Warum bleibt die christliche Moral bestehen, obwohl der Glaube abnimmt? Hierzu eine überraschende These: Das Gebot der Nächstenliebe ist ein Produkt der Angst. Es hat sich in einer einzigartigen historischen Konstellation entwickelt und wird auch heute wieder von der Angst um das Ich getragen. Kein himmlischer Ursprung also, aber paradoxerweise ein überaus festes Fundament, auf dem unsere Werte überleben können. "Matthias Drescher zeigt, wie sich Abstand von einer gesellschaftlichen Krisenstimmung gewinnen lässt, und wirbt für ein aktuelles Verständnis des Gebots der Nächstenliebe. Das Gebot ist nicht 'Ethik light' aus einer christlichen Tradition, die für viele vergangen ist, sondern eine Quelle moralischer Energie aus einem Erfahrungszusammenhang, der Kulturen übergreift." (Prof. Dr. Christoph Bultmann, Universität Erfurt)
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.06.2019Die Nächstenliebe säkularisieren
Was bleibt von den christlichen Werten, wenn uns der Glaube verlorengeht? Diese Frage hat Matthias Drescher angetrieben, der "Die Zukunft unserer Moral" im Gebot der Nächstenliebe sieht. Den Ursprung der christlichen Nächstenliebe sieht Drescher dabei in der Angst vor dem Tod. In seinem historischen Abriss gibt es klare Kausalitäten: Auf die reichhaltige Mythologie des klassischen Athen im antiken Griechenland folgt der Mythos-Verlust im Hellenismus, daraus resultierend ein stärkeres Ich-Bewusstsein, was die Todesfurcht verstärke. Aus der Angst vor dem Tod entsteht Mitleid mit den anderen, die auch sterben müssen. Das Judentum wandelt das passive Mitgefühl in einen Dienst an den Nächsten um, das Christentum bringt den Glauben an ewiges Leben in die Welt. Hier aber hat Dreschers Kausalität ein Ende. Zwar habe Jesus aus ihr ein Liebesgebot gemacht, ihm aber zugleich die Grundlage entzogen. Denn wer die Vergänglichkeit nicht fürchten muss, empfinde auch kein Mitleid mehr.
Ist die Annahme, die Todesfurcht sei der eigentliche Grund für Mitgefühl, von einiger Plausibilität, wenn auch nicht originell, ist dagegen eine Logik verquer, die dem umgekehrten Fehlschluss erliegt, Mitgefühl könne ohne Angst nicht entstehen. So fehlt Dreschers Essay insgesamt theologische und soziologische Durchdringungstiefe. Was er für die Gegenwart aufbietet, sind weniger belegte Analysen als Behauptungen, für die zudem keine Beispiele gegeben werden. Mitleid sei unsere "Kernemotion", die Pflicht zur Nächstenliebe die oberste Maxime unserer Gesellschaft - und diese gelte, obwohl immer mehr Menschen vom Glauben abfielen. Was genau eine "Kernemotion" ist und inwiefern Mitleid unsere Gesellschaft besonders präge, verrät der Autor nicht. Drescher vermutet sogar, dass diese Werte, befreit von der religiösen Lehre, "eine noch reinere Haltung" darstellten. Hatte seine Darstellung aber nicht das Ziel, die Ursprünge der Nächstenliebe und des Mitleids gerade auf die Religion zurückzuführen? Wie können sie da stärker wirken, wenn sie ihren eigentlichen Kontext verloren haben? Konnte man über die analytischen Verkürzungen schon zuvor staunen, ist die Geduld der Leserin spätestens hier am Ende. Denn das ist weder erhellend noch anregend.
hbt.
Matthias Drescher: "Die Zukunft unserer Moral". Wie die Nächstenliebe entstanden ist und wieso sie den Glauben überlebt.
Tectum Verlag, Baden-Baden 2019. 108 S., br., 9,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was bleibt von den christlichen Werten, wenn uns der Glaube verlorengeht? Diese Frage hat Matthias Drescher angetrieben, der "Die Zukunft unserer Moral" im Gebot der Nächstenliebe sieht. Den Ursprung der christlichen Nächstenliebe sieht Drescher dabei in der Angst vor dem Tod. In seinem historischen Abriss gibt es klare Kausalitäten: Auf die reichhaltige Mythologie des klassischen Athen im antiken Griechenland folgt der Mythos-Verlust im Hellenismus, daraus resultierend ein stärkeres Ich-Bewusstsein, was die Todesfurcht verstärke. Aus der Angst vor dem Tod entsteht Mitleid mit den anderen, die auch sterben müssen. Das Judentum wandelt das passive Mitgefühl in einen Dienst an den Nächsten um, das Christentum bringt den Glauben an ewiges Leben in die Welt. Hier aber hat Dreschers Kausalität ein Ende. Zwar habe Jesus aus ihr ein Liebesgebot gemacht, ihm aber zugleich die Grundlage entzogen. Denn wer die Vergänglichkeit nicht fürchten muss, empfinde auch kein Mitleid mehr.
