In der Debatte über den Aufstieg nationalistischer und illiberaler Parteien ist ein altes Gespenst wieder aufgetaucht – das Gespenst der liberalen Kosmopoliten: gut ausgebildete, international vernetzte Wissenschaftlerinnen, Journalisten oder Politikerinnen, die sich gegenseitig ihrer moralischen Überlegenheit versichern. Die Kluft zwischen Kosmopolitinnen und heimatverbundenen Kommunitaristen gilt als einer der zentralen Konflikte unserer Zeit.
Eine zutreffende Diagnose? Oder ist die Vorstellung von entwurzelten liberalen Eliten bloß ein Zerrbild? Der Psychoanalytiker und Publizist Carlo Strenger kennt diese Gruppe nur allzu gut: weil er selbst zu ihr gehört – und aus dem Alltag seiner therapeutischen Praxis. Anhand einschlägiger soziologischer Literatur verallgemeinert er seine Befunde. Ja, so die selbstkritische Einsicht, die liberalen Eliten sind oft zu arrogant. Und dennoch brauchen wir ihre Expertise. Strenger schließt mit einem doppelten Plädoyer: für mehr Bodenständigkeit unter den liberalen Kosmopolitinnen und eine liberal-kosmopolitische Grundausbildung für alle.
Eine zutreffende Diagnose? Oder ist die Vorstellung von entwurzelten liberalen Eliten bloß ein Zerrbild? Der Psychoanalytiker und Publizist Carlo Strenger kennt diese Gruppe nur allzu gut: weil er selbst zu ihr gehört – und aus dem Alltag seiner therapeutischen Praxis. Anhand einschlägiger soziologischer Literatur verallgemeinert er seine Befunde. Ja, so die selbstkritische Einsicht, die liberalen Eliten sind oft zu arrogant. Und dennoch brauchen wir ihre Expertise. Strenger schließt mit einem doppelten Plädoyer: für mehr Bodenständigkeit unter den liberalen Kosmopolitinnen und eine liberal-kosmopolitische Grundausbildung für alle.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.06.2019Ausgezogen aus der Herkunftswelt
Nur nicht so herablassend: Carlo Strenger liest den liberalen Eliten die Leviten
Vor kurzem meinte der amerikanische Sozialphilosoph Michael Walzer in einem Interview, "dass die Motivation vieler Trump-Unterstützer weniger ökonomisch grundiert ist als durch Verbitterung darüber, von den Liberalen als Hinterwäldler behandelt zu werden" (F.A.Z. vom 6. Juni). Wer das Gleiche aus einer authentischen Quelle erfahren will, kann es in der "Hillbilly-Elegie" von J. D. Vance nachlesen, dem Buch eines Autors, der es als Investmentbanker "geschafft" hat, aber seinem Herkunfts-Milieu in Zuneigung verbunden blieb.
Carlo Strenger, Psychotherapeut und Kolumnist der liberalen israelischen Tageszeitung "Haaretz", teilt Walzers und Vances Einschätzung: Weil die liberalen Kosmopoliten "all jene verächtlich gemacht (haben), die anderer Meinung sind, und sie als dumm, indoktriniert und obrigkeitshörig" ansehen, hätten sie deren "Sympathien und Wählerstimmen verspielt". In seinem Buch versucht er zu zeigen, wer diese "verdammten liberalen Eliten" sind und warum sie dennoch gebraucht werden.
Strenger hält sich dabei weitgehend an die inzwischen fast kanonisierte Unterscheidung zwischen "Anywheres" und "Somewheres". Erstere, ein Viertel bis ein Drittel der Bevölkerung in der westlichen Welt, sind die gut ausgebildeten Gewinner der Globalisierung, zu denen sich Strenger selbst zählt. Sie sind pro-europäisch eingestellt, gegen Nationalismus und für offene Grenzen. Die ortsgebundenen "Somewheres" dagegen identifizieren sich nolens volens mit Lebensstil und Kultur ihrer Herkunftsregion; tätig sind sie meist im niedrig qualifizierten Dienstleistungssektor, oft sind ihre Jobs durch Globalisierungsfolgen wie etwa die Migration gefährdet.
Allerdings behauptet Strenger, dass auch bei den "Anywheres" nicht alles Gold sei, was glänzt. Diese Eliten seien leistungsfixiert und harter Konkurrenz in einem Milieu und in Branchen ausgesetzt, die sich schnell verändern. Da sie aus ihrer Herkunftswelt ausgezogen seien, lockerten sich alte Bindungen zunehmend, wegen ihrer Ortlosigkeit falle es ihnen schwer, neue stabile Bindungen aufzubauen.
