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An der Schnittstelle von Natur, Kultur und Technologie: Nathaniel Rich illustriert, wie der Mensch seine Umwelt dauerhaft verändert.
Von Christian Schwägerl
Mit seinem ersten Buch "Losing Earth" hat sich der amerikanische Journalist Nathaniel Rich auch über die Vereinigten Staaten hinaus einen Namen gemacht. Akribisch rekonstruiert er darin, wie das Wissen um die Gefahren der vom Menschen verursachten Klimaveränderungen bereits in den 1970er-Jahren vorhanden war - und wie es von Politik und Wirtschaft ignoriert oder sogar gezielt verheimlicht wurde.
Sein neues Buch verspricht zu schildern, "wie der Mensch die Natur für immer verändert". Ein solcher Fokus ist wichtig, leidet doch die gesamte Umweltdebatte darunter, dass sie die menschlichen Eingriffe in das, was die Wissenschaft "Erdsystem" nennt und andere die "Natur", sehr - zu sehr - auf das Klimathema verengt.
Natürlich birgt die Klimakrise auch isoliert betrachtet genug Risiken - und auch Chancen für eine nachhaltigere Wirtschaftsweise -, um die ganze Aufmerksamkeit zu fordern. Aber das reicht nicht, denn letztlich ist die Nutzung fossiler Brennstoffe nur ein kleiner Ausschnitt menschlicher Interaktionen mit der Erde. Zudem ist es falsch, bei Treibhausgasen nur an Schornsteine und Auspuffe zu denken. Die Emissionen haben viel mit unserem Umgang mit natürlichen Lebensräumen zu tun, wenn etwa Kohlendioxid aus brennenden Wäldern und austrocknenden Mooren entströmt. Vielleicht müssen wir also tiefer graben und an unserem Verhältnis zu allem Nichtmenschlichen auf der Erde arbeiten, bevor eine Wirtschaftsweise entsteht, die natürliche Ressourcen nicht parasitiert und den Wirt schwächt oder tötet.
In seiner Einleitung hebt Rich auf diese Grundsatzfrage ab. Das Beispiel des Glass Beach in Kalifornien, einer früheren Deponie für Altglas direkt am Meer, zeigt bei ihm, wie die Grenzen zwischen der menschlichen Zivilisation und dem, was wir früher von uns getrennt als Natur angesehen haben, verschwimmen. Die Wellen haben das Altglas zertrümmert und die Scherben abgerundet, sodass der Strand nun aus Millionen bunter Scherben besteht, die zur Touristenattraktion geworden sind. Es gibt sogar eine Debatte, ob man neues Altglas herankarren soll. Eigentlich eine harmlose Sache. Doch Rich erkennt darin mehr, ein Symbol einer neuen Erde, auf der "kaum ein Stein, Blatt oder Kubikmeter Luft nicht von unserer ungeschickten Hand gezeichnet" ist.
Menschen durchdringen jeden Winkel der Erde auf die eine oder andere Weise. Frühere Naturbilder seien ein "Freibrief für ihre Beherrschung, Zerstörung und Ausbeutung - und den Stolz darauf" gewesen. Weder in einem verklärenden romantischen Naturbild noch im Versuch, immer kleinere Areale "unberührter Natur" zu schützen, sieht Rich eine Alternative. Vielmehr plädiert er dafür, Natur als Spiegelbild des Menschen zu begreifen: "Es ist unmöglich, alles, was wir 'natürlich' nennen, vor den Verheerungen des Klimawandels, vor Verschmutzung und psychopathischer Profitgier zu schützen, wenn wir nicht verstehen, dass die Natur, deren Verlust wir fürchten, unsere eigene ist."
Was auf diesen fulminanten Auftakt folgt, ist aber keine systematische Entwicklung eines neuen Naturbilds, sondern eine lose gruppierte Sammlung von Reportagen, die Rich für verschiedene amerikanische Medien wie das "New York Times Magazine" oder "The New Republic" geschrieben hat.
Im ersten, "Tatort" genannten Teil geht es um Umweltverschmutzung durch den Chemiekonzern Dupont und um die Folgen eines ebenfalls nie ganz geklärten Methanlecks . Wie in "Losing Earth" wirken die Schilderungen akribisch recherchiert, wobei manche Details unwirklich erscheinen, etwa wenn Rich über die Folgen chemischer Verschmutzung schreibt: "Die Hirsche starben einen seltsamen Tod. Sie sanken in Gruppen zu Boden wie Mitglieder einer Selbstmordsekte."
