Beim Treppensteigen hält er die Luft an, im Schwimmbad legt er sich bewegungslos so lange wie möglich auf den Beckengrund. Cyril ist No-Limit-Weltmeister im Apnoetauchen. Seine Konkurrenten sind immer bereit, den letzten Rekord zu brechen. An Land, in Paris, warten auf ihn zwei Kinder aus einer gescheiterten Ehe und oft wechselnde Partnerinnen fu¿r immer härtere sexuelle Eskapaden. Dazu sein bester Freund und Tauchpartner Aurel und die Pläne, auszusteigen und eine eigene Tauchakademie zu gru¿nden. Eine Weile gelingt Cyril diese Gratwanderung zwischen den Polen, bis er eines Tages zu viel wagt. Mireille Zindels neuer Roman spiegelt sprachlich virtuos den Zustand des permanenten Atem-Anhaltens: hochverdichtet und poetisch präzise schildert »Die Zone« die Tiefen von Cyrils Leben. Mireille Zindel schafft hier, was nur aussergewöhnliche Romane erreichen: Die perfekte Einheit von Motiv, Sprache und Stil.
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.08.2021In vielerlei Tiefen
Mireille Zindels Roman "Die Zone"
Dort, wo es Cyril hinzieht, ist kein Blau mehr. Nur noch Schwarz. 215 Meter unter der Wasseroberfläche erreicht kein Lichtstrahl den eigenen Körper. Es ist dunkel genug, um für ein paar Minuten der Welt zu entfliehen, die Luft anzuhalten und die Gedanken abzuschalten. Cyril ist Apnoetaucher. "No Limit" heißt seine Disziplin, bei der er ohne Sauerstoffzufuhr mithilfe eines Schlittens in die Tiefe gerissen wird. Es ist die extremste, gefährlichste Form des Tauchens. Und Cyril ist der Beste, er hält den Weltrekord. Was auch damit zusammenhängt, dass ihn das Leben schon so oft in die Tiefe gerissen hat. Tochter, Mutter, Vater, Bruder: Alle sind gestorben. Alice, seine große Liebe, beging Suizid.
Die Schweizer Schriftstellerin Mireille Zindel nimmt den Leser mit in Cyrils Tiefe, in ihrem Roman "Die Zone". Es geht in eine Welt voller Abgründe, durch die sich der Protagonist von einem grotesk anmutenden Schicksal treiben lässt. Früh wird klar: Das von Zindel gewählte Setting lässt praktisch nur zwei Optionen zu: an all dem Negativen zerbrechen oder daran wachsen. Eindimensional ist die Erzählung aber nicht - und das liegt an der Art, wie der Text dem Leser peu à peu Informationen präsentiert.
Die Erzählweise sollte laut Zindel selbst "experimenteller" werden als in ihren vorherigen Romanen "Irrgast" (2008), "Laura Theiler" (2010) und "Kreuzfahrt" (2016). Das zeigt sich in der Tat am Wechsel von Passagen, in denen der Erzähler - der nicht Teil der Diegese, aber gut informiert über Cyrils Innenleben ist - auf konventionelle Weise durch den Text führt, mit solchen, die lyrischer gestaltet sind und durch den immer wieder auftauchenden Stakkato-Stil eine Dynamik erzeugen, die den Text vorantreibt, den Leser aber ab und an etwas konfus zurücklässt. Das liegt vor allem an den Themensprüngen: Von Mauritius geht es plötzlich nach Griechenland. Von Jacqueline zu Alice. Vom Leichenaufbewahrungsraum im Krankenhaus zum Frühstückstisch. Erzählstränge werden an-, aber dann nicht zu Ende und erst später weitererzählt. Der Leser erhält so nach und nach Informationsbruchstücke, die sich erst an späterer Stelle einordnen und verbinden lassen. Zusammensetzen muss er das Puzzle selbst.