Um das zu illustrieren, schildert Strenger fünf Fälle aus seiner psychotherapeutischen Praxis, ein Kapitel, das mehr als ein Drittel des Buches füllt. Dabei kommen allerdings individuelle Traumata und Neurosen zutage, die weniger mit der Globalisierung als mit persönlichen Konflikten zu tun haben - beispielsweise dem Problem eines gläubigen Katholiken mit seiner Homosexualität. Andere Lebensprobleme sind von jeher typisch für Geschichten von Aufsteigern, die sich ihrer Familie oder Klasse, ihrer Heimat oder alten Überzeugungen entfremdet haben. Man fragt sich, ob die Erfahrungswelt eines Psychotherapeuten da nicht ein schiefes Bild gibt, da er es mehr mit den problembeladenen "Anywheres" zu tun hat als mit den Glückspilzen unter ihnen.
Weil die "Anywheres" nicht nur die kreativen Leistungsträger der modernen Welt, sondern auch Verteidiger der "offenen Gesellschaft" sind, baut Strenger dennoch auf sie im Kampf gegen rechte Populisten à la Trump. Was er dieser Elite vorwirft, ist, dass sie das Bedürfnis der "Somewheres" nach Identität nicht verstehe, einen "Mangel an Empathie und Verständnis" für deren Verbundenheit mit lokalen, lang etablierten Traditionen aufweise, und darüber hinaus die "Neigung", jene, "die ihre aufgeklärten Ansichten nicht teilen, geringzuschätzen und runterzumachen".
Strenger sieht wohl, dass die Unterscheidung zwischen Populisten wie Trump oder Orbán und ihren mehr oder weniger berechtigte Zukunftssorgen hegenden Wählern zwar richtig ist, aber nicht weit führt: Wenn die Anführer attackiert werden, fühlen sich auch ihre Anhänger angegriffen. Was also ist zu tun? Ändern lassen sich tief eingefressene Ressentiments nicht so schnell. Dennoch empfiehlt er, weniger herablassend und arrogant zu sein; die Lügen der Anführer durch eigenes Fachwissen zu widerlegen; Probleme, die es wirklich gibt, nicht zu verniedlichen, etwa bei der Integration kulturfremder Migranten. Zweifellos ist das alles richtig, und diese Rezepte werden ja angewandt; durchschlagenden Erfolg haben sie bisher allerdings nicht gehabt - siehe Wahlergebnisse in Europa und Amerika.
Auch Strengers Aufruf, "die größtmöglichen Anstrengungen (zu) unternehmen, damit die Bevölkerungsmehrheit die Bürgertugenden und Kenntnisse erwirbt, die notwendig sind, um politischen Argumentationen folgen und ihre Stichhaltigkeit einschätzen zu können", wirkt im Zeitalter von "fake news" und Shitstorms etwas altbacken. Strenger selbst spricht am Ende seines Buches ein wenig resigniert von der Hoffnung, dass "das Pendel ... wieder zurückschwingt", freilich ohne zu wissen, wann das sein wird.
GÜNTHER NONNENMACHER
Carlo Strenger:
"Diese verdammten
liberalen Eliten". Wer sie sind und warum wir sie brauchen.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 172 S., geb., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nur nicht so herablassend: Carlo Strenger liest den liberalen Eliten die Leviten
Vor kurzem meinte der amerikanische Sozialphilosoph Michael Walzer in einem Interview, "dass die Motivation vieler Trump-Unterstützer weniger ökonomisch grundiert ist als durch Verbitterung darüber, von den Liberalen als Hinterwäldler behandelt zu werden" (F.A.Z. vom 6. Juni). Wer das Gleiche aus einer authentischen Quelle erfahren will, kann es in der "Hillbilly-Elegie" von J. D. Vance nachlesen, dem Buch eines Autors, der es als Investmentbanker "geschafft" hat, aber seinem Herkunfts-Milieu in Zuneigung verbunden blieb.
Carlo Strenger, Psychotherapeut und Kolumnist der liberalen israelischen Tageszeitung "Haaretz", teilt Walzers und Vances Einschätzung: Weil die liberalen Kosmopoliten "all jene verächtlich gemacht (haben), die anderer Meinung sind, und sie als dumm, indoktriniert und obrigkeitshörig" ansehen, hätten sie deren "Sympathien und Wählerstimmen verspielt". In seinem Buch versucht er zu zeigen, wer diese "verdammten liberalen Eliten" sind und warum sie dennoch gebraucht werden.
