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Indien hat die Digitalisierung energisch vorangetrieben - aber es gibt noch reichlich Defizite
Die meisten Menschen hierzulande verbinden mit Indien den Subkontinent mit dem großen Potential an IT-Spezialisten und Callcentern, in die westliche Unternehmen aus Kostengründen auch komplexe Arbeitsprozesse auslagern. Die wenigsten denken dabei bis heute, dass es sich bei Letzteren um technisch und betriebswirtschaftlich hochgradig organisierte Einheiten in den Bereichen Kundendienst, Störungsberatung, Marketing und Meinungsforschung dreht. Noch weniger ist ihnen vielleicht bewusst, dass Indien mit einer Bevölkerung von 1,4 Milliarden Menschen heute über 800 Millionen Internetuser verfügt und das Land die Heimat der am schnellsten wachsenden Digitalwirtschaft der Welt ist. Mittlerweile ist dieser Wirtschaftszweig auf ein Volumen von nahezu einer Billion US-Dollar angewachsen. Mit einem erfolgreichen IT-Sektor, einem lebendigen Start-up-Ökosystem und hohen Investitionen auch deutscher Unternehmen ist Indien für viele OECD-Länder heute ein wichtiger und hochattraktiver Partner geworden.
Michael Homberg macht in seiner eindrucksvollen Darstellung des indischen Wegs in die digitale Unabhängigkeit seit 1947 deutlich, dass dieser vor allem bewussten Weichenstellungen im Prozess der Nationenbildung folgte. Besitz und Einsatz digitaler Technik verhießen dem Land von Beginn an nicht nur eine ökonomische Zukunft, sondern vor allem politische Unabhängigkeit im Zeitalter der ideologischen Blockkonkurrenz zwischen Ost und West. Die digitale Eigenentwicklung spielte daher eine wesentlich größere Rolle.
Es ist das Verdienst dieser Studie, diesen in euro- und US-zentrierten Narrativen bislang eher vernachlässigten Aspekt deutlich zu machen. Schon unter Nehru spielte die Datenerhebung zur Kontrolle einer rasant wachsenden Bevölkerung und zur Regulierung von Handel und Verwaltung eine zentrale Rolle. Datenakquise und mit ihr die Förderung der Computertechnik waren Voraussetzungen des Regierens und Basis einer neuen "Informationsordnung" und dienten vor allem der Modernisierung des