Für den Protagonisten ist das Tauchen nur ein Mittel, um sich allem zu entziehen: "Ich wollte nie den Weltrekord brechen, nur verschwinden." Die einzelnen Tauchvorgänge beschreibt Zindel so originell, dass auch zum Ende hin keinerlei Spur von Redundanz zu entdecken ist. Verwoben sind die Episoden im Wasser mit Cyrils Sexualität und seinen Fantasien. Die werden analog zum Tauchen immer extremer. Es geht auch immer tiefer in die Niederungen der Internetplattformen, wo er sich immer ausgefallenere Videoinhalte ansieht. Und auch beim Geschlechtsverkehr mit einer Prostituierten geht es immer extremer zu, was Zindel in obszöner Sprache schildert. Es gilt das Mantra des Apnoetauchens: "Jedes Mal, wenn du ein Limit erreicht hast, begreifst du, dass dies nicht dein Limit ist. Und du willst mehr."
Mehrere Minuten den Atem anhalten - irgendwo muss eine Grenze sein, aber wo die liegt, weiß niemand. "Wenn du wieder oben bist, fängt ein neues Leben an. Du fängst von vorne an, als kämst du erneut auf die Welt." Doch die sieht für Cyril nach dem Auftauchen immer noch gleich aus: Ärger mit der Ex-Frau und der Freundin, Sponsoren, die ihn drängen, und ein Konkurrent, der seinen Rekord brechen will. Einziger Lichtblick: seine beiden Kinder. Reicht das? Apnoe, die Fantasien, der Sex - all das hat sich nach den vielen Schicksalsschlägen etabliert im Leben von Cyril und ist zur Obsession geworden. "Irgendwo in ihm ist der Schlüssel, um mit allem aufzuhören", heißt es.
Letztlich dreht sich der Roman um die essenzielle Frage, ob Cyril es schaffen kann, all das hinter sich zu lassen. Und da, das wird im Laufe der Lektüre immer deutlicher, nimmt der Einbandtext schon etwas zu viel vorweg. Und so wird an dieser Stelle nicht mehr verraten, als ohnehin sichtbar ist: dass die dominierende Farbe über weite Teile des Romans das Schwarz der Tiefe bleibt. Das wird nicht jedem gefallen. Doch vielleicht kann eine Geschichte mit solchem Setting sich gar nicht anders vollziehen. Originell ist nicht der Plot, sondern wie er erzählt wird. DAVID LINDENFELD.
Mireille Zindel: "Die Zone". Lectorbooks, Zürich 2021. 128 S., br., 19,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mireille Zindels Roman "Die Zone"
Dort, wo es Cyril hinzieht, ist kein Blau mehr. Nur noch Schwarz. 215 Meter unter der Wasseroberfläche erreicht kein Lichtstrahl den eigenen Körper. Es ist dunkel genug, um für ein paar Minuten der Welt zu entfliehen, die Luft anzuhalten und die Gedanken abzuschalten. Cyril ist Apnoetaucher. "No Limit" heißt seine Disziplin, bei der er ohne Sauerstoffzufuhr mithilfe eines Schlittens in die Tiefe gerissen wird. Es ist die extremste, gefährlichste Form des Tauchens. Und Cyril ist der Beste, er hält den Weltrekord. Was auch damit zusammenhängt, dass ihn das Leben schon so oft in die Tiefe gerissen hat. Tochter, Mutter, Vater, Bruder: Alle sind gestorben. Alice, seine große Liebe, beging Suizid.
Die Schweizer Schriftstellerin Mireille Zindel nimmt den Leser mit in Cyrils Tiefe, in ihrem Roman "Die Zone". Es geht in eine Welt voller Abgründe, durch die sich der Protagonist von einem grotesk anmutenden Schicksal treiben lässt. Früh wird klar: Das von Zindel gewählte Setting lässt praktisch nur zwei Optionen zu: an all dem Negativen zerbrechen oder daran wachsen. Eindimensional ist die Erzählung aber nicht - und das liegt an der Art, wie der Text dem Leser peu à peu Informationen präsentiert.