Strenger hält sich dabei weitgehend an die inzwischen fast kanonisierte Unterscheidung zwischen "Anywheres" und "Somewheres". Erstere, ein Viertel bis ein Drittel der Bevölkerung in der westlichen Welt, sind die gut ausgebildeten Gewinner der Globalisierung, zu denen sich Strenger selbst zählt. Sie sind pro-europäisch eingestellt, gegen Nationalismus und für offene Grenzen. Die ortsgebundenen "Somewheres" dagegen identifizieren sich nolens volens mit Lebensstil und Kultur ihrer Herkunftsregion; tätig sind sie meist im niedrig qualifizierten Dienstleistungssektor, oft sind ihre Jobs durch Globalisierungsfolgen wie etwa die Migration gefährdet.
Allerdings behauptet Strenger, dass auch bei den "Anywheres" nicht alles Gold sei, was glänzt. Diese Eliten seien leistungsfixiert und harter Konkurrenz in einem Milieu und in Branchen ausgesetzt, die sich schnell verändern. Da sie aus ihrer Herkunftswelt ausgezogen seien, lockerten sich alte Bindungen zunehmend, wegen ihrer Ortlosigkeit falle es ihnen schwer, neue stabile Bindungen aufzubauen.
Um das zu illustrieren, schildert Strenger fünf Fälle aus seiner psychotherapeutischen Praxis, ein Kapitel, das mehr als ein Drittel des Buches füllt. Dabei kommen allerdings individuelle Traumata und Neurosen zutage, die weniger mit der Globalisierung als mit persönlichen Konflikten zu tun haben - beispielsweise dem Problem eines gläubigen Katholiken mit seiner Homosexualität. Andere Lebensprobleme sind von jeher typisch für Geschichten von Aufsteigern, die sich ihrer Familie oder Klasse, ihrer Heimat oder alten Überzeugungen entfremdet haben. Man fragt sich, ob die Erfahrungswelt eines Psychotherapeuten da nicht ein schiefes Bild gibt, da er es mehr mit den problembeladenen "Anywheres" zu tun hat als mit den Glückspilzen unter ihnen.
Weil die "Anywheres" nicht nur die kreativen Leistungsträger der modernen Welt, sondern auch Verteidiger der "offenen Gesellschaft" sind, baut Strenger dennoch auf sie im Kampf gegen rechte Populisten à la Trump. Was er dieser Elite vorwirft, ist, dass sie das Bedürfnis der "Somewheres" nach Identität nicht verstehe, einen "Mangel an Empathie und Verständnis" für deren Verbundenheit mit lokalen, lang etablierten Traditionen aufweise, und darüber hinaus die "Neigung", jene, "die ihre aufgeklärten Ansichten nicht teilen, geringzuschätzen und runterzumachen".
Strenger sieht wohl, dass die Unterscheidung zwischen Populisten wie Trump oder Orbán und ihren mehr oder weniger berechtigte Zukunftssorgen hegenden Wählern zwar richtig ist, aber nicht weit führt: Wenn die Anführer attackiert werden, fühlen sich auch ihre Anhänger angegriffen. Was also ist zu tun? Ändern lassen sich tief eingefressene Ressentiments nicht so schnell. Dennoch empfiehlt er, weniger herablassend und arrogant zu sein; die Lügen der Anführer durch eigenes Fachwissen zu widerlegen; Probleme, die es wirklich gibt, nicht zu verniedlichen, etwa bei der Integration kulturfremder Migranten. Zweifellos ist das alles richtig, und diese Rezepte werden ja angewandt; durchschlagenden Erfolg haben sie bisher allerdings nicht gehabt - siehe Wahlergebnisse in Europa und Amerika.
Auch Strengers Aufruf, "die größtmöglichen Anstrengungen (zu) unternehmen, damit die Bevölkerungsmehrheit die Bürgertugenden und Kenntnisse erwirbt, die notwendig sind, um politischen Argumentationen folgen und ihre Stichhaltigkeit einschätzen zu können", wirkt im Zeitalter von "fake news" und Shitstorms etwas altbacken. Strenger selbst spricht am Ende seines Buches ein wenig resigniert von der Hoffnung, dass "das Pendel ... wieder zurückschwingt", freilich ohne zu wissen, wann das sein wird.
GÜNTHER NONNENMACHER
Carlo Strenger:
"Diese verdammten
liberalen Eliten". Wer sie sind und warum wir sie brauchen.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 172 S., geb., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.07.2019Querfronten
der Verlierer
Cornelia Koppetsch und Carlo Strenger
über Rechtspopulismus und liberale Eliten
VON GUSTAV SEIBT
Dass der Aufstieg des Rechtspopulismus etwas mit der Globalisierung zu tun hat, ist kein neuer Gedanke. Am griffigsten hat ihn 2017 David Goodhart formuliert, als er die Unterscheidung von „Anywheres“ und „Somewheres“ einführte, die Differenz zwischen denen, deren Arbeits- und Kommunikationsfeld die ganze Welt ist, und den anderen, die auf vertraute Umgebungen, einen funktionierenden Nationalstaat mit Sozial- und Sicherheitsleistungen angewiesen sind.
