Was ist mit den Menschen, deren Flucht scheitert? – Belliqueuse Louissaint, genannt Belli, überlebt nur knapp den Versuch der illegalen Überfahrt von Haiti Richtung USA, verliert ihren kleinen Sohn jedoch ans Meer. Sie kehrt nach Port-au-Prince zurück und lässt sich in einer Siedlung namens "Rückkehr" nieder, ein Ort für all jene Unglücklichen, deren Auswanderungsversuch gescheitert ist. Belli macht sich entschlossen daran, ihrer Familie in dem Elendsquartier ein Zuhause zu schaffen. Doch schließlich sieht sie sich gezwungen, ihre beiden Töchter zur Adoption freizugeben. Luciole verschwindet so nach Nordamerika, Bélial hingegen wird von ihrer neuen Mutter mit nach Frankreich genommen. Sie wird als junge Erwachsene nach Haiti zurückkehren und ihre Mutter suchen, doch diese ist längst in einem Exil der ganz anderen Art. In Néhémy Pierre-Dahomeys preisgekröntem Debütroman trifft sprachliche Leichtigkeit auf die Härten des Alltags und auf Katastrophen tragischen Ausmaßes in einem der ärmsten Länder der Welt – ein Roman von außergewöhnlicher erzählerischer Kraft. Ausgezeichnet mit dem "Prix Révélation 2017" der Société des Gens de Lettres, mit dem "Prix de soutien Cino Del Duca" auf Vorschlag der Académie Française sowie mit dem "Prix Carbet des Lycéens de la Caraïbe 2018". "Dieser Debütroman des haitianischen Autors Néhémy Pierre-Dahomey ist ein Meisterwerk." L'Humanité "›Die Zurückgekehrten‹ entkommt dem Erwartbaren und balanciert auf dem gespannten Seil der Vieldeutigkeit." Marianne
buecher-magazin.deDer Debütroman des aus Haiti stammenden und heute in Frankreich lebenden jungen Autors Néhémy Pierre-Dahomey umfasst nur 160 Seiten. Es wird nicht ausschweifend erzählt, den Figuren wird nicht viel Raum gegeben. Doch genug, um sie mit ganzem Mitgefühl zu begleiten. Vor allem ist da Belli, Belliqueuse Louissant, um die sich alles dreht. Eine illegale Überfahrt von Haiti nach Florida überlebt sie nur, weil sie ihren zweijährigen Sohn ins Wasser wirft. Zurück in einem Elendsquartier in Port-au-Prince verliert sie nach und nach auch alle ihre anderen Kinder. Ihre Tochter Marline stirbt an Tuberkulose, durch Elend und Armut sieht sie sich gezwungen, ihre jüngeren Töchter Belial und Luciole zur Adoption freizugeben und ihr Sohn Fedner entscheidet sich für ein gefährliches Gangsterleben. All die Menschen, die zu Belli gehören und die ihren Weg kreuzen, beschreibt der Erzähler ungeschönt und doch mit mildem Blick. Auch für die leidgeprüfte Belli, die sich viele Jahre später nichts sehnlicher wünscht, als ihre beiden Töchter wiederzusehen, gibt es am Ende so etwas wie Gnade. Es sind harte Geschichten über unerbittliche Grenzen, die in diesem schmalen Buch erzählt werden. Geschichten, die in ihrer Schlichtheit groß sind und ergreifend und die in das Gebiet führen, das für uns hinter Grenzen liegt.
© BÜCHERmagazin, Katharina Manzke
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.01.2019Kein zurück
Was passiert, wenn eine Flucht scheitert, zeigen zwei Romane
In den Debatten um die Migration in den globalen Norden kommt häufig eine dünne, scheinneutrale Sprache zum Einsatz. Die Vernunft der inneren Sicherheit redet von Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht oder Grenzschutzagenturen oder der Ausschiffung in sichere Drittstaaten. Und es ist völlig klar, wovon also nicht gesprochen werden soll: Von den Biografien, über die dabei entschieden wird, von Träumen, die platzen, und dem bitteren „Umsonst“ einer gescheiterten Flucht.
