und Bizarres "aus aller Welt" in die Kaffeehäuser und Wohnstuben brachten, eine historische Darstellung gewidmet. Neben dem deutschen Sprachraum bezieht er auch die französischen "Faits Divers" und die "Miscellaneous"-Rubriken des angloamerikanischen Raums mit ein, gelegentliche Abstecher führen nach Italien und Spanien. Dabei geht es dem Autor nicht nur um die Rolle der bunten Meldungen als literarische Inspirationsquellen. Er porträtiert das "Vermischte" als eine mediale Hinterbühne, die das Bedürfnis der Gesellschaft nach Unterhaltung und Klatsch, Schauder, Schadenfreude und Sensation ebenso befriedigt wie die Profitwünsche der Medien, die damit Geld verdienen.
Zeyringers Darstellung verknüpft die Entwicklung des Genres mit der allgemeinen Pressegeschichte und setzt bei den Flugblättern und ersten Zeitungen der frühen Neuzeit ein. Von "erschröcklichen" Geschichten über Blutregen, siebenköpfige Knaben und den Teufel, der sich "in Itzeho leibhafftig sehen last", bis zu ebenso schrecklichen, aber wahren Meldungen über brutale Morde und grausame Exekutionen, von Berichten über den Pastor, der einen Brief aus dem Fegefeuer empfing, über den Scheintoten, der an den Sargdeckel pochte, bis zur dreihundert Meter langen Rekordbratwurst aus Zittau - was Zeyringer vor dem Leser ausbreitet, ist eine reiche Fundgrube des Grotesken, Grausamen, Komischen und Banalen. Zugleich aber sind die Kürzestgeschichten auch eine stilistische Schule lakonischer Knappheit und pointierter Prägnanz. Sie unterhalten nicht nur, sondern werfen ein Licht auf die Ängste, Wünsche, Überzeugungen und Obsessionen der verschiedenen Epochen. Allerdings vertraut Zeyringer mitunter zu sehr der erzählerischen Tragkraft seines Stoffs und gibt der Versuchung nach, Anekdoten aneinanderzureihen, während ihre inhaltliche und strukturelle Analyse streckenweise zu kurz kommt.
Störend ist auch die wohlfeile Süffisanz des nachgeborenen Besserwissers, mit der die mentalen Beschränktheiten und gesellschaftlichen Borniertheiten, die sich in den Texten niederschlagen, kommentiert werden, als könne sich der Leser kein eigenes Urteil bilden. Zwischen die chronologische Darstellung geschaltet sind fiktive Szenen und Dialoge - zum Beispiel eine Unterhaltung Bettina von Arnims mit einer Freundin -, die die gesellschaftliche und politische Bedeutung der Vermischten Meldungen zu unterschiedlichen Zeiten veranschaulichen sollen. Das funktioniert mal mehr, mal weniger gut: Gelegentlich wirken die Konversationen künstlich, weil ihr Charakter als Informationsvehikel zu sehr durchscheint.
Glanzlichter des Buches sind hingegen die Kapitel, die der Autor herausragenden Vertretern des Genres widmet, weil er sich hier die Zeit einer tiefer gehenden Analyse von Sprache und Inhalt nimmt und so das stilistische Potential dieser journalistischen Textform vor Augen führt. Zu denen, die Zeyringer heranzieht, gehört der kurzzeitige Redakteur der Berliner Abendblätter Heinrich von Kleist. Der Dichter schätzte den lapidaren Duktus der "Kleinen Chronik" und führte ihn in seinen Anekdoten, die auf solchen Meldungen aufbauen, zur Vollendung. In ihnen sah er ein Mittel, das Ziel seiner Zeitung zu erreichen: auf vernünftige Art zu unterhalten, "in sofern dergleichen überhaupt ausführbar ist".
Eingehend widmet sich Zeyringer auch dem in Deutschland weit weniger bekannten Félix Fénéon. Der anarchistische Literat und Kunstkritiker verarbeitete 1906 als - ebenfalls nur kurzzeitiger - Redakteur von "Le Matin" Agenturmeldungen und Depeschen zu dreizeiligen "Nouvelles". Der verdichtenden Erzählweise dieser verlieh er dabei durch Wortstellung und Interpunktion literarische Brillanz: "Hinter einem Sarg ging Mangin aus Verdun. Er erreichte, an diesem Tag, nicht den Friedhof. Der Tod überraschte ihn unterwegs." Auch Karl Kraus hat einen Auftritt, natürlich nicht als Produzent, sondern als unerbittlicher Sezierer der Vermischten Meldungen, denen er in Hassliebe verbunden war. Die kleinen Texte waren für Kraus eine nie versiegende Quelle hohler Phrasen, Symptome eben der bösartigen Dummheit, die sie kaschieren sollten. Würde er dereinst gefragt, so Kraus, wie sich ihm die Welt geoffenbart habe, wäre seine Antwort: "Als kleine Chronik".
Zeyringers Geschichte der Vermischten Meldungen ist zugleich ein Abgesang. Denn dieses Genre hat seiner Einschätzung nach seine große Zeit hinter sich. In gewisser Weise sei es ein Opfer seines Erfolges geworden: Die Boulevardisierung hat mittlerweile ganze Zeitungen und Rundfunkprogramme zu Ansammlungen Vermischter Meldungen gemacht, während die sprachliche und thematische Originalität, die dieser Textform zumindest gelegentlich zu eigen war, weitgehend verschwunden ist. Das Skurrile und Abseitige verbreitet sich heute vor allem per Internet. Doch zugleich setzt das Netz, das den einmal ermittelten Nutzergeschmack mit dem Immergleichen bedient, das Prinzip des Vermischten, das auf die Überraschung des Lesers beim Durchblättern baut, außer Kraft. Es ist auch das Prinzip, das dem Zeitunglesen überhaupt einmal zugrunde lag. WOLFGANG KRISCHKE
Klaus Zeyringer: "Die Würze der Kürze". Eine kleine Geschichte der Presse anhand der Vermischten Meldungen.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2022. 368 S., geb., 30,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
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