Die „Anywheres“ sind vielsprachige Kosmopoliten, die ihren Laptop überall aufschlagen können, die als Kreative Vielfalt schätzen, Probleme weder mit migrantischen Kulturen noch mit neuen Geschlechterverhältnissen haben. Die Gegenseite erscheint dabei oft zurückgeblieben, ängstlich und undynamisch; es seien „Abgehängte“, meist einheimische, also weiße Männer aus sterbenden Industrien. Sie sind die Überlebenden des Entindustrialisierungsschubs seit den Siebzigerjahren. Das sei die Kundschaft der neuen Rechtsparteien, der Brexit-Bewegung, von Donald Trump.
Dass dieses Bild nicht vollständig ist, fällt allerdings auch schon länger auf: Parteien wie die AfD, der Front National oder die italienische Lega sind voll mit Bildungsbürgern, kleinem Mittelstand, auch Wohlhabende fehlen nicht. Die Sache ist also komplizierter. Die Darmstädter Soziologin Cornelia Koppetsch publiziert nun den in deutscher Sprache bisher ambitioniertesten Versuch, den Rechtspopulismus mit einer Gegenwartsdiagnose zu verbinden. Das Buch ist sehr hilfreich, selbst wenn man nicht jede einzelne Beobachtung schlüssig findet (die meisten sind es). Es bietet seinen Lesern präzise Kriterien, ihren eigenen Ort in dem großen Bild zu suchen. Damit leistet Koppetsch einen unschätzbaren Beitrag zur Öffnung des Gesprächs. Koppetsch wirkt oft unparteilich bis zur Kälte; den die Atmosphäre vergiftenden Moralismus vermeidet sie nach Kräften, und das gibt am Ende auch ihren Beobachtungen zu der Entzivilisierung, die mit dem Rechtspopulismus einhergeht, gehörige Wucht.
Auch Koppetsch versteht den Rechtspopulismus als Antwort auf die nicht bewältigte Globalisierung. Er sei eine Protestbewegung, vergleichbar dem linken Protest von 1968. Vergleichbar heißt hier auch charakteristisch anders: Linke Protestbewegungen kämen aus aufsteigenden, im Aufstieg blockierten Gruppen, die Anhänger rechter Protestbewegungen überwiegend aus sozial absteigenden Gruppen. Die einen drängen auf Öffnung, die anderen auf Schließung. „Öffnung“ ist ein Prozess nach innen wie nach außen. Die Öffnung zu neuen Lebensformen, Geschlechterrollen, für Eingewanderte, geht spätestens seit 1989 einher mit der Öffnung von Grenzen für Warenströme, internationale Arbeitsteilung, einen globalen Wirtschaftsraum.
Die kulturell liberale Linke mag noch so oft den „Neoliberalismus“ verdammen, strukturell ist sie mit ihm verbündet, das ist eine der erfrischend unwillkommenen Nachrichten von Koppetsch. Leistungsbereite, berufstätige Frauen der westlichen Wohlstandszonen etwa verlassen sich gern auf migrantische weibliche Haushaltskräfte, die aus dem globalen Prekariat stammen. Den Zusammenhang von linkem Protest und sozialer Entformalisierung mit den Bedürfnissen einer konsumistischen Wirtschaft hatte übrigens Panajotis Kondylis schon kurz nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation ausbuchstabiert.
Koppetschs wichtigste Feststellungen betreffen zwei Grundtatsachen. Der soziale Raum, in dem die neuen Kämpfe stattfinden, reicht über die Container der Nationalstaaten, in denen sich die Industriemoderne abspielte, hinaus; es geht um einen globalen Klassenkampf. Längst gibt es ein globales Unten, ein weltweites Dienstleistungsprekariat. Und zweitens handelt es sich bei diesem Konflikt immer auch um Kulturkämpfe. Beides zusammen konstituiert neue Fronten und begünstigt unerwartete Koalitionen. Es geht weniger als oft geglaubt um materielle Deklassierung, viel mehr um kulturelle Verlusterfahrungen. So wird das auch humanistische, oft national kodierte hochkulturelle Bildungswissen in der global verflüssigten, digital vernetzten Aufmerksamkeitsökonomie radikal entwertet. Ein Kanon versinkt, ein neuer ist nicht in Sicht, dafür aber tausend Trends. Nicht nur industrielles Kapital wird verschrottet, sondern auch kulturelles. (Dass Koppetsch starke Anleihen bei Pierre Bourdieu macht, ist konsequent.)