Zwei Romane, die gerade aus dem Französischen übersetzt wurden, erzählen Geschichten, wie sie die Logik der Abgrenzung schreibt. In „Die Polizisten“ des 1979 geborenen Autors Hugo Boris werden drei Pariser Beamte in ein brennendes Asylbewerberheim beordert, um einen Mann abzuholen und ihn zum Flughafen zu fahren. Dort soll er in eine Maschine gesetzt und abgeschoben werden.
Zwei Drittel des Romans spielen auf der Autofahrt über die glatten Ausfallstraßen der Pariser Vororte Richtung Roissy. Neben dem stummen tadschikischen Passagier sitzt die Polizistin Virginie, die Bauchweh hat und überhaupt ziemlich mit sich und ihren männlichen Kollegen beschäftigt ist. Gedankenverloren öffnet sie einen Umschlag mit den Unterlagen des Abzuschiebenden. Und stellt fest, dass ihm bei seiner Rückkehr nicht nur der Tod droht, sondern auch, dass er sich den französischen Behörden nicht hat verständlich machen können, weil man ihm nur einen usbekischen Dolmetscher zur Seite gestellt hat, der seine Sprache nicht beherrschte.
Wenn es aber falsch ist, dass der Mann ausgewiesen wird, wer kann jetzt etwas dafür? „Die Verantwortung verteilt sich auf die Polizeipräfektur, die Wärter, das Begleitpersonal, die Grenzpolizei, die Piloten, die Hostessen und Stewards, damit jeder denken kann: Ich war’s nicht, die anderen haben’s getan.“ Was Einzelne, wenn sie zu dieser Einsicht gekommen sind, doch noch tun könnten, darüber fantasiert Hugo Boris. Womöglich schnurrt seine Geschichte etwas zu krimihaft spannend ab, sind die Konflikte eher modellhaft, als differenziert. In seiner schlichten Klarheit ist der Roman aber angenehm konzentriert auf eine Entwicklung: Obwohl die Polizisten Rädchen im Getriebe sind, wird ihnen auf einmal überscharf ihre individuelle Verantwortung in einem Behördenvorgang bewusst. Der Mann aus Tadschikistan bleibt dabei bezeichnenderweise stumm.
Eine Lebensgeschichte, die mit einer gescheiterten Flucht beginnt, erzählt Néhémy Pierre-Dahomey, der 1986 in Port-au-Prince geboren wurde und in Paris lebt. Auf den ersten Seiten seines Romans „Die Zurückgekehrten“ gerät die Heldin Belliqueuse Loussaint, die sich „bei der letzten Fahrt des Seemanns Frère Fanon zu Floridas schönen Stränden eingeschifft“ hat, in Seenot und überlebt nur, weil sie ihren zweijährigen Sohn ins Meer wirft und ertrinken lässt. Coast Guards bergen die überlebenden Passagiere des Schiffes und einer „Logik folgend, die allein sie kannten, nahmen sie zwei oder drei Illegale als Exilanten auf, unter ihnen Sylvia, Bellis Tante. Die anderen wurden ohne gerichtliche Verhandlung weniger als eine Woche nach ihrer Irrfahrt in den maroden Hafen von Cité Soleil, Haiti, ausgewiesen, achtzehn Grad nördlicher Breite, zweiundsiebzig Grad westlicher Länge.“
Schon während dieser schrecklichen ersten Szenen wird einem das irritierend Besondere von Pierre-Dahomeys Stil bewusst: Seine lakonische Nüchternheit, die sich mit der Zeit einem magischen Realismus öffnet. Der Eindruck entsteht auch, weil an die Stellen, an denen man Figurenpsychologie erwarten könnte, eine wundersame Ergebenheit an die Umstände tritt. Belliqueuse Loussaint lebt mit den Armen im nach den Gescheiterten benannten Viertel Rapatriés in den Slums von Haiti, mit den Überlebenden des alltäglichen Elends, lebt mit Männern und ihren Ansprüchen an sie, lebt mit dem Kommen und Verschwinden ihrer Kinder. Der ertrunkene Sohn ist nicht das letzte, das sie verliert.
Einen komischen Effekt bekommt Pierre-Dahomeys Nüchternheit, wo er Belliqueuse eine zweite Figur gegenüberstellt, die Entwicklungshelferin Pauline, der er eine westlich-individualistische Psychologie mitgibt: „Angetrieben von dieser kurzen Ausbildung und vor allem vom fieberhaften Wunsch, die Welt in die Arme zu schließen und ihr ohne Ende zu helfen, brach sie mit einem Team aus vier Eroberern, die sich von ihrer Entschlossenheit anstecken ließen, in die junge Nation Sierra Leone auf“. Jahre später, da ist der Idealismus schon etwas abgehangen, findet und adoptiert Pauline in Haiti eine der Töchter von Belliqueuse und zieht sie als Französin groß. Die Überfahrt in ein einfacheres Leben wird am Ende eine Anstrengung für Generationen gewesen sein. Mehrerer Generationen, die heimgesucht werden, von den Opfern, die diese Reise gefordert hat.
MARIE SCHMIDT
Die Überfahrt in ein einfacheres
Leben wird eine Anstrengung
für Generationen
Hugo Boris: Die Polizisten. Roman. Aus dem
Französischen von
Amelie Thoma.
Ullstein Verlag, Berlin 2018. 188 Seiten, 20 Euro.
Néhémy Pierre-Dahomey: Die Zurückgekehrten. Roman. Aus dem Französischen von Lena Müller. Edition Nautilus, Hamburg 2018. 159 Seiten, 19,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Was passiert, wenn eine Flucht scheitert, zeigen zwei Romane
In den Debatten um die Migration in den globalen Norden kommt häufig eine dünne, scheinneutrale Sprache zum Einsatz. Die Vernunft der inneren Sicherheit redet von Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht oder Grenzschutzagenturen oder der Ausschiffung in sichere Drittstaaten. Und es ist völlig klar, wovon also nicht gesprochen werden soll: Von den Biografien, über die dabei entschieden wird, von Träumen, die platzen, und dem bitteren „Umsonst“ einer gescheiterten Flucht.
Zwei Romane, die gerade aus dem Französischen übersetzt wurden, erzählen Geschichten, wie sie die Logik der Abgrenzung schreibt. In „Die Polizisten“ des 1979 geborenen Autors Hugo Boris werden drei Pariser Beamte in ein brennendes Asylbewerberheim beordert, um einen Mann abzuholen und ihn zum Flughafen zu fahren. Dort soll er in eine Maschine gesetzt und abgeschoben werden.
Zwei Drittel des Romans spielen auf der Autofahrt über die glatten Ausfallstraßen der Pariser Vororte Richtung Roissy. Neben dem stummen tadschikischen Passagier sitzt die Polizistin Virginie, die Bauchweh hat und überhaupt ziemlich mit sich und ihren männlichen Kollegen beschäftigt ist. Gedankenverloren öffnet sie einen Umschlag mit den Unterlagen des Abzuschiebenden. Und stellt fest, dass ihm bei seiner Rückkehr nicht nur der Tod droht, sondern auch, dass er sich den französischen Behörden nicht hat verständlich machen können, weil man ihm nur einen usbekischen Dolmetscher zur Seite gestellt hat, der seine Sprache nicht beherrschte.
Wenn es aber falsch ist, dass der Mann ausgewiesen wird, wer kann jetzt etwas dafür? „Die Verantwortung verteilt sich auf die Polizeipräfektur, die Wärter, das Begleitpersonal, die Grenzpolizei, die Piloten, die Hostessen und Stewards, damit jeder denken kann: Ich war’s nicht, die anderen haben’s getan.“ Was Einzelne, wenn sie zu dieser Einsicht gekommen sind, doch noch tun könnten, darüber fantasiert Hugo Boris. Womöglich schnurrt seine Geschichte etwas zu krimihaft spannend ab, sind die Konflikte eher modellhaft, als differenziert. In seiner schlichten Klarheit ist der Roman aber angenehm konzentriert auf eine Entwicklung: Obwohl die Polizisten Rädchen im Getriebe sind, wird ihnen auf einmal überscharf ihre individuelle Verantwortung in einem Behördenvorgang bewusst. Der Mann aus Tadschikistan bleibt dabei bezeichnenderweise stumm.