Im zweiten Teil namens "Zeit des Zweifels" bietet Rich Berichte über die neuartige urbane Natur, die sich nach dem Hurrikan Katrina in New Orleans ausgebreitet hat und Ökologen vor Rätsel stellt, Einblicke in die Welt der Zucht von Hühnchenfleisch aus Zellkulturen im Labor und eine Reportage darüber, wie Aspen von der Bergbausiedlung zur Ökoenklave von Milliardären geworden ist. Auch der dritte, "Wie Götter" überschriebene Teil des Buchs stellt unterschiedlichste Aspekte nebeneinander, vom Versuch, die ausgestorbenen amerikanischen Wandertauben wieder zum Leben zu erwecken, bis zur Nutzung gentechnischer Methoden in der Kunst.
Jede Reportage ist für sich genommen interessant - und natürlich ist es verständlich, wenn ein Reporter seine Arbeit an so vielen Fronten der Umweltdebatte unter ein gemeinsames Motto zu stellen versucht und in Buchform präsentiert. Doch die Einzelteile ergeben nicht wirklich ein neues Ganzes. Zumindest hätte Rich nach dem großen naturtheoretischen Aufschlag, mit dem er "Die zweite Schöpfung" einleitet, am Ende eine Synthese bieten müssen.
Eine solche Zusammenschau hätte in einem Resümee dessen bestehen können, was er bei seinen umfangreichen Recherchen über das übergreifende Thema gelernt hat, oder in der Einschätzung, ob die Ergebnisse dieser Recherchen die wissenschaftliche These stützen, die Menschheit habe mit ihren zahlreichen Eingriffen eine neue Erdepoche namens Anthropozän eröffnet. Rich überlässt die Deutung aber ganz dem Leser, dem er, wie schon bei "Losing Earth", leider auch kein Quellenverzeichnis an die Hand gibt.
Wer lebendige und interessante Schilderungen einiger der wichtigsten Themen an der Schnittstelle von Natur, Kultur und Technologie sucht, wird in diesem Sammelband fündig. Doch es klaffen zwei große Leerstellen: Der menschliche Umgang mit Arten, Biodiversität und Ökosystemen, also die wirklich großen Eingriffe in das, was früher "Natur" hieß, spielt in dem Buch keine Rolle. Und das in der Einleitung avisierte neue Naturbild ergibt sich aus den Reportagen nicht. Beides hätte für eine moderatere Präsentation des Buchs als unter dem Titel "Die zweite Schöpfung" gesprochen.
Nathaniel Rich: "Die zweite Schöpfung". Wie der Mensch die Natur für immer verändert.
Aus dem Englischen von Thomas Gunkel. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2022. 320 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
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Nathaniel Rich will sich nicht mehr über
die Zerstörung des Planeten empören. Er will wissen,
wie die Menschheit das Verlorene ersetzen könnte
VON BURKHARD MÜLLER
Sie war einst das zahlreichste Landwirbeltier auf Erden: die Wandertaube, die in Schwärmen von Milliarden Individuen über Nordamerika hinwegzog, den Himmel auf Tage verdunkelnd, und die in Kolonien, die sich über Tausende Quadratkilometer erstreckten, so dicht an dicht brütete, dass die stärksten Äste von den Bäumen krachten. Nach kaum einem halben Jahrhundert war davon, nachdem die Vögel als billige Speise genutzt, zum Spaß abgeschossen und ihre Brutbäume mit Dynamit gesprengt worden waren, nur noch ein einziges Exemplar übrig: Martha, im Zoo von Cincinnati, die die Kinder mit Sand bewarfen, um das apathische Tier in Bewegung zu setzen. Dann starb auch sie, im Sommer 1914, der in mehr als einer Hinsicht das Ende einer Epoche besiegelte. Nie hat der Mensch spektakulärer ins Dasein der Natur eingegriffen als mit diesem Akt totaler Vernichtung des scheinbar Unerschöpflichen. Man vernimmt es mit Scham und Beklemmung.
