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Vor mehr als vierzig Jahren verfasste Günter Kunert, damals noch in der DDR lebend, das Manuskript zu "Die zweite Frau". Jetzt wird es endlich veröffentlicht.
Ich wurde früh zu einem Sympathisanten, Anhänger, Mitläufer, Interessenten, Freund und Süchtigen der Archäologie gemacht", verrät Günter Kunert in seinen 2018 unter dem Titel "Ohne Umkehr" veröffentlichten Aufzeichnungen aus den letzten Jahren. "Dadurch, dass ich als Kind die Zerstörung meiner Umwelt und das Verschwinden meiner Verwandten erleiden musste, suchte ich in allen Relikten und Rudimenten meiner Vergangenheit."
Der Autor als Archäologe gräbt selbstverständlich von Zeit zu Zeit auch seinen Keller um, und so entdeckte Kunert vor ein paar Jahren ein Romanmanuskript wieder, das er 1974/75 geschrieben hatte und dessen Protagonist ein Archäologe ist. Das Skript verschwand damals sofort in der Schublade, weil sein Autor in der DDR nicht die geringste Chance auf Veröffentlichung sah. Man muss nur die Eingangsszene lesen, einen Albtraum, in dem der Protagonist Barthold in London Walter Ulbricht begegnet, um diese Einschätzung zu teilen. Der erste Staatsratsvorsitzende war zwar damals schon geschasst und durch Erich Honecker abgelöst, aber als literarische Schreckens- oder Witzfigur nicht zugelassen.
Barthold, verheiratet mit Margarete Helene (in deren Namen sich Fausts Gretchen mit der schönen Helena vermählt), sucht ein Geschenk für deren vierzigsten Geburtstag. In der DDR ist das schon damals, anderthalb Jahrzehnte vor ihrem wirtschaftlichen Ruin, weniger eine Frage des Geldes als des nicht vorhandenen Angebots. Barthold aber muss auf jeden Fall etwas Besonderes finden, um seine Frau milde zu stimmen, hat diese doch einen Büstenhalter gefunden, der zweifelsfrei nicht ihr gehört: das Ganze beim Abreißen eines alten Schuppens, auch einer Form der Archäologie. Diese Form bringt später auch noch vergrabene Knochen ans Licht und eine alte Postkarte von einer gewissen Elfi, und aus beiden reimt sich Margarete Helene die Vorstellung zusammen, ihr Mann könne weit vor ihrer Zeit einen Mord begangen haben.
Dieser, wegen vegetativer Dystonie krankgeschrieben, tröstet sich über den Zustand seines Landes wie der Welt mit der Lektüre von Montaigne. Als ihm die rettende Möglichkeit eröffnet wird, an Westgeld zu kommen und in der magischen Welt des Intershops einkaufen zu können, unterhält er sich mit dem dort hinter ihm wartenden Mann und zitiert fleißig aus den "Essais".
Nicht der Einkauf im Intershop, nicht das Westgeld ist es, das die Staatssicherheit auf den Plan ruft, sondern Bartholds offensichtlicher Kontakt zu einem Ausländer, einem gewissen "Mohnteine". Barthold will erst laut lachen, aber "Besserwissen führt bestenfalls zu nichts, schlimmstenfalls zu negativen Auswirkungen. Der Andere führte aus, der Ausländer, wohl Franzose, wie?, habe keine positive Einstellung erkennen lassen, wie aus Bartholds Reden zu entnehmen sei, doch ginge es in der Hauptsache darum, dass er, Barthold, doch ganz genau wisse, dass jede Bekanntschaft mit Ausländern für ihn meldepflichtig sei." Barthold will dem Abgesandten der Stasi - "Sie können mich Müller nennen" - seinen Band Montaigne zeigen, der immer auf seinem Nachttisch liegt, aber seine Frau hat ihn am Tag zuvor weggeschmissen, eifersüchtig nicht nur auf die ominöse Elfi, sondern seit langem auch schon auf das Lieblingsbuch, ja den unverzichtbaren Lebensbegleiter ihres Mannes. Barthold kann sich nicht entlasten, und die Dinge nehmen ihren Lauf. Wie, das soll nicht verraten werden.
Kunerts Roman, sowohl aus der Perspektive Bartholds als auch aus der seiner Frau erzählt, ist eine derbe Komödie mit todernstem Hintergrund. Er verrät eine bei diesem Autor überraschende Lust am Erzählen und hat, im Gegensatz zu den Verhältnissen, die er schildert, keinen Grünspan angesetzt. Der Lust am Erzählen gesellt sich die an der Reflexion bei, vertreten hier durch Montaigne und vermittelt durch Barthold. Dass eben diese Lust an der Reflexion dem Helden zum Verhängnis wird, liegt an der Gegenseite. Bekanntlich war die Stasi so gut wie allwissend und doch zugleich stockdoof: eine überaus gefährliche Mischung.
Spannend ist nun die Frage, welchen Stellenwert die Arbeit an diesem Roman im Werk eines Autors hatte, der sich bewusst war, dass er diese Geschichte in der DDR niemals würde veröffentlichen können. Geschrieben Mitte der siebziger Jahre und ein gutes Jahr vor der Ausbürgerung Wolf Biermanns, gegen die Kunert dann als einer der ersten protestiert hat, hatte das Manuskript wohl vor allem die Funktion einer Selbstverständigung und Standortbestimmung. Kunert, der reisen durfte und schon damals mehr von der Welt gesehen hatte als die meisten seiner Mitbürger, hatte aus diesem Grund sicher einen schärferen Blick für die grotesken Verhältnisse im eigenen Land, das er dann konsequenterweise auch wenige Jahre danach verlassen hat. Wer als vierzehn-, fünfzehnjähriger sogenannter Halbjude im Nazireich überlebt und die Bombennächte von Berlin miterlebt hatte und danach den Umschlag der frühen sozialistischen Hoffnungen in deren vom Mangel gesteuerte Perversion, der war spätestens in der DDR der Mittsiebziger gegen alle Versuchungen gefeit, Weltgeschichte als Heilsgeschehen misszuverstehen, in welcher Form auch immer. Die Groteske, die Kunert damals für die Schublade schrieb - und später dann für den Keller, aus dem sie nun unverhofft aufgetaucht ist -, lässt sich durchaus als der erzählerische Befreiungsschlag lesen, der seinen Autor ein für alle Male von eventuell noch schwelenden Illusionen erlöste.
Seitdem, so können wir dem weiteren Werk des Lyrikers und Essayisten Günter Kunert, der heute neunzig Jahre alt wird, entnehmen, "ist mein Interesse am Fiktionalen erloschen. Die Realität hat alle Fantasie übertroffen und aus dem Feld geschlagen." So heißt es in "Ohne Umkehr", den Aufzeichnungen aus den letzten Jahren. Dennoch hält Kunert an der Schrift fest, möglichst Tag für Tag, "um sich schreibend bei Bewusstsein zu halten, um der allgemeinen Lethargie zu entgehen . . . Es gilt, das eigene Bewusstsein nicht in die billige Akzeptanz des Bestehenden absinken zu lassen." Mit Altersmilde hat das herzlich wenig zu tun. Man darf ihm deshalb wünschen, dass dieser Kampf gegen Bewusstseinstrübung und für skeptische Klarsicht, für die Montaigne gewiss der angemessene Ahne und Schirmherr ist, noch lange anhält. Uns als seinen Lesern käme das jedenfalls zugute.
JOCHEN SCHIMMANG
Günter Kunert: "Die zweite Frau". Roman.
Wallstein Verlag, Göttingen 2019. 204 S., geb., 20,- [Euro].
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