Eine Lebensgeschichte, die mit einer gescheiterten Flucht beginnt, erzählt Néhémy Pierre-Dahomey, der 1986 in Port-au-Prince geboren wurde und in Paris lebt. Auf den ersten Seiten seines Romans „Die Zurückgekehrten“ gerät die Heldin Belliqueuse Loussaint, die sich „bei der letzten Fahrt des Seemanns Frère Fanon zu Floridas schönen Stränden eingeschifft“ hat, in Seenot und überlebt nur, weil sie ihren zweijährigen Sohn ins Meer wirft und ertrinken lässt. Coast Guards bergen die überlebenden Passagiere des Schiffes und einer „Logik folgend, die allein sie kannten, nahmen sie zwei oder drei Illegale als Exilanten auf, unter ihnen Sylvia, Bellis Tante. Die anderen wurden ohne gerichtliche Verhandlung weniger als eine Woche nach ihrer Irrfahrt in den maroden Hafen von Cité Soleil, Haiti, ausgewiesen, achtzehn Grad nördlicher Breite, zweiundsiebzig Grad westlicher Länge.“
Schon während dieser schrecklichen ersten Szenen wird einem das irritierend Besondere von Pierre-Dahomeys Stil bewusst: Seine lakonische Nüchternheit, die sich mit der Zeit einem magischen Realismus öffnet. Der Eindruck entsteht auch, weil an die Stellen, an denen man Figurenpsychologie erwarten könnte, eine wundersame Ergebenheit an die Umstände tritt. Belliqueuse Loussaint lebt mit den Armen im nach den Gescheiterten benannten Viertel Rapatriés in den Slums von Haiti, mit den Überlebenden des alltäglichen Elends, lebt mit Männern und ihren Ansprüchen an sie, lebt mit dem Kommen und Verschwinden ihrer Kinder. Der ertrunkene Sohn ist nicht das letzte, das sie verliert.
Einen komischen Effekt bekommt Pierre-Dahomeys Nüchternheit, wo er Belliqueuse eine zweite Figur gegenüberstellt, die Entwicklungshelferin Pauline, der er eine westlich-individualistische Psychologie mitgibt: „Angetrieben von dieser kurzen Ausbildung und vor allem vom fieberhaften Wunsch, die Welt in die Arme zu schließen und ihr ohne Ende zu helfen, brach sie mit einem Team aus vier Eroberern, die sich von ihrer Entschlossenheit anstecken ließen, in die junge Nation Sierra Leone auf“. Jahre später, da ist der Idealismus schon etwas abgehangen, findet und adoptiert Pauline in Haiti eine der Töchter von Belliqueuse und zieht sie als Französin groß. Die Überfahrt in ein einfacheres Leben wird am Ende eine Anstrengung für Generationen gewesen sein. Mehrerer Generationen, die heimgesucht werden, von den Opfern, die diese Reise gefordert hat.
MARIE SCHMIDT
Die Überfahrt in ein einfacheres
Leben wird eine Anstrengung
für Generationen
Hugo Boris: Die Polizisten. Roman. Aus dem
Französischen von
Amelie Thoma.
Ullstein Verlag, Berlin 2018. 188 Seiten, 20 Euro.
Néhémy Pierre-Dahomey: Die Zurückgekehrten. Roman. Aus dem Französischen von Lena Müller. Edition Nautilus, Hamburg 2018. 159 Seiten, 19,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Marie Schmidt attestiert diesem Roman des in Port-au-Prince geborenen und in Paris lebenden Schriftstellers Nehemy Pierre-Dahomey etwas "irritierend Besonderes". Wie der Autor in einer Mischung aus Lakonie und unerwarteten Momenten eines magischen Realismus von der aus Haiti fliehenden Belliqueuse erzählt, die ihren zweijährigen Sohn ins Meer wirft, um selbst zu überleben, und statt in Florida, doch wieder in den Slums von Haiti landet, findet die Kritikerin bemerkenswert. Die Gegenüberstellung mit einer westlich-idealistischen Entwicklungshelferin verleiht dem Roman zudem eine "komische" Note, meint die eingenommene Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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