Ist die Annahme, die Todesfurcht sei der eigentliche Grund für Mitgefühl, von einiger Plausibilität, wenn auch nicht originell, ist dagegen eine Logik verquer, die dem umgekehrten Fehlschluss erliegt, Mitgefühl könne ohne Angst nicht entstehen. So fehlt Dreschers Essay insgesamt theologische und soziologische Durchdringungstiefe. Was er für die Gegenwart aufbietet, sind weniger belegte Analysen als Behauptungen, für die zudem keine Beispiele gegeben werden. Mitleid sei unsere "Kernemotion", die Pflicht zur Nächstenliebe die oberste Maxime unserer Gesellschaft - und diese gelte, obwohl immer mehr Menschen vom Glauben abfielen. Was genau eine "Kernemotion" ist und inwiefern Mitleid unsere Gesellschaft besonders präge, verrät der Autor nicht. Drescher vermutet sogar, dass diese Werte, befreit von der religiösen Lehre, "eine noch reinere Haltung" darstellten. Hatte seine Darstellung aber nicht das Ziel, die Ursprünge der Nächstenliebe und des Mitleids gerade auf die Religion zurückzuführen? Wie können sie da stärker wirken, wenn sie ihren eigentlichen Kontext verloren haben? Konnte man über die analytischen Verkürzungen schon zuvor staunen, ist die Geduld der Leserin spätestens hier am Ende. Denn das ist weder erhellend noch anregend.
hbt.
Matthias Drescher: "Die Zukunft unserer Moral". Wie die Nächstenliebe entstanden ist und wieso sie den Glauben überlebt.
Tectum Verlag, Baden-Baden 2019. 108 S., br., 9,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Fachbuchjournal Ausgabe 6/2019
Wie überleben Moral und Ethik in Zeiten gewaltiger Umbrüche, die die bestehende Ordnung umwerfen, traditionelle soziale Identitäten auflösen und Gesellschaften fragmentarisieren? Was ist das Fundament, wie sehr hängt Moral von Religion und religiösen Verankerungen ab?
„Die Zukunft unserer Moral“ ist ein steiler Titel. Matthias Drescher nimmt die Hürde mit Bravour. Seine These: Der Kern westlicher Moral, die Nächstenliebe, diese einzigartige jüdische Kulturleistung der Antike, bleibt erhalten, wenn der Glaube stirbt, weil die eigentliche Quelle, aus der sie sich speist, weniger aus Geboten erwächst als dem existentiellen Selbstverständnis der Individuen.
Ursächlich dafür, so Drescher, ist die Furcht vor dem Tod. Das mag obenhin absurd klingen. Schließlich fußt Moral seit Jahrtausenden auf dem Androhen himmlischer Strafen, selbst wenn Lukrez die schon 50 Jahre vor unserer Zeitrechnung als Propagandalüge von Priestern bezeichnete. Tatsächlich jedoch funktioniert es dialektisch, geboren aus Einsicht, dass die positive Todesüberwindung einzig in Liebe für andere und Hingabe an sie besteht. Folglich kann das Prinzip zerfallende Jenseitshoffnungen überdauern.
Diese erfreuliche Botschaft untermauert Drescher mit einem so klugen wie kenntnisreichen Ausflug in jüdische und griechische Geschichte. Er skizziert den Übergang archaischer Gesellschaften in hellenistische Strukturen. Lebte der Einzelne vormals eingebettet in feste soziale Zusammenhänge, die ihm Halt und transzendentale Orientierung gaben, entstanden im Hellenismus und der Römerzeit modernere Gesellschaften, die der unseren weit mehr ähnelten. Darin mussten Individuen ohne den Schutz der Gemeinschaft klarkommen und standen vor ähnlichen existentiellen Fragen wie wir heute.