Dabei entstehen neue Bündnisse, die sich kaum auf gemeinsame Klassenlagen zurückführen können, von entmachteten Eliten, enttäuschten Familienvätern, altmodischen Gebildeten, Ostdeutschen mit entwerteten Biografien beispielsweise. Die Beschreibung der Vielfalt rechtspopulistischer Motive ist Koppetschs wichtigste Leistung; pauschale moralische Verdammungen fallen danach deutlich schwerer. Umgekehrt ist ihre Schilderung der Gegenseite ziemlich unnachsichtig. Hier lohnt ein längeres Zitat zu den neuen Eliten, auch als Stilprobe: „Das postindustrielle Bürgertum kultiviert entgegen seiner vor sich hergetragenen Nonchalance ein Maximum an zivilisatorischer Selbstbindung. Dabei hat es entgegen dem von ihm selbst gepflegten Selbstbild, sozial inklusiv zu sein, ein historisch nahezu unübertroffenes Niveau an Exklusivität erlangt. Lebenslanges Lernen, der Konsum schier unerschöpflicher Mengen von Wissens- und Kulturgütern, Kodeverfeinerungen und die permanente Optimierung aller Lebensvollzüge ist der Preis, den die Privilegierten für ihre Zugehörigkeit zu entrichten haben. Weniger begünstigte Milieus, die vor dem Hintergrund dieser avancierten Standards als weniger kultiviert, weniger gesundheitsbewusst und weniger selbstdiszipliniert erscheinen, werden von den Mitgliedern des postindustriellen Bürgertums intuitiv aussortiert und wirkungsvoll daran gehindert, in die Machtzentren aufzuschließen.“
Mit einem breiten Bataillon von Begriffen beackert Koppetsch ihr Feld. Auf die beunruhigenden globalen Öffnungen antworten diejenigen, die nicht mitkommen wollen, mit Tribalisierung, also Stammesbildung in Ressentimentgemeinschaften (Koppetsch spricht von „Neogemeinschaften“, um deren Künstlichkeit zu konturieren), mit einem nichtinklusiven Heimatbegriff, mit alternativen Wahrheiten und geschlossenen Kommunikationskreisen.
Koppetsch nennt ihr eigenes Verfahren „theoriegeleitete Empathie“. Vielleicht ist darum ihre Diagnose vom Klassencharakter des so locker daherkommenden Weltbürgertums so unnachsichtig, denn sie schreibt ja selbst als ein Mitglied dieser Schicht, zu der natürlich auch die international vernetzte Wissenschaft gehört.
Diese globale Klasse sei, so Koppetschs brisanteste These, durch seine reale Exklusivität mitschuldig an Prozessen der Entzivilisierung, die derzeit viele so erschrecken. Dabei wird Norbert Elias ihr zweiter Hauptgewährsmann. Zivilisierung, so hatte es Elias beschrieben, ist ein Prozess von oben nach unten. Die höchsten Klassen vermitteln ihre Verfeinerungen an die nachrückenden, aufstiegswilligen unteren Klassen. Die damit einhergehenden Selbstzwänge und Affekthemmungen werden wirksam, solange sie belohnt werden. Dieser Zusammenhang sei heute zerrissen. Auf der einen Seite steht eine Kultur von Selbstoptimierung, Leistungsbereitschaft, Achtsamkeit, wählerischem Konsum, Arbeit als Selbstverwirklichung; auf der anderen erscheint all das als leeres Versprechen und hohle Lüge. Enthemmter Zorn kann ganz nüchtern als zurückgedrehte Zivilisierung begriffen werden.
Auf dieser anderen Seite stehen nicht nur die wenig gebildeten Prekären, sondern beispielsweise auch „Gelehrte, die den Anschluss an die Strukturen der Bologna-Universitäten wie auch an die globalen Aufmerksamkeitsökonomien verloren haben“. Mit solchen Passagen lädt Koppetsch jeden Leser zur Selbstprüfung ein: Wo stehe ich in solchen Gewinn- und Verlustkurven? Gerade für intellektuelle Berufe ist das Bild kaum weniger zwiespältig als überall sonst. Klassische Printjournalisten etwa sind wohl eher Verlierer als Gewinner im neuen digitalisierten Weltzustand.
