Waren Juristen in der DDR »ideologieanfälliger« als die Vertreter anderer Berufe? Dienten die Rechtswissenschaftler einem »Unrechtsstaat«? Wie ging die SED mit den Juraprofessoren um, wie brav befolgten diese die Parteibeschlüsse? Die US-amerikanische Rechtshistorikerin Inga Markovits benutzt die Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin als Labor, um zu beschreiben, wie sich Juristen in der DDR im Spannungsfeld zwischen Macht und Recht bewegten. Sie erzählt die 40-jährige Geschichte der Fakultät aus drei verschiedenen Perspektiven: als Anpassung und Unterwerfung unter die SED, als mürrisches Ausweichen und Unterwandern von Parteibeschlüssen sowie als Verschleiß des politischen Glaubens an den Sozialismus oder zumindest an die Partei. Markovits resümiert: Die DDR wurde nie zum »Rechtsstaat« im technischen Sinn des Wortes, aber sie war auch kein »Unrechtsstaat«, sondern bewegte sich im Laufe der Jahrzehnte vom »Nicht-Rechtsstaat« allmählich auf den Rechtsstaat zu.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Anna Kaminsky erfährt aus dem Buch von Inga Markovits, wie sich Juristen in der DDR zwischen Macht und Recht entschieden. Die Kapitel zu Anpassung, "mürrischem Gehorsam" und Handlungsspielräumen eröffnen Kaminsky den Blick auf ein Rechtssystem, das die Bürger zu bedrohen und zu kontrollieren suchte. Wie sich die Situation nach Stalins Tod ändert und die Juristen das sozialistische Recht in Frage stellten, nach dem Mauerbau aber die Partei die totale Kontrolle übernahm, bevor das Blatt sich in den achtziger Jahren wiederum wendete, liest Kaminsky mit Interesse und Dankbarkeit für die eingängige Schreibe der Autorin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.10.2020Zwischen Gehorsam und Eigensinn
Mehr als "mürrischer Gehorsam"? Das Verhalten von Juristen in der DDR
Inga Markovits befasst sich am Beispiel der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität mit dem Verhalten von Juristen in der DDR. Die profunde Kennerin geht der Frage nach, wie sich diese nach dem verheerenden Wirken ihres Berufsstandes im Nationalsozialismus in der DDR verhielten, als sie erneut vor die Wahl zwischen Macht und Recht gestellt waren: "Waren sie eher bereit, Willkür von oben fraglos durchzusetzen, oder sie durch das Bestehen auf formalen Regeln abzumildern?" Markovits nähert sich diesen Fragen anhand von drei Geschichten. Während sie im ersten Kapitel Anpassung und Unterwerfung beleuchtet, ist das zweite Kapitel dem daraus resultierenden "mürrischen Gehorsam" gewidmet, während im dritten das Ausloten von Handlungsspielräumen vorgestellt wird.
Ausgangspunkt ist die Situation nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Unter der Aufsicht der sowjetischen Besatzungsmacht wird die Universität entnazifiziert und der Betrieb aufgenommen. Die meisten Juraprofessoren gelten wegen ihrer Verstrickungen in den NS-Staat als nicht geeignet, die neuen Juristen auszubilden, so dass der Lehrbetrieb für 350 Studenten lediglich mit zwei Professoren und dem Dekan aufgenommen wird. Für die Gewinnung des neuen Personals werden die formalen Anforderungen an die fachliche Qualifikation gesenkt, da die "richtige Gesinnung" wichtiger ist als Fachwissen. SED-Kader sollen dafür sorgen, dass loyale Richter und Staatsanwälte ausgebildet werden, die frei von "bürgerlichen Rechtsvorstellungen" sind. Die Studenten sollen, "bevor sie berufliche Kenntnisse und Fähigkeiten erwarben, von dem Glauben überzeugt werden, dass sie diese Fähigkeiten im Interesse der Partei" anzuwenden haben. "Bürgerlichen" Lehrkräften wird vorgeworfen, nicht im Sinne der SED und des Sozialismus zu unterrichten, sondern rechtlich-formal zu argumentieren. Unter dem Eindruck der Repressalien fliehen zahlreiche Professoren und Studenten in den Westteil der Stadt und gründen die "Freie Universität", was das Personalproblem weiter verschärft. 1951 werden an allen DDR-Hochschulen der Marxismus-Leninismus zur Grundlage jedes Studiums gemacht und verschärfte Kontrollen eingesetzt. Studenten, die "in ihren bürgerlichen Kommilitonen nicht mehr den Klassengegner, sondern nur noch den Menschen" sehen, werden gezwungen, sich von ihren als bürgerlich klassifizierten Mitstudenten zu distanzieren und diese zu meiden. In diese Linie passt, dass sich die Humboldt-Juristen 1953 verpflichten, Stalin durch "systematische, ideologische, wechselseitige Überprüfung der einzelnen Vorlesungen" zu ehren.
Die Absenkung der fachlichen Anforderungen hat natürlich Auswirkungen auf Lehre und Forschung. Rechtswissenschaftliche Qualifizierungsarbeiten werden bis in die 1960er Jahre kaum mehr vorgelegt und Gesetzestexte insbesondere zu politischen Delikten nicht kommentiert. Wie Markovits konstatiert, dient das sozialistische Recht dazu, die Bürger der DDR zu bedrohen und einzuschüchtern, nicht sie zu beschützen. Und genau das lernen die angehenden DDR-Juristen.
Dennoch bewahren sich die Juristen der Humboldt-Universität ein gewisses Maß an Eigensinn. Mit den Lockerungen nach Stalins Tod wagen sich einige von ihnen zu Ende der 1950er Jahre aus der Deckung. Sie wollen darüber diskutieren, was sozialistisches Recht ist, und stellen die direkte Verbindung von Marxismus-Leninismus und Rechtswissenschaft in Frage. Die Diskussionen werden unterbunden; die beteiligten Juristen erhalten Hausverbot und müssen sich in Parteiverfahren verantworten. Studenten werden wegen "politischer Hetzreden" exmatrikuliert. Publikationen dürfen nicht erscheinen, weil sie nicht den "richtigen Klassenstandpunkt" enthalten. Wieder flüchten etliche Mitglieder der juristischen Fakultät in den Westen. Die verbleibenden haben ihre Lektion gelernt und sind "auf Linie" gebracht. Mit Erschrecken konstatiert Markovits die "Eilfertigkeit, mit der die ostdeutsche Juristenelite ihrer Erniedrigung durch Ulbricht beipflichtete und sie durch Applaus und Zwischenrufe noch unterstützte".
Nach dem Mauerbau 1961 sind die Humboldt-Juristen ebenso wie der Rest der Bevölkerung vollends in der Hand der Partei. Sie gelten zwar als besonders linientreu, werden aber durch ein dichtes Netz von Parteikadern und Stasi-Spitzeln kontrolliert. Ideologisch "richtiges" Denken und Handeln wird eingefordert, eigenständiges Denken systematisch unterbunden. Meinungsvielfalt gilt selbst bei harmlosen Themen als gefährlich, zumal sich die oberste Parteiführung auch in kleinste Fragen einmischt und ihre Allmacht demonstriert. Insbesondere in den 1980er Jahren versuchen sowohl Juraprofessoren als auch Studenten sich zunehmend von den ideologischen Einflüssen in der juristischen Fachausbildung zu befreien und politische Vorgaben zu unterlaufen.
Markovits macht in ihrem gut lesbaren Buch deutlich, welche Folgen Einschüchterung, Disziplinierung, Repressalien und Kontrolle auf der einen Seite zeitigen und wie auf der anderen "die Normalität des Rechtsgebrauchs" zu einer wachsenden Verrechtlichung führt, was im Fall der DDR jedoch nicht mit dem Rechtsstaat verwechselt werden sollte.
ANNA KAMINSKY
Inga Markovits: Diener zweier Herren. DDR-Juristen zwischen Recht und Macht.
Christoph Links Verlag, Berlin 2020. 239 S., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mehr als "mürrischer Gehorsam"? Das Verhalten von Juristen in der DDR
Inga Markovits befasst sich am Beispiel der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität mit dem Verhalten von Juristen in der DDR. Die profunde Kennerin geht der Frage nach, wie sich diese nach dem verheerenden Wirken ihres Berufsstandes im Nationalsozialismus in der DDR verhielten, als sie erneut vor die Wahl zwischen Macht und Recht gestellt waren: "Waren sie eher bereit, Willkür von oben fraglos durchzusetzen, oder sie durch das Bestehen auf formalen Regeln abzumildern?" Markovits nähert sich diesen Fragen anhand von drei Geschichten. Während sie im ersten Kapitel Anpassung und Unterwerfung beleuchtet, ist das zweite Kapitel dem daraus resultierenden "mürrischen Gehorsam" gewidmet, während im dritten das Ausloten von Handlungsspielräumen vorgestellt wird.
Ausgangspunkt ist die Situation nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Unter der Aufsicht der sowjetischen Besatzungsmacht wird die Universität entnazifiziert und der Betrieb aufgenommen. Die meisten Juraprofessoren gelten wegen ihrer Verstrickungen in den NS-Staat als nicht geeignet, die neuen Juristen auszubilden, so dass der Lehrbetrieb für 350 Studenten lediglich mit zwei Professoren und dem Dekan aufgenommen wird. Für die Gewinnung des neuen Personals werden die formalen Anforderungen an die fachliche Qualifikation gesenkt, da die "richtige Gesinnung" wichtiger ist als Fachwissen. SED-Kader sollen dafür sorgen, dass loyale Richter und Staatsanwälte ausgebildet werden, die frei von "bürgerlichen Rechtsvorstellungen" sind. Die Studenten sollen, "bevor sie berufliche Kenntnisse und Fähigkeiten erwarben, von dem Glauben überzeugt werden, dass sie diese Fähigkeiten im Interesse der Partei" anzuwenden haben. "Bürgerlichen" Lehrkräften wird vorgeworfen, nicht im Sinne der SED und des Sozialismus zu unterrichten, sondern rechtlich-formal zu argumentieren. Unter dem Eindruck der Repressalien fliehen zahlreiche Professoren und Studenten in den Westteil der Stadt und gründen die "Freie Universität", was das Personalproblem weiter verschärft. 1951 werden an allen DDR-Hochschulen der Marxismus-Leninismus zur Grundlage jedes Studiums gemacht und verschärfte Kontrollen eingesetzt. Studenten, die "in ihren bürgerlichen Kommilitonen nicht mehr den Klassengegner, sondern nur noch den Menschen" sehen, werden gezwungen, sich von ihren als bürgerlich klassifizierten Mitstudenten zu distanzieren und diese zu meiden. In diese Linie passt, dass sich die Humboldt-Juristen 1953 verpflichten, Stalin durch "systematische, ideologische, wechselseitige Überprüfung der einzelnen Vorlesungen" zu ehren.
Die Absenkung der fachlichen Anforderungen hat natürlich Auswirkungen auf Lehre und Forschung. Rechtswissenschaftliche Qualifizierungsarbeiten werden bis in die 1960er Jahre kaum mehr vorgelegt und Gesetzestexte insbesondere zu politischen Delikten nicht kommentiert. Wie Markovits konstatiert, dient das sozialistische Recht dazu, die Bürger der DDR zu bedrohen und einzuschüchtern, nicht sie zu beschützen. Und genau das lernen die angehenden DDR-Juristen.
Dennoch bewahren sich die Juristen der Humboldt-Universität ein gewisses Maß an Eigensinn. Mit den Lockerungen nach Stalins Tod wagen sich einige von ihnen zu Ende der 1950er Jahre aus der Deckung. Sie wollen darüber diskutieren, was sozialistisches Recht ist, und stellen die direkte Verbindung von Marxismus-Leninismus und Rechtswissenschaft in Frage. Die Diskussionen werden unterbunden; die beteiligten Juristen erhalten Hausverbot und müssen sich in Parteiverfahren verantworten. Studenten werden wegen "politischer Hetzreden" exmatrikuliert. Publikationen dürfen nicht erscheinen, weil sie nicht den "richtigen Klassenstandpunkt" enthalten. Wieder flüchten etliche Mitglieder der juristischen Fakultät in den Westen. Die verbleibenden haben ihre Lektion gelernt und sind "auf Linie" gebracht. Mit Erschrecken konstatiert Markovits die "Eilfertigkeit, mit der die ostdeutsche Juristenelite ihrer Erniedrigung durch Ulbricht beipflichtete und sie durch Applaus und Zwischenrufe noch unterstützte".
Nach dem Mauerbau 1961 sind die Humboldt-Juristen ebenso wie der Rest der Bevölkerung vollends in der Hand der Partei. Sie gelten zwar als besonders linientreu, werden aber durch ein dichtes Netz von Parteikadern und Stasi-Spitzeln kontrolliert. Ideologisch "richtiges" Denken und Handeln wird eingefordert, eigenständiges Denken systematisch unterbunden. Meinungsvielfalt gilt selbst bei harmlosen Themen als gefährlich, zumal sich die oberste Parteiführung auch in kleinste Fragen einmischt und ihre Allmacht demonstriert. Insbesondere in den 1980er Jahren versuchen sowohl Juraprofessoren als auch Studenten sich zunehmend von den ideologischen Einflüssen in der juristischen Fachausbildung zu befreien und politische Vorgaben zu unterlaufen.
Markovits macht in ihrem gut lesbaren Buch deutlich, welche Folgen Einschüchterung, Disziplinierung, Repressalien und Kontrolle auf der einen Seite zeitigen und wie auf der anderen "die Normalität des Rechtsgebrauchs" zu einer wachsenden Verrechtlichung führt, was im Fall der DDR jedoch nicht mit dem Rechtsstaat verwechselt werden sollte.
ANNA KAMINSKY
Inga Markovits: Diener zweier Herren. DDR-Juristen zwischen Recht und Macht.
Christoph Links Verlag, Berlin 2020. 239 S., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ohne Zorn und Eifer entdeckt sie Unterdrückung und Parteilichkeit, aber auch Normalität. Rolf Lamprecht, Süddeutsche Zeitung Markovits macht in ihrem gut lesbaren Buch deutlich, welche Folgen Einschüchterung, Disziplinierung, Repressalien und Kontrolle auf der einen Seite zeitigen und wie auf der anderen Seite »die Normalität des Rechtsgebrauch« zu einer wachsenden Verrechtlichung führt. Anna Kaminsky, Frankfurter Allgemeine Zeitung Sie hat mit diesem Buch noch deutlicher als bisher ein faires juristisches Bild der DDR gezeichnet, mit dem man künftig im Osten und Westen Deutschlands wohl gemeinsam wird leben können. Uwe Wesel, Frankfurter Allgemeine Zeitung Inga Markovits ist ein Glücksfall für dieses Thema. Kathrin Gerlof, neues deutschland Markovits' Texte funkeln wie Sterne. Adrian Schmidt-Recla, H-Soz-Kult