Das wiederum erklärt den Reiz jüdischer Religion für Konvertiten und den späteren Siegeszug christlicher Lehren. Drescher erhellt die Gefühlslage in den hellenistischen Mittelmeerstädten, wo das Christentum rasch großen Anklang fand. Im klassischen Griechenland lebte das einfache Volk abgeschirmt durch Mythologie. Der Hellenismus ließ diesen Schutz kollabieren. Migration und Entwurzelung pflügten lokale Mythen unter. In der Anonymität großer Städte wie Alexandria, das man sich ähnlich bunt vorstellen darf wie New York, nahmen Einzelne ihr Ich stärker wahr und entwickelten existentielle Ängste, die ihr Vertrauen in die alten Götter aushebelten. Auch ihr Blick auf andere änderte sich: Wo alle fremd sind, werden Barbaren zu Mitmenschen. So entstand eine universelle Form von Empathie. Rücksichtslosigkeit und Härte der Metropolen gebaren auch Rücksicht und Anteilnahme. Menschen wurden sensibler. Das schuf die Grundlage für eine andere Art Moral.
Begründet wurde die jedoch erst im Judentum. Die Thora gebot Nächstenliebe. Bisher beschränkte sich das Gebot auf Juden. Nun wurde es zum allgemeinen ethischen Imperativ. Es setzte Empathie in die Tat um. Wer anderen Trost spendete, verhielt sich gottgefällig.
So wurde das Konzept zu einem zentralen Element modernen jüdischen Glaubens, was diesen wiederum für viele attraktiv machte – besonders für die kulturell und sprachlich den Juden nahestehenden Phönizier, die durch das aufstrebende römische Reich entwurzelt waren. Es bewegte Abertausende zur Konversion. Das Christentum wiederum war noch eingängiger. Es forderte nur Glauben und Liebe und versprach obendrein ewiges Leben, womit es eigentlich das aus der Erkenntnis der eigenen Endlichkeit geborene Prinzip von Nächstenliebe unterminierte, das aber ausglich, indem es diese zum Gebot erhob und zum Kern seiner Lehre erklärte. So stellte es die formative Errungenschaft des Altertums auf eine neue Basis und trug sie bis in die Gegenwart. Für die These des Autors, dass die Idee der Nächstenliebe sich derart mit unserer Kultur verwoben hat, dass sie auch ohne Hoffnung auf Erlösung im Jenseits fortbesteht, spricht einiges. Dabei argumentiert Drescher nicht nur stringent, schlüssig und fundiert, er schreibt auf angenehme Weise unprätentiös und gut lesbar. Es mag einige strittige Punkte geben, etwa seine Epikur-Kritik, aber schließlich handelt es sich um einen Essay. Da darf man sich aufs Wesentliche beschränken.
Selbst wenn man Dreschers Optimismus hinsichtlich einer säkularen Zukunft nicht teilt, sondern eher das Erstarken quasireligiöser Irrationalität und totalitären Denkens befürchtet, bietet der Text viele kluge An- und Einsichten, zieht bedenkenswerte Parallelen und gibt zeitlose Impulse.
Christoph Ernst (ce) ist Schriftsteller und Historiker.
Wie überleben Moral und Ethik in Zeiten gewaltiger Umbrüche, die die bestehende Ordnung umwerfen, traditionelle soziale Identitäten auflösen und Gesellschaften fragmentarisieren? Was ist das Fundament, wie sehr hängt Moral von Religion und religiösen Verankerungen ab?
„Die Zukunft unserer Moral“ ist ein steiler Titel. Matthias Drescher nimmt die Hürde mit Bravour. Seine These: Der Kern westlicher Moral, die Nächstenliebe, diese einzigartige jüdische Kulturleistung der Antike, bleibt erhalten, wenn der Glaube stirbt, weil die eigentliche Quelle, aus der sie sich speist, weniger aus Geboten erwächst als dem existentiellen Selbstverständnis der Individuen.
Ursächlich dafür, so Drescher, ist die Furcht vor dem Tod. Das mag obenhin absurd klingen. Schließlich fußt Moral seit Jahrtausenden auf dem Androhen himmlischer Strafen, selbst wenn Lukrez die schon 50 Jahre vor unserer Zeitrechnung als Propagandalüge von Priestern bezeichnete. Tatsächlich jedoch funktioniert es dialektisch, geboren aus Einsicht, dass die positive Todesüberwindung einzig in Liebe für andere und Hingabe an sie besteht. Folglich kann das Prinzip zerfallende Jenseitshoffnungen überdauern.