Eine anschauliche Ergänzung zu solchen Diagnosen bietet Carlo Strengers kleine Brandschrift über die „verdammten liberalen Eliten“. Strenger, der als Psychoanalytiker arbeitet, zeigt an typisierten Fällen, unter wie viel Stress die weltläufige Oberschicht steht. Sie ist selbst ein „Stamm“, wenn auch ein großer – Strenger schätzt sie für die entwickelten Gesellschaften auf zwanzig bis dreißig Prozent der Bevölkerung, insgesamt auf zweihundert bis dreihundert Millionen Menschen. Möglich wurde ihre Vernetzung durch die neuen Kommunikationstechnologien; auch hier wird die Kontur einer transnationalen, nicht mehr in Schichten, sondern in Punkten und Flicken darstellbaren Klassengesellschaft sichtbar, die die weniger Globalisierten so beunruhigt.
Strengers Essay mündet in einen flammenden Appell an die Eliten, zu denen der Autor sich selbst zählt. Sein Rezept lautet umfassende Bildung. Man solle die Populisten angreifen, ohne ihre Wähler herunterzuputzen. Der Aufruf zur Bildung ist immer gut; allerdings müsste er mit einer schonungslosen Bestandsaufnahme heutiger Bildungsinstitutionen einhergehen, der freudlosen Bologna-Universität ebenso wie der in Empfindlichkeitskämpfen verstrickten Elite-Universitäten. Sehr begeisternd ist nicht, was sich gerade in den akademischen Institutionen der entwickelten Länder abspielt.
Bildend ist Koppetschs Buch, und zwar für das Publikum, das so etwas zu lesen vermag und dem auch ihr nüchterner Scharfblick gilt. Der Ärger, den es absehbar bei vielen auslösen wird, ist sehr befreiend.
Cornelia Koppetsch: Die Gesellschaft des Zorns. Rechtspopulismus im globalen Zeitalter. Transcript Verlag, Bielefeld 2019. 284 Seiten, 19,99 Euro.
Carlo Strenger: Diese verdammten liberalen Eliten. Wer sie sind und warum wir sie brauchen. Suhrkamp Verlag. Berlin 2019. 171 Seiten, 16 Euro.
Längst gibt es ein globales
Unten, ein weltweites
Dienstleistungsprekariat
Enthemmter Zorn kann nüchtern
als zurückgedrehte Zivilisierung
begriffen werden
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der Verlierer
Cornelia Koppetsch und Carlo Strenger
über Rechtspopulismus und liberale Eliten
VON GUSTAV SEIBT
Dass der Aufstieg des Rechtspopulismus etwas mit der Globalisierung zu tun hat, ist kein neuer Gedanke. Am griffigsten hat ihn 2017 David Goodhart formuliert, als er die Unterscheidung von „Anywheres“ und „Somewheres“ einführte, die Differenz zwischen denen, deren Arbeits- und Kommunikationsfeld die ganze Welt ist, und den anderen, die auf vertraute Umgebungen, einen funktionierenden Nationalstaat mit Sozial- und Sicherheitsleistungen angewiesen sind.
Die „Anywheres“ sind vielsprachige Kosmopoliten, die ihren Laptop überall aufschlagen können, die als Kreative Vielfalt schätzen, Probleme weder mit migrantischen Kulturen noch mit neuen Geschlechterverhältnissen haben. Die Gegenseite erscheint dabei oft zurückgeblieben, ängstlich und undynamisch; es seien „Abgehängte“, meist einheimische, also weiße Männer aus sterbenden Industrien. Sie sind die Überlebenden des Entindustrialisierungsschubs seit den Siebzigerjahren. Das sei die Kundschaft der neuen Rechtsparteien, der Brexit-Bewegung, von Donald Trump.
Dass dieses Bild nicht vollständig ist, fällt allerdings auch schon länger auf: Parteien wie die AfD, der Front National oder die italienische Lega sind voll mit Bildungsbürgern, kleinem Mittelstand, auch Wohlhabende fehlen nicht. Die Sache ist also komplizierter. Die Darmstädter Soziologin Cornelia Koppetsch publiziert nun den in deutscher Sprache bisher ambitioniertesten Versuch, den Rechtspopulismus mit einer Gegenwartsdiagnose zu verbinden. Das Buch ist sehr hilfreich, selbst wenn man nicht jede einzelne Beobachtung schlüssig findet (die meisten sind es). Es bietet seinen Lesern präzise Kriterien, ihren eigenen Ort in dem großen Bild zu suchen. Damit leistet Koppetsch einen unschätzbaren Beitrag zur Öffnung des Gesprächs. Koppetsch wirkt oft unparteilich bis zur Kälte; den die Atmosphäre vergiftenden Moralismus vermeidet sie nach Kräften, und das gibt am Ende auch ihren Beobachtungen zu der Entzivilisierung, die mit dem Rechtspopulismus einhergeht, gehörige Wucht.
