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Und alle Toten fliegen hoch: "Die Zweisamkeit der Einzelgänger" bildet den Schlussakkord von Joachim Meyerhoffs autobiographischer Phantasie.
Von Sandra Kegel
Willst du dich umbringen?", bricht es aus Hanna heraus, als sie bei einer Premierenfeier wie ein Wirbelsturm ins Leben des Ich-Erzählers hereinbricht. "Ich bring mich jetzt um" wird Jahre später der letzte Satz sein, den er von ihr zu hören bekommt. Was dazwischen liegt, hochfliegende Dramatik und innigste Zweisamkeit zweier Ungleicher, peitschende Auseinandersetzungen und irrwitzige Versteckspiele zwischen Mann und Frau, Theater und Welt, Bielefeld und Dortmund - das ist kühne Gefühlsakrobatik auf dem Hochseil.
Joachim Meyerhoff, der schreibende Schauspieler oder spielende Autor, in jedem Fall ein Verausgabungskünstler, dem es um Drastik geht, um Körperlichkeit, um Rhythmus auch, hat jetzt den letzten Band seines Erinnerungszyklus, der nach dem ersten Teil "Alle Toten fliegen hoch" heißt, geschrieben. Seit 2011 hat der heute Fünfzigjährige Buch für Buch als autobiographische Fiktion verschriftlicht, was ehedem mit einem Theaterabend begonnen hatte. Dass er ein Gespür für Situationen hat, macht den Reiz dieser Prosa aus. Es sind traurige, selbstironische, erschütternde und komische Bücher. Wobei der Witz immer schon das eigene Scheitern in sich birgt, und die Angst davor. Denn das Seil wird lebensbedrohlich, sobald es an Spannung verliert.
Auch in "Die Zweisamkeit der Einzelgänger" springt der Autor aufs Neue durch die Zeiten, um einzelne Momente zugleich ins Unermessliche zu dehnen. Wir begegnen noch einmal dem Ich-Erzähler als Kind. Wie er als Sohn des Direktors einer psychiatrischen Einrichtung unter Verrückten aufwuchs, während der Wahnsinn nicht selten auch im eigenen Zuhause tobte. Von den älteren Brüdern ist die Rede, von denen der eine, der traumatische Einschnitt im Leben dieser Familie, bei einem Unfall ums Leben kam.
Noch in "Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke" kreiste der Erzähler, damals Student in München, unaufhörlich um diesen Verlust bei gleichzeitiger Gier nach Leben. Umstellt von Todesgedanken, drängte es ihn zugleich fort, ins Leben oder das, was er dafür hielt, das Theater. Nun, im neuen Buch, findet er sich ebendort wieder. Doch hat ihn sein Weg nicht etwa an die Schaubühne nach Berlin geführt oder an sonst eine renommierte Bühne. Nach einem Gastspiel in Kassel ist er in Bielefeld gelandet.
Die mitunter bizarren Rituale eines Provinztheaters malt er zwar komisch, aber nicht denunziatorisch aus. Und immer richtet sich der Spott auch auf den Erzähler selbst, einen Starkstromschauspieler, der zusehends heißläuft, weil er auf der Bühne kein Ventil findet. Stattdessen wird ihm in einer Minirolle die Gesangseinlage gestrichen. Und von einem Jungregisseur mit Totenkopfring muss er sich als überforderter und zugleich unterforderter Tybalt sagen lassen: "Ik seh deinen Schmerz nich, Alter!"
Den Verlust beruflicher Ideale kompensiert der junge Schauspieler mit hemmungsloser Lust. Als Stürmer und Dränger stürzt er sich in immer neue Amouren, als hätte er sich das Lebensmotto Arthur Schnitzlers zu eigen gemacht: "Intensiv sein ist alles." Wie da Gefühle und Emotionen um jeden Preis gesteigert und zugleich Strategien ausgetüftelt werden, die eigene Erschöpfung aufzuhalten, durch Beschleunigung, Variation oder Tabletten, das kippt vom Komischen immer wieder ins Geisterhafte. "Du warst der Schlimmste", attestiert Hanna ihm nach einer Vorstellung: "Und wie du gestorben bist. Sie lachte los." Weil aber der Schauspieler, anders als ein Maler oder Musiker, immer mit seinem ganzen Sosein für seine Kunst herhalten muss, er sich von sich als Instrument nicht distanzieren kann, entfalten die Fliegenpilzworte erst ihre giftige Wirkung. Der Gedemütigte verharrt einerseits reglos und möchte andererseits wegrennen. Und entdeckt im höhnischen Gelächter des Gegenübers einen Gleichklang des eigenen Ichs.
Momente wie diesen, den sich Meyerhoff assoziativ erarbeitet, dreht er so lange durch die Gedankenmaschine, bis er in kleinste Gefühlseinheiten zerlegt ist. Das zeichnet dieses manische Erinnerungswerk aus. Es gibt andere Episoden, die allzu lapidar oder auf den Effekt getrimmt sind. Wenn es etwa gilt, die Frauen aneinander vorbei zu navigieren, damit der Betrug nicht auffliegt, ist das irgendwann redundant. Aber dann kommt Ilse, die Bäckerin aus der Nachbarschaft. Zu ihr schleicht sich der Erzähler nicht der Liebe wegen, sondern um mit ihr zu backen. Nacht für Nacht hantieren sie gemeinsam am Ofen. Als sie ihn aber eines Abends im Theater überraschen will und dort aufkreuzt, in zu grellem Kleid und zu blondem Haar, schämt er sich vor seinen Künstlerfreunden für sie und läuft davon. Auch das macht der Erzähler: den Leser zum Zeugen seiner peinlichen Arroganz.
Zentral in all diesen Büchern sind der Tod, das Sterben. Indem Meyerhoff erfindend rekonstruiert, versucht er Nähe zur Vergangenheit herzustellen. Am Ende ruft er, der Überlebende, alle noch einmal auf. Den Bruder, den Vater, die Großeltern. Er sitzt am Tisch und hämmert mit den Fingern so lange auf die Platte, bis es schmerzt. Dann wirft er die Arme hoch und ruft: "Alle Toten fliegen hoch." Vorhang.
Joachim Meyerhoff: "Die Zweisamkeit der Einzelgänger". Roman.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017. 416 S., geb., 24,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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