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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Werner Herzog plaudert aus der eigenen Schule
Das Libretto der Oper "Die Macht des Schicksals" von Giuseppe Verdi wurde nach der Uraufführung im Jahr 1862 noch überarbeitet. Die Philologen werden wissen, warum dies so war, mancher Laie aber wird den Verdacht hegen, es könnte damit zu tun gehabt haben, dass die Geschichte (für Filmleute: der Plot) eine der kompliziertesten und unglaubwürdigsten der ganzen Gattung ist.
Werner Herzog ist genau deswegen ein Fan dieser Oper. In seinem neuen Büchlein "Die Zukunft der Wahrheit" widmet er sechs Seiten dem Versuch einer Nacherzählung und macht dabei deutlich, dass vermutlich kaum jemand bereit wäre, den verschlungenen Pfaden zu folgen, auf denen die Figuren mit vielen Verkleidungen und Verkennungen und Ortswechseln unterwegs sind, ginge es nicht eben um eine Oper. "Als Oper erlebt, werden sowohl diese undenkbare Story wie auch ihre axiomatischen Gefühle auf wundersame Weise wahr." Mit dem Begriff "axiomatisch" will Herzog sagen, dass in der Oper auch die verwegensten Gefühle unabweisbar sind. Sie bekommen durch die Musik und die alltagsfernen Singstimmen Macht - eben die Macht der Gefühle, über die Alexander Kluge einen seiner besten Filme gemacht hat.
Werner Herzog ist auch Filmemacher, in allen Formen - Spielfilme, Dokumentarfilme, selbst Essayfilme, wenn man ein bisschen großzügig ist. Er versteht sich also auf die Unterschiede zwischen Wirklichkeit und Fiktion. Er weiß auch um die Exzesse der Fiktionalität, die sich gerade Opern manchmal gönnen - das Blättern in Opernführern, so gesteht er, ist eine seiner "geheimen Leidenschaften". Seine Überlegungen zum Thema Wahrheit haben dementsprechend einen gewissen Hang ins Erzähltheoretische. Oder anders gesagt, wer es bei der Wahrheitsfrage mit philosophischer Solidität hält, wird mit Herzog nicht recht glücklich werden. Doch vorwerfen kann man das dem Autor nicht, denn er zieht sich gleich zu Beginn aus elaborierten Debatten über Wahrheit zurück. Für ihn ist Wahrheit ein Thema, bei dem er nicht zuletzt aus der eigenen Schule plaudern kann.
Mit dem Begriff oder der Frage verbindet ihn eine filmspezifische Debatte, in der Herzog sich mit einem originellen Konzept hervorgetan hat. Gegen das "cinéma verité" vertritt er eine "ekstatische Wahrheit". Gegen ein Kino also, das die wesentliche Korrespondenz in der Beziehung zwischen Lebenswirklichkeit und wahrheitsfähigem Kamerabild sehen wollte, in einem Wirklichkeitsabdruck setzt er auf Formen, in denen diesem Abdruck noch etwas hinzugefügt wird. Er lässt die filmische Wahrheit "aus sich heraustreten", in Ekstase geraten, indem er sie manipuliert. So stellte er etwa an das Ende seines Films "Höhle der vergessenen Träume" (2000, über die urzeitlichen Höhlen von Chauvet) das Bild von Krokodilen, die im Kühlwasser eines französischen Kernreaktors in der Nähe lebten. Ein vieldeutiges Bild, das direkt in das "Reich der Poesie, des Wahnsinns und der schieren Erzählfreude führt".
Niemand hätte Herzog jemals für einen Positivisten gehalten. Mit den Krokodilen stellte er sich deutlich auf die Seite eines wilden Denkens, mit dem er auch noch der "Post Truth"-Ära, den sozialen Medien und der Künstlichen Intelligenz beizukommen versucht. Ein längeres Kapitel über historische Fake News, unter anderem über den Pharao Ramses oder Kaiser Nero, hat man zu diesem Zeitpunkt schon hinter sich.
Herzog vertritt einen schöpferischen Begriff von Wahrheit: Man muss Mythen, Verschwörungsszenarien, Deep Fakes nur so lange weitertreiben, bis sie auf der richtigen Seite landen. Da er mit seinem eigenen filmischen Werk viele gute Beispiele für dieses Vorgehen geliefert hat, ist sein Vorgehen gut gedeckt, wie eine Währung, mit der man dann fröhlich spekulieren kann. Das taten in der alten Welt auch schon die Auguren, die Zeichenleser. In ihrer Tradition sollten man dieses Buch vielleicht am ehesten wahrnehmen, eine Eingeweideschau am lebenden Organismus der Informationsgesellschaft. BERT REBHANDL
Werner Herzog: "Die Zukunft der Wahrheit".
Hanser Verlag, München 2024. 112 S., geb., 22,- Euro.
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"Eine Eingeweideschau am lebenden Organismus der Informationsgesellschaft." Bert Rebhandl, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.03.24
"Was dem Titel nach zunächst nach noch einem talkshowtauglichen Debattenbuch über künstliche Intelligenz, Deep Fakes oder rechtspopulistische Pizzaverschwörungen klingt, ist also Gott sei Dank keins, sondern die vertraute Herzog'sche Anekdotensammlung, die dem mäandernden Flusslauf eines Gedankens folgt." Wieland Freund, Welt am Sonntag, 03.03.24
"Bei einer wunderbaren, einem bayerischen Anarchismus entspringenden Mischung aus Genialität und Hochstapelei ertappt man Herzog auch in seinem neuen Buch. Souverän idiosynkratisch bewegt er sich durch Vergangenheit und Gegenwart auf die wahrheitsmüde Zukunft zu... So nähert er sich der Frage an, welche Wahrheit der Kunst entspringt. Oder umgekehrt: welche Kunst der Wahrheit... Ziemlich originell ist, wie Herzog mögliche Antworten umkreist." Ulrich Rüdenauer, Deutschlandfunk Büchermarkt, 01.03.24
"Ein spannend zu lesender Essay." Elke Heidenreich, Kölner Stadt-Anzeiger, 24.02.24
"Werner Herzog ist ein Meister des Erzählens; er assoziiert, mäandert, schlägt Haken, als schlüge er Schneisen in einen Dschungel. Das Schöne an dem Buch: Man kann sich treiben lassen wie auf einer Wanderung... Das kluge Buch ist eine Annäherung." Peter Helling, NDR Kultur, 19.02.24