Auch Koppetsch versteht den Rechtspopulismus als Antwort auf die nicht bewältigte Globalisierung. Er sei eine Protestbewegung, vergleichbar dem linken Protest von 1968. Vergleichbar heißt hier auch charakteristisch anders: Linke Protestbewegungen kämen aus aufsteigenden, im Aufstieg blockierten Gruppen, die Anhänger rechter Protestbewegungen überwiegend aus sozial absteigenden Gruppen. Die einen drängen auf Öffnung, die anderen auf Schließung. „Öffnung“ ist ein Prozess nach innen wie nach außen. Die Öffnung zu neuen Lebensformen, Geschlechterrollen, für Eingewanderte, geht spätestens seit 1989 einher mit der Öffnung von Grenzen für Warenströme, internationale Arbeitsteilung, einen globalen Wirtschaftsraum.
Die kulturell liberale Linke mag noch so oft den „Neoliberalismus“ verdammen, strukturell ist sie mit ihm verbündet, das ist eine der erfrischend unwillkommenen Nachrichten von Koppetsch. Leistungsbereite, berufstätige Frauen der westlichen Wohlstandszonen etwa verlassen sich gern auf migrantische weibliche Haushaltskräfte, die aus dem globalen Prekariat stammen. Den Zusammenhang von linkem Protest und sozialer Entformalisierung mit den Bedürfnissen einer konsumistischen Wirtschaft hatte übrigens Panajotis Kondylis schon kurz nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation ausbuchstabiert.
Koppetschs wichtigste Feststellungen betreffen zwei Grundtatsachen. Der soziale Raum, in dem die neuen Kämpfe stattfinden, reicht über die Container der Nationalstaaten, in denen sich die Industriemoderne abspielte, hinaus; es geht um einen globalen Klassenkampf. Längst gibt es ein globales Unten, ein weltweites Dienstleistungsprekariat. Und zweitens handelt es sich bei diesem Konflikt immer auch um Kulturkämpfe. Beides zusammen konstituiert neue Fronten und begünstigt unerwartete Koalitionen. Es geht weniger als oft geglaubt um materielle Deklassierung, viel mehr um kulturelle Verlusterfahrungen. So wird das auch humanistische, oft national kodierte hochkulturelle Bildungswissen in der global verflüssigten, digital vernetzten Aufmerksamkeitsökonomie radikal entwertet. Ein Kanon versinkt, ein neuer ist nicht in Sicht, dafür aber tausend Trends. Nicht nur industrielles Kapital wird verschrottet, sondern auch kulturelles. (Dass Koppetsch starke Anleihen bei Pierre Bourdieu macht, ist konsequent.)
Dabei entstehen neue Bündnisse, die sich kaum auf gemeinsame Klassenlagen zurückführen können, von entmachteten Eliten, enttäuschten Familienvätern, altmodischen Gebildeten, Ostdeutschen mit entwerteten Biografien beispielsweise. Die Beschreibung der Vielfalt rechtspopulistischer Motive ist Koppetschs wichtigste Leistung; pauschale moralische Verdammungen fallen danach deutlich schwerer. Umgekehrt ist ihre Schilderung der Gegenseite ziemlich unnachsichtig. Hier lohnt ein längeres Zitat zu den neuen Eliten, auch als Stilprobe: „Das postindustrielle Bürgertum kultiviert entgegen seiner vor sich hergetragenen Nonchalance ein Maximum an zivilisatorischer Selbstbindung. Dabei hat es entgegen dem von ihm selbst gepflegten Selbstbild, sozial inklusiv zu sein, ein historisch nahezu unübertroffenes Niveau an Exklusivität erlangt. Lebenslanges Lernen, der Konsum schier unerschöpflicher Mengen von Wissens- und Kulturgütern, Kodeverfeinerungen und die permanente Optimierung aller Lebensvollzüge ist der Preis, den die Privilegierten für ihre Zugehörigkeit zu entrichten haben. Weniger begünstigte Milieus, die vor dem Hintergrund dieser avancierten Standards als weniger kultiviert, weniger gesundheitsbewusst und weniger selbstdiszipliniert erscheinen, werden von den Mitgliedern des postindustriellen Bürgertums intuitiv aussortiert und wirkungsvoll daran gehindert, in die Machtzentren aufzuschließen.“
Mit einem breiten Bataillon von Begriffen beackert Koppetsch ihr Feld. Auf die beunruhigenden globalen Öffnungen antworten diejenigen, die nicht mitkommen wollen, mit Tribalisierung, also Stammesbildung in Ressentimentgemeinschaften (Koppetsch spricht von „Neogemeinschaften“, um deren Künstlichkeit zu konturieren), mit einem nichtinklusiven Heimatbegriff, mit alternativen Wahrheiten und geschlossenen Kommunikationskreisen.