Die Erzählweise sollte laut Zindel selbst "experimenteller" werden als in ihren vorherigen Romanen "Irrgast" (2008), "Laura Theiler" (2010) und "Kreuzfahrt" (2016). Das zeigt sich in der Tat am Wechsel von Passagen, in denen der Erzähler - der nicht Teil der Diegese, aber gut informiert über Cyrils Innenleben ist - auf konventionelle Weise durch den Text führt, mit solchen, die lyrischer gestaltet sind und durch den immer wieder auftauchenden Stakkato-Stil eine Dynamik erzeugen, die den Text vorantreibt, den Leser aber ab und an etwas konfus zurücklässt. Das liegt vor allem an den Themensprüngen: Von Mauritius geht es plötzlich nach Griechenland. Von Jacqueline zu Alice. Vom Leichenaufbewahrungsraum im Krankenhaus zum Frühstückstisch. Erzählstränge werden an-, aber dann nicht zu Ende und erst später weitererzählt. Der Leser erhält so nach und nach Informationsbruchstücke, die sich erst an späterer Stelle einordnen und verbinden lassen. Zusammensetzen muss er das Puzzle selbst.
Für den Protagonisten ist das Tauchen nur ein Mittel, um sich allem zu entziehen: "Ich wollte nie den Weltrekord brechen, nur verschwinden." Die einzelnen Tauchvorgänge beschreibt Zindel so originell, dass auch zum Ende hin keinerlei Spur von Redundanz zu entdecken ist. Verwoben sind die Episoden im Wasser mit Cyrils Sexualität und seinen Fantasien. Die werden analog zum Tauchen immer extremer. Es geht auch immer tiefer in die Niederungen der Internetplattformen, wo er sich immer ausgefallenere Videoinhalte ansieht. Und auch beim Geschlechtsverkehr mit einer Prostituierten geht es immer extremer zu, was Zindel in obszöner Sprache schildert. Es gilt das Mantra des Apnoetauchens: "Jedes Mal, wenn du ein Limit erreicht hast, begreifst du, dass dies nicht dein Limit ist. Und du willst mehr."
Mehrere Minuten den Atem anhalten - irgendwo muss eine Grenze sein, aber wo die liegt, weiß niemand. "Wenn du wieder oben bist, fängt ein neues Leben an. Du fängst von vorne an, als kämst du erneut auf die Welt." Doch die sieht für Cyril nach dem Auftauchen immer noch gleich aus: Ärger mit der Ex-Frau und der Freundin, Sponsoren, die ihn drängen, und ein Konkurrent, der seinen Rekord brechen will. Einziger Lichtblick: seine beiden Kinder. Reicht das? Apnoe, die Fantasien, der Sex - all das hat sich nach den vielen Schicksalsschlägen etabliert im Leben von Cyril und ist zur Obsession geworden. "Irgendwo in ihm ist der Schlüssel, um mit allem aufzuhören", heißt es.
Letztlich dreht sich der Roman um die essenzielle Frage, ob Cyril es schaffen kann, all das hinter sich zu lassen. Und da, das wird im Laufe der Lektüre immer deutlicher, nimmt der Einbandtext schon etwas zu viel vorweg. Und so wird an dieser Stelle nicht mehr verraten, als ohnehin sichtbar ist: dass die dominierende Farbe über weite Teile des Romans das Schwarz der Tiefe bleibt. Das wird nicht jedem gefallen. Doch vielleicht kann eine Geschichte mit solchem Setting sich gar nicht anders vollziehen. Originell ist nicht der Plot, sondern wie er erzählt wird. DAVID LINDENFELD.
Mireille Zindel: "Die Zone". Lectorbooks, Zürich 2021. 128 S., br., 19,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Allzu originell findet David Lindenfeld den Plot in Mireille Zindels Roman nicht. Es geht um einen von familiären Schicksalsschlägen schwer gebeutelten Apnoe-Taucher, der seinen Schmerz in immer neuen Extremen zu überwinden sucht - beim Tauchen, beim Sex, beim Videoschauen. So weit, so nachvollziehbar für Lindenfeld. Wirklich spannend findet er, wie Zindel die Obsession ihrer Figur beschreibt, dynamisch, in Themen-, Orts- und Zeitsprüngen, zwischen denen der Leser sich selbst zurechtfnden muss, wie der Rezensent erläutert. Ob der Taucher schließlich aus der "Zone" herausfindet, verrät Lindenfeld nicht.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH