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Von der Absicht, nie so zu werden wie die eigenen Eltern - und der Erkenntnis, dass das meist nicht klappt: Richard Russos Roman "Diese alte Sehnsucht" liest sich wie das Buch zu einem Film, den man schon oft gesehen hat.
Zwei Hochzeiten, zwei Todesfälle: zwei Anlässe, die Griffin, die Hauptfigur dieser Geschichte, im Abstand eines Jahres zweimal nach Cape Cod und damit an besondere Erinnerungsorte an der Küste von Neuengland führen. Beim ersten Mal, als er zum Hochzeitsfest der besten Freundin seiner Tochter fährt, führt er im Kofferraum die Asche seines Vaters im Gepäck, beim zweiten Mal, als dann die Tochter selbst heiratet, die Asche seiner Mutter. Beide Male sucht er nach der passenden Gelegenheit, die letzten Überreste seiner Eltern an einem würdevollen Ort in Wind und Wellen zu zerstreuen - um so zugleich die Lasten der Erinnerung an sie, die ihn seit langem niederdrücken, endlich loszuwerden. Doch beide Male kommt andauernd irgendwas dazwischen, so dass der Weg in die Befreiung von der Bürde des Vergangenen, den er verzweifelt sucht, nur immer mehr in stärkere Verstrickung mit dessen Hinterlassenschaften führt. Nicht nur eine vage, alte Sehnsucht, sondern auch die ganz konkrete Macht des Alten halten Griffin fest im Bann.
Streng symmetrisch ist Richard Russos neuer Roman komponiert und insgesamt viel schlanker angelegt als seine herrlich ausufernden Vorgänger wie "Im Schatten des Vaters" oder "Empire Falls", wofür er vor acht Jahren mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde. Verglichen mit solchen früheren Titeln, episch breiten Familien-Panoramen von zugleich psychologischer Feinarbeit in der Figurenzeichnung, wirkt "Diese alte Sehnsucht" wie ein schlichtes Kammerspiel, das sich an vielen Stellen gleichwohl nach der großen Form sehnt, die ihm mehr Raum für alle Weiterungen der Geschichte bieten würde, denen es eigentlich nachgehen will. Im Grunde auf die Gegenwart der beiden Hochzeitsfeste fokussiert, schweifen Erzählung und Erinnerung beständig weit umher und ziehen, ausgelöst jeweils von unscheinbaren Anstößen, große Schleifen durch lebenslange Vorgeschichten und Beziehungsdramen, die nunmehr kulminieren. Auf diese Weise entwirft auch dieser Roman eine ausgewachsene Familiensaga, von der wir aber immer nur in kleinen Ausschnitten erfahren, was später sich als Puzzleteil in ein Gesamtbild fügt.
Griffin geht hart auf die sechzig zu, lehrt mit leidlichem Erfolg an einem angesehenen Neuengland-College, führt eine Ehe, die trotz mancher Anfechtung bislang stabil geblieben ist, und wird doch immer deutlicher von dem Gefühl geplagt, dass sich sein Leben unbedingt bald gründlich ändern muss. Jahrzehntelang hat Griffin hart daran gearbeitet, dem Lebensentwurf seiner zank- und dünkelhaften Eltern zu entkommen, nur um beim Tod des Vaters mit Schrecken und Ernüchterung feststellen zu müssen, wie sehr seine eigene Existenz schon längst der ihren gleicht. Nun träumt er davon, alles anders zu machen, an seine jungen, wilden Jahre als Drehbuchautor in L.A. aufs Neue anzuknüpfen, noch einmal so richtig was zu reißen und vielleicht endlich auch den großen, ernsthaften, erschütternden Roman zu schreiben, an dem er seit langem laboriert. Stattdessen jedoch fährt er mit der Urne seines Vaters durch die Küstenlandschaft seiner Kindheit und muss andauernd Anrufe der Mutter abwehren, die Instruktionen zu deren passender Entsorgung geben will.
Im ersten Teil des Romans gelingt Russo fast immer eine wunderbar schwebende Balance zwischen der melancholischen Grundstimmung der Hauptfigur und den skurrilen Szenen, in denen sie sich wiederfindet und die sie mit diskreter Komik durchsteht. Besonders eindringlich sind die Passagen, wenn Griffin mit der Mutter um seine Erinnerungen an einen Ferienfreund aus späten Kindertagen ringen muss, dem er in seinen literarischen Versuchen ein Denkmal setzen will und der sich, wie es mittlerweile scheint, als Sehnsuchtsfiktion und Produkt frühpubertärer Phantasie herausstellt. Auch Dirk van Gunsterens subtile Übersetzungskunst wird hier besonders schön gefordert und läuft zu großer Leistung auf, wenn Russos Mittelklasse-Realismus in das Changieren zwischen Wehmut, Phantasie und Witz unmerklich übergeht.
Im zweiten Teil aber wechselt Russo die Register. Die Handlung spitzt sich zu, kippt im Finale ganz in die Klamotte und bietet nur noch Slapstick und Klamauk. Gerade wer den strengen Aufbau des Romans, in dem sich alles strikt die Waage halten soll, ansonsten schätzt, wird umso mehr bedauern, dass einem derart versierten Erzähler zum Ende leider jeder Sinn für Proportion abgeht.
TOBIAS DÖRING
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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