Oder auch mit dem wilden Entschluss, das Unwiederbringliche dennoch zurückzuholen. So ergeht es Ben Novak, der, als er im Alter von 16 Jahren eine ausgestopfte Wandertaube sieht, sprachlos auf die Knie sinkt und sich schwört, diesen Tod nicht auf sich beruhen zu lassen. Sein ganzes begeistert-verzweifeltes Streben geht von nun an dahin, dass die Wandertaube aufersteht. Gibt es heute nicht Gentechnologie und kann man nicht Embryos nach Belieben manipulieren? Wenn man all das trickreich verbindet, die DNA der Museumspräparate extrahiert, die verwandte Bandtaube als Leihmutter einsetzt – könnte Martha dann nicht von Neuem leben?
In sehr persönlicher Form erzählt der 1980 geborene amerikanische Journalist Nathaniel Rich Geschichten von der „zweiten Schöpfung“, wie der Titel seines Buchs lautet. Er hat diese Reportagen für das Magazin der New York Times verfasst, für Men’s Journal, den Atlantic und andere Zeitschriften. Mit dem Buch „Losing Earth“, in dem er die These vertrat, in den Achtzigern hätte das Schicksal der Erde noch gewendet werden können, gelang ihm ein Weltbestseller. Nunmehr ist er einen Schritt weiter: „Wie der Mensch die Natur für immer verändert“, lautet der Untertitel diesmal, „Scenes from a World Remade“. An die Stelle der Klage über den Verlust tritt die Neugier, was künftig das Verlorene ersetzen wird.
Kann es denn im eigentlichen Sinn gelingen, die Wandertaube neu zu erschaffen? Wird, was immer aus den manipulierten Eiern schlüpft, tatsächlich die alte Spezies sein, oder bloß eine raffinierte Kopie, um nicht zu sagen Fälschung? Wären diese Kreaturen etwas anderes als Zombies oder eine Art Berliner Stadtschloss der Natur? Sollte die Gentechnik der Menschheit dieses billige Alibi verschaffen, das sich wie üblich an ein paar Vorzeigespezies hängt (wie den Panda) und die gegenwärtige extinktorische Katastrophe durch punktuelle „Deextinction“ bemänteln? Fänden denn die neuen Tauben überhaupt noch ihre alte ökologische Nische, wo doch der einst dicht bewaldete Osten der USA inzwischen grundlegend umgeformt ist?
Rich macht sich die Haltung des Wissenschaftlers Steward Brand zu eigen: Die alte Empörung darüber, dass der Mensch sich zum Schöpfergott aufschwinge, habe ausgedient; und da er, der Mensch, nun ganz und gar in diese vormals göttliche Position eingetreten sei, habe er keine Wahl, als seine schöpferische Aufgabe gut zu machen.
Bloß, was heißt das: gut? Das längste und komplexeste Stück des Buchs hat es mit dem Delta des Mississippi zu tun, einer außerordentlich wandlungsfähigen Landschaft, in der die menschlichen Kontrollmaßnahmen in nur 100 Jahren zu Konsequenzen in riesigem Umfang geführt haben, besonders nach dem Hurrikan Katrina. Rich entwirft ein Bild der Korruption im Staat Louisiana, der den Öl- und Gaskonzernen hörig ist, verschafft aber auch anderen Stimmen Gehör.
Wenn man New Orleans schützen will, muss es dem durch Dämme eingeengten Mississippi wieder erlaubt werden, Sedimente aufzuschütten und das amphibische Marschland zu erweitern – aber das wiederum führt unausweichlich zur Aussüßung der betroffenen Flächen und dem Niedergang der zugehörigen Ökosysteme. Die wütenden Fischer, die erleben müssen, wie ihre Austernbänke den Bach runtergehen, tragen ihre Argumente mit derselben Überzeugungskraft vor wie die Deichbau-Ingenieure, die in großen Räumen und langen Zeiten denken. Beide wollen die Umwelt schützen und erhalten – aber was für eine Umwelt? Schon haben die Maßnahmen der Landrückgewinnung ein Areal von wildester Lebendigkeit hervorgebracht. Aber es ist eine Natur von menschlichen Gnaden. Natur, sagen einige, sei alles, was der Fall ist, einschließlich des Menschen. Also wäre alle Transformation einschließlich der Zerstörung auch Natur? Das ist es jedenfalls nicht, was sich ein Naturschützer unter Natur vorstellt.
