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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Sascha Mamczak kennt die Geschichte unserer Zukünfte
Seit Aristoteles, der kein Literaturkritiker war, herausgefunden hat, dass Kunst nicht dazu da ist, uns mitzuteilen, wie es ist, sondern darzustellen, wie es sein könnte, findet in der Literatur ein lustiges Tauziehen statt: Kritik und Kanonbildung gibt sich Mühe, die aristotelische Erkenntnis zu bestreiten, indem sie behauptet, die Literatur zeige sehr wohl, wie es sei, nämlich das Literarische selbst, womöglich gar das Klassische - und Literatur wehrt sich, indem sie immer wieder darauf besteht, dass ein einzelner Text eine neue Möglichkeit entwerfen könne, wie es sein könnte, dieses Literarische, dieses Klassische und darüber hinaus eben doch die ganze Welt, die Aristoteles selbstverständlich meinte, wenn er von Möglichkeiten als Arbeitsfeld der Kunst redete.
Seit Aufkommen der beiden kuriosen bürgerlichen Literaturmoden Naturalismus und Realismus, mit denen zum ersten Mal die Literatur selbst die Seiten wechselte und gegen Aristoteles damit auftrumpfte, sie könne und solle sehr wohl mitteilen, wie die Welt sei, war es vor allem die seither wiederum von Kritik und Kanonbildung scheel angesehene phantastische Literatur, die der aristotelischen Lehrmeinung die Treue hielt. Sie befasst sich mit dem, was in der Welt, also in unserer Erfahrung davon nicht vorkommt, ihr vielleicht sogar zuwiderläuft.
Um den skeptischen Verstand davon abzulenken, dass er dauernd fragen muss: "Aber ist das so?", hat sie drei hauptsächliche Tricks parat. Erstens: Erinnerung an vorgeprägte, tradierte, beliebte Mythenmuster ("Fantasy"). Zweitens: körperliche Resonanzen wie Lust, Angst, Ekel ("Horror"). Drittens: Verstrickung des Verstandes in spekulative Übungen, also "rationale" Phantastik ("Science-Fiction"). Die letztgenannte Abteilung liebt es, den aristotelischen Ansatz ("wie es sein könnte") zu naturalisieren, also plausibler zu machen, indem sie daran erinnert, dass sich "wie es ist" verändert, gestern anders war als heute und morgen wieder anders sein wird - sie spielt also gern in der sogenannten Zukunft ("wie es sein wird").
Darüber nämlich lässt sich viel behaupten, das nicht beweisbar, aber eben auch nicht leicht widerlegbar ist - man erwirbt über die Zukunft scheinbar leichter Expertise als über die Gegenwart. Einer, der diese Expertise erworben hat und damit sehr verantwortungsvoll umgeht, ist Sascha Mamczak. Als Lektor bei einer der weltweit angesehensten Science-Fiction-Reihen, nämlich der lange Jahre von Wolfgang Jeschke verwalteten des Heyne Verlags, weiß er über die Zukunft zwar auch nicht, wie sie sein wird, aber dafür alles darüber, wie sie war und wie sie ist, nämlich als Gegenstand der Science-Fiction-Literatur.
Rühmlicherweise aber stellt er dieses Wissen in seinem Essay "Die Zukunft - Eine Einführung", dem man durchaus den Charakter einer Festschrift zum fünfzigjährigen Bestehen dieser Reihe zuschreiben darf, nicht aus, sondern hält die Befunde wie Entwürfe der Science-Fiction eher als Hintergrund parat, wenn er mit dem klaren Blick des studierten Juristen und Ökonomen erklärt, seit wann (nämlich seit Entstehung der bürgerlichen Welt) und wie (nämlich programmatisch, politisch, ingenieurshaft und ästhetisch) über die Zukunft besonders eifrig nachgedacht wird - also: seit wann und wie wir zukünftig wurden. Was man in diesem bewundernswert konzisen und unterhaltsamen Buch auf knapp hundert Seiten lernt, ist etwas ebenso Einfaches wie Wichtiges: Vergangenheit, das ist die Zeit, in der die Zukunft meistens schiefging.
DIETMAR DATH
Sascha Mamczak: "Die Zukunft". Eine Einführung.
Heyne Verlag, München 2014. 112 S., br., 8,99 [Euro].
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