Koppetsch nennt ihr eigenes Verfahren „theoriegeleitete Empathie“. Vielleicht ist darum ihre Diagnose vom Klassencharakter des so locker daherkommenden Weltbürgertums so unnachsichtig, denn sie schreibt ja selbst als ein Mitglied dieser Schicht, zu der natürlich auch die international vernetzte Wissenschaft gehört.
Diese globale Klasse sei, so Koppetschs brisanteste These, durch seine reale Exklusivität mitschuldig an Prozessen der Entzivilisierung, die derzeit viele so erschrecken. Dabei wird Norbert Elias ihr zweiter Hauptgewährsmann. Zivilisierung, so hatte es Elias beschrieben, ist ein Prozess von oben nach unten. Die höchsten Klassen vermitteln ihre Verfeinerungen an die nachrückenden, aufstiegswilligen unteren Klassen. Die damit einhergehenden Selbstzwänge und Affekthemmungen werden wirksam, solange sie belohnt werden. Dieser Zusammenhang sei heute zerrissen. Auf der einen Seite steht eine Kultur von Selbstoptimierung, Leistungsbereitschaft, Achtsamkeit, wählerischem Konsum, Arbeit als Selbstverwirklichung; auf der anderen erscheint all das als leeres Versprechen und hohle Lüge. Enthemmter Zorn kann ganz nüchtern als zurückgedrehte Zivilisierung begriffen werden.
Auf dieser anderen Seite stehen nicht nur die wenig gebildeten Prekären, sondern beispielsweise auch „Gelehrte, die den Anschluss an die Strukturen der Bologna-Universitäten wie auch an die globalen Aufmerksamkeitsökonomien verloren haben“. Mit solchen Passagen lädt Koppetsch jeden Leser zur Selbstprüfung ein: Wo stehe ich in solchen Gewinn- und Verlustkurven? Gerade für intellektuelle Berufe ist das Bild kaum weniger zwiespältig als überall sonst. Klassische Printjournalisten etwa sind wohl eher Verlierer als Gewinner im neuen digitalisierten Weltzustand.
Eine anschauliche Ergänzung zu solchen Diagnosen bietet Carlo Strengers kleine Brandschrift über die „verdammten liberalen Eliten“. Strenger, der als Psychoanalytiker arbeitet, zeigt an typisierten Fällen, unter wie viel Stress die weltläufige Oberschicht steht. Sie ist selbst ein „Stamm“, wenn auch ein großer – Strenger schätzt sie für die entwickelten Gesellschaften auf zwanzig bis dreißig Prozent der Bevölkerung, insgesamt auf zweihundert bis dreihundert Millionen Menschen. Möglich wurde ihre Vernetzung durch die neuen Kommunikationstechnologien; auch hier wird die Kontur einer transnationalen, nicht mehr in Schichten, sondern in Punkten und Flicken darstellbaren Klassengesellschaft sichtbar, die die weniger Globalisierten so beunruhigt.
Strengers Essay mündet in einen flammenden Appell an die Eliten, zu denen der Autor sich selbst zählt. Sein Rezept lautet umfassende Bildung. Man solle die Populisten angreifen, ohne ihre Wähler herunterzuputzen. Der Aufruf zur Bildung ist immer gut; allerdings müsste er mit einer schonungslosen Bestandsaufnahme heutiger Bildungsinstitutionen einhergehen, der freudlosen Bologna-Universität ebenso wie der in Empfindlichkeitskämpfen verstrickten Elite-Universitäten. Sehr begeisternd ist nicht, was sich gerade in den akademischen Institutionen der entwickelten Länder abspielt.
Bildend ist Koppetschs Buch, und zwar für das Publikum, das so etwas zu lesen vermag und dem auch ihr nüchterner Scharfblick gilt. Der Ärger, den es absehbar bei vielen auslösen wird, ist sehr befreiend.
Cornelia Koppetsch: Die Gesellschaft des Zorns. Rechtspopulismus im globalen Zeitalter. Transcript Verlag, Bielefeld 2019. 284 Seiten, 19,99 Euro.
Carlo Strenger: Diese verdammten liberalen Eliten. Wer sie sind und warum wir sie brauchen. Suhrkamp Verlag. Berlin 2019. 171 Seiten, 16 Euro.
Längst gibt es ein globales
Unten, ein weltweites
Dienstleistungsprekariat
Enthemmter Zorn kann nüchtern
als zurückgedrehte Zivilisierung
begriffen werden
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»Eine anschauliche Ergänzung [soziologischer Gegenwartsdiagnosen] bietet Carlo Strengers kleine Brandschrift über die verdammten liberalen Eliten.« Gustav Seibt Süddeutsche Zeitung 20190702