Diese erfreuliche Botschaft untermauert Drescher mit einem so klugen wie kenntnisreichen Ausflug in jüdische und griechische Geschichte. Er skizziert den Übergang archaischer Gesellschaften in hellenistische Strukturen. Lebte der Einzelne vormals eingebettet in feste soziale Zusammenhänge, die ihm Halt und transzendentale Orientierung gaben, entstanden im Hellenismus und der Römerzeit modernere Gesellschaften, die der unseren weit mehr ähnelten. Darin mussten Individuen ohne den Schutz der Gemeinschaft klarkommen und standen vor ähnlichen existentiellen Fragen wie wir heute.
Das wiederum erklärt den Reiz jüdischer Religion für Konvertiten und den späteren Siegeszug christlicher Lehren. Drescher erhellt die Gefühlslage in den hellenistischen Mittelmeerstädten, wo das Christentum rasch großen Anklang fand. Im klassischen Griechenland lebte das einfache Volk abgeschirmt durch Mythologie. Der Hellenismus ließ diesen Schutz kollabieren. Migration und Entwurzelung pflügten lokale Mythen unter. In der Anonymität großer Städte wie Alexandria, das man sich ähnlich bunt vorstellen darf wie New York, nahmen Einzelne ihr Ich stärker wahr und entwickelten existentielle Ängste, die ihr Vertrauen in die alten Götter aushebelten. Auch ihr Blick auf andere änderte sich: Wo alle fremd sind, werden Barbaren zu Mitmenschen. So entstand eine universelle Form von Empathie. Rücksichtslosigkeit und Härte der Metropolen gebaren auch Rücksicht und Anteilnahme. Menschen wurden sensibler. Das schuf die Grundlage für eine andere Art Moral.
Begründet wurde die jedoch erst im Judentum. Die Thora gebot Nächstenliebe. Bisher beschränkte sich das Gebot auf Juden. Nun wurde es zum allgemeinen ethischen Imperativ. Es setzte Empathie in die Tat um. Wer anderen Trost spendete, verhielt sich gottgefällig.
So wurde das Konzept zu einem zentralen Element modernen jüdischen Glaubens, was diesen wiederum für viele attraktiv machte – besonders für die kulturell und sprachlich den Juden nahestehenden Phönizier, die durch das aufstrebende römische Reich entwurzelt waren. Es bewegte Abertausende zur Konversion. Das Christentum wiederum war noch eingängiger. Es forderte nur Glauben und Liebe und versprach obendrein ewiges Leben, womit es eigentlich das aus der Erkenntnis der eigenen Endlichkeit geborene Prinzip von Nächstenliebe unterminierte, das aber ausglich, indem es diese zum Gebot erhob und zum Kern seiner Lehre erklärte. So stellte es die formative Errungenschaft des Altertums auf eine neue Basis und trug sie bis in die Gegenwart. Für die These des Autors, dass die Idee der Nächstenliebe sich derart mit unserer Kultur verwoben hat, dass sie auch ohne Hoffnung auf Erlösung im Jenseits fortbesteht, spricht einiges. Dabei argumentiert Drescher nicht nur stringent, schlüssig und fundiert, er schreibt auf angenehme Weise unprätentiös und gut lesbar. Es mag einige strittige Punkte geben, etwa seine Epikur-Kritik, aber schließlich handelt es sich um einen Essay. Da darf man sich aufs Wesentliche beschränken.
Selbst wenn man Dreschers Optimismus hinsichtlich einer säkularen Zukunft nicht teilt, sondern eher das Erstarken quasireligiöser Irrationalität und totalitären Denkens befürchtet, bietet der Text viele kluge An- und Einsichten, zieht bedenkenswerte Parallelen und gibt zeitlose Impulse.
Christoph Ernst (ce) ist Schriftsteller und Historiker.
"Matthias Drescher zeigt, wie sich Abstand von einer gesellschaftlichen Krisenstimmung gewinnen lässt, und wirbt für ein aktuelles Verständnis des Gebots der Nächstenliebe. Das Gebot ist nicht 'Ethik light' aus einer christlichen Tradition, die für viele vergangen ist, sondern eine Quelle moralischer Energie aus einem Erfahrungszusammenhang, der Kulturen übergreift."
(Prof. Dr. Christoph Bultmann, Universität Erfurt)
(Prof. Dr. Christoph Bultmann, Universität Erfurt)