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Grausam und groß: Der niederländische Autor Tommy Wieringa schickt Flüchtlinge durch ein verrätseltes Osteuropa
Es gibt Erzählungen, in denen die Not, so paradox das klingt, etwas Schönes und Romantisches hat - bei John Steinbeck etwa oder auch bei Arno Schmidt kann das passieren. Im neuen Roman des Niederländers Tommy Wieringa ist die Not nackte Not, sie ist so blank wie die Füße eines auf der Flucht an Entbehrung - ja, man muss sagen: Verreckten, - dem ein anderer die Schuhe klaut, damit er selbst noch eine Chance hat, nicht so bald zu verrecken.
Von den dreizehn ausgezehrten Gestalten, die hier durch die Steppe irren, um ein besseres Land zu erreichen, werden längst nicht alle überleben, was mitunter auch schon durch zynische Kapitelüberschriften aus einem furchtbaren Lied signalisiert wird ("Da waren's nur noch fünf"). Es begegnen in diesen Überschriften und im Text aber auch Bezüge auf das Alte Testament sowie weitere religiöse und philosophische Schriften. Der Romantitel spielt auf eine Stelle im 2. Buch Mose an: "Dies sind die Namen der Söhne Israels, die mit Jakob nach Ägypten kamen", heißt es dort. Es wird also von Beginn an eine Analogie zum Exodus der Israeliten und zu ihrem Weg ins Gelobte Land eröffnet. Und doch heißt es über die modernen Flüchtlinge, von denen in diesem Roman erzählt wird, schon bald nach ihrem Aufbruch: "Sie waren Niemande geworden." Solche Kollisionen von mythischer Hoffnung und harter Realität erzeugt Wieringa immer wieder. Damit wird, obwohl die Handlung vage in einer postsowjetischen Gegenwart östlich der Karpaten angesiedelt ist, das überzeitliche Flüchtlingsthema auf ambivalente, zur Deutung auffordernde Weise intertextuell überhöht, so wie es sich für große Literatur ziemt.
Und Wieringas Buch kann man durchaus als solche bezeichnen, es ist weit mehr als ein plump moralisierendes Pamphlet zur Zeit in Romanform, es ist eine in mehrfacher Hinsicht rätselhafte Geschichte.
Sie hat zwei Hauptstränge: Parallel zur Wanderschaft der Flüchtlinge erzählt der Roman von einem ziemlich sesshaften Menschen in der fiktiven Stadt Michailopol, einem Polizisten namens Pontus Beg, der sich mit einem durchweg korrupten System einigermaßen arrangiert hat und sich durchs Leben wurstelt. Mit seiner Haushälterin, die mit einem naturgemäß oft abwesenden Lastwagenfahrer verlobt ist, pflegt er ein Bratkartoffelverhältnis. Die Schilderung dieses Herrn Beg (der außerdem einen Tinnitus hat, den "ein musizierender Zigeuner, den er einmal festgenommen hat, für den Ton B hielt") und seiner miesen Beamtenwelt hat bisweilen etwas Komödiantisches, dann aber auch Deprimierendes - jedenfalls dämmert es diesem Mann gerade, dass sich die Welt im Niedergang befindet. Angeregt durch einen Kollegen, beginnt er sich zunächst mit den Lehren des Konfuzius zu beschäftigen. Doch dann dämmert ihm nach der schicksalhaften Begegnung mit einem Rabbi etwas, das sein Dasein viel tiefgreifender verändert: nämlich dass er womöglich von einer Jüdin abstammt.
So seltsam die Kombination der beiden Geschichten zunächst anmuten mag - es gelingt dem Autor tatsächlich, die Stränge zusammenzuführen, allerdings auf unerwartet grausame Weise. Denn Pontus Beg bekommt schließlich noch einen Mordfall zu lösen. Die wenigen, die den Treck überlebt haben, finden in der Heimat des Polizisten mitnichten ihr gelobtes Land, und wie man in Rückblicken mit durcheinandergebrachter Chronologie erfährt, sind diese Menschen sich unterwegs auch bei weitem nicht nur zum Helfer in der Not, sondern zum Wolf geworden. Die Erzählung, wie einer von ihnen, ein Äthiopier, der einen noch viel längeren Fluchtweg auf sich genommen und jemandem das Leben gerettet hatte, schließlich von ihnen auf das schlimmste betrogen wird, nimmt einem buchstäblich die Luft und steht wiederum in einem merkwürdigen Kontrast zu den intertextuellen Bezügen zur Heilsgeschichte, die dem Roman eingeschrieben sind.
Dieses Buch ist überaus düster, es stellt die Güte des Menschen ebenso grundsätzlich in Frage wie die vermeintliche Errungenschaft der Zivilisation. Dass es trotzdem mit einem religiös aufgeladenen Kapitel der Hoffnung unter der Überschrift "Kleiner Moses" endet, macht seine Rätselhaftigkeit noch einmal größer.
JAN WIELE.
Tommy Wieringa: "Dies sind die Namen". Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2016. 270 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
"(...) Kollisionen von mythischer Hoffnung und harter Realität erzeugt Wieringa immer wieder. Damit wird (...) das überzeitliche Flüchtlingsthema auf ambivalente, zur Deutung auffordernde Weise intertextuell überhöht, so wie es sich für große Literatur ziemt. (...) Dieses Buch ist überaus düster, es stellt die Güte des Menschen ebenso grundsätzlich in Frage wie die vermeintliche Errungenschaft der Zivilisation. Dass es trotzdem mit einem religiös aufgeladenen Kapitel der Hoffnung unter der Überschrift 'Kleiner Moses' endet, macht seine Rätselhaftigkeit noch einmal größer." Jan Wiele, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.12.16
"Ein großer welthaltiger Roman in ebenso einfacher wie poetischer Sprache." Ellen Pomikalko, BuchMarkt, November 2016
"Der Roman kann also kein Kommentar über die jetzige Lage sein. Er beschäftigt sich aber sehr wohl mit der Spaltung der Welt in eine erste und eine dritte, mit den ungleich verteilten Chancen. Er betrachtet die Frage, wie Menschen sich diese Erde teilen, unter dem moralischen Aspekt." Cornlia Geissler, Frankfurter Rundschau, 21.10.16
"Wieringa erzählt konzentriert und ohne Hast. (...) Eine lohnenswerte Lektüre. (...) Es ist ein unmittelbarer, harter Sound, der die Seiten durchzieht und der Schluß ist von Kafkascher Trostlosigkeit, über die man fast bitter lachen möchte, wenn nicht doch ein Lichtstrahl von Hoffnung durchdringen würde." René Zucker, rbb inforadio - quergelesen, 17.07.16
"So entpuppt sich 'Dies sind die Namen' weniger als Roman über Flucht und Exil in Zeitalter der weltweiten Migration denn vielmehr als religionsphilosophische Parabel über die Verlorenheit des Menschen unter einem leeren Himmel und seine verzweifelte, mitunter auch abwegige Suche nach Geborgenheit in einem höheren Sinn. Aus lauter wiedererkennbaren heutigen Realitätspartikeln baut Tommy Wieringa sein anspruchsvolles Denkgebäude, das auf archaische Rituale zurückgreift und weit mehr im Sinn hat, als mit den täglichen Weltnachrichten in literarische Konkurrenz zu treten." Sigrid Löffler, rbb kulturradio, 01.08.16
"Mit 'Dies sind die Namen' hat er überraschend schnell einen Roman zur Flüchtlingskrise geschrieben, der die Themen Migration, Identität und Glaube in John Steinbeck'scher Qualität behandelt. (...) Der Stärke der Charaktere tut die Namenlosigkeit keinen Abbruch, sie unterstreicht vielmehr die universelle Kraft des Romans. Dazu kommt Wieringas Sprache, übertragen von Bettina Bach: Trotz der menschlichen Tragödien ist sie zurückgenommen und unaufgeregt. Alles ist sanft und weise und hart und hässlich. Hier koexistieren Gott und Wolf." Marten Hahn, Deutschlandradio Kultur, 03.08.16
"(...) wie großräumig Tommy Wieringa das zentrale Thema dieses Romans, den Exodus, angelegt
hat: Er bettet es in einen großen Bogen von der Flucht der Juden aus Ägypten bis zur aktuellen Migrationswelle. (...) Es ist eine Geschichte von großer emotionaler Fallhöhe, die, auch wenn sie am Ende einen Hauch von Zuversicht atmet, von Wieringa mit nüchterner, bisweilen sogar grausam anmutender Illusionslosigkeit erzählt wird." Bruno Jaschke, Wiener Zeitung extra, 27.08.16
"Ein bewegender Roman über Migration als Urmotiv der Menschheit. (...) 'Dies sind die Namen' ist ein zeitloser Text über die Sehnsucht nach einer Identität und einem besseren Leben. Eine Reflektion über die Fähigkeit des Menschen dem Leben auch unter widrigsten Bedingungen einen Sinn abzuringen." Mareike Ilsemann, WDR 5 Bücher, 03.09.16
"Tommy Wieringa ist ein begnadeter Schriftsteller. Er verzaubert den Leser mit seiner geschliffenen Bildsprache und einer intelligenten Komposition, die dieses ernste Thema tiefgründig analysiert. Ein absolut lesenswerter Roman." Andreas Gebbink, Neue Ruhr Zeitung, 21.09.16
"Ein aktuelles Thema, meisterhaft erzählt mit wunderbar leichtem Humor." Südwest Presse, 18.10.16