Rich hat als Darstellungsform die Reportage gewählt. Das funktioniert oft sehr gut. Für das, was es zu sagen gibt, wählt er sich eine markante Figur vor Ort, öfters auch zwei oder drei, die das Problem von verschiedenen Seiten beleuchten und damit dessen Ambivalenz zum Vorschein bringen. So erhält nicht nur der Wandertaubenenthusiast das Wort, sondern auch sein Kritiker, und nicht nur der Ingenieur, der New Orleans zu schützen hat, sondern auch der fürs große Ganze geopferte Fischer.
Auf dieser diskursiven Höhe bewegt sich der Sammelband freilich nicht immer. Der erste Text etwa, in dem es um die Machenschaften des Chemiekonzerns DuPont in der Company Town Parkersburg, West Virginia, geht, ist ein recht simpel gestrickter Fall von Aufdeckungsjournalismus. Auch das ist aufschlussreich und verdienstvoll, gehört aber schwerlich in die Kategorie „zweite Schöpfung“. Ähnliches gilt für ein ominöses Gasleck in Südkalifornien. Und einer Story über den pandemischen Untergang der Seesterne an der amerikanischen Pazifikküste fehlt irgendwie die Pointe – möglich, dass der Mensch schuld ist, möglich aber auch, dass hier ein Heimspiel der Natur vorliegt. Ebenso wenig lässt sich die Entdeckung, dass bestimmte Quallen in gewissem Sinn ewig zu leben vermögen, indem die erwachsenen Tiere wieder zu ihrer Larvenform regredieren, als menschlicher Schöpfungsakt reklamieren: Da wurde ja bloß was entdeckt, was die Natur schon seit Jahrmillionen vermag und worin der Mensch sie noch nicht zu kopieren vermochte. Kann noch kommen; aber vorläufig sterben wir noch.
Insgesamt muss man dem Buch also bescheinigen, dass es weniger ist als die Summe seiner Teile. Das hebt allerdings seinen Wert nicht auf, denn jeder dieser Teile ist interessant und gut geschrieben. Die besten Stücke gelangen tatsächlich dorthin, wo der Titel es will. Nur ein ernsthaftes Versäumnis muss man dem Buch trotzdem ankreiden. Seine zentrale These lautet ja, dass das, was heute geschieht, die Welt bis in fernste Zukunft prägen wird. Darum eben lebten wir im Anthropozän. Aber Rich fällt dafür kein stärkeres Beispiel ein als das „Plastiglomerat“ aus Sand, Muscheln und dem Kunststoff von PET-Flaschen und Bonbonpapier, das sich als Zeugnis unserer gemütlichen Strandfeuerchen in die Äonen der Geologie eintragen wird. Mag sein. Aber diese Schicht wird sehr dünn geraten und sich in der Tiefe verbergen.
Was die gegenwärtige Menschheit der irdischen Ewigkeit wirklich antut, das ist die Vernichtung der Arten. Schon immer sind alle neuen Spezies ausschließlich aus den vorhandenen alten hervorgegangen; und noch in einer Milliarde Jahren wird das Spektrum der Lebewesen, so vielgestaltig es sich auch fortentwickeln mag, die Spuren der heute geschlagenen Lücken aufweisen. Freilich, Richs Gewährsmann rechnet mit der Auferstehung der Wandertaube; sie wäre dann eine „Lazarus-Spezies“, von den Toten erweckt wie Lazarus durch Jesus. Aber schon die damaligen Augenzeugen rieten ab mit der Begründung: Herr, er riecht schon. Es ist kein massentaugliches und selbst im Einzelfall ein sehr fragwürdiges Konzept. Was der Mensch heute auslöscht, ist für immer weg. Dass die zweite Schöpfung ihre Basis in der existenziellen Negation hat - an diesen melancholischen Gedanken will der Autor nicht heran.
Die Wandertaube wäre eine
„Lazarus-Spezies“, von den Toten
erweckt wie Lazarus durch Jesus
Nathaniel Rich:
Die Zweite Schöpfung.
Wie der Mensch die Natur für immer verändert.
Aus dem Englischen von Thomas Gunkel.
Rowohlt Berlin, 2022.
320 Seiten, 24 Euro.
Weltkulturerbe Artensterben: Zwei tote Haie in verwaistem Fischernetz nahe der Galápagos-Inseln.
Foto: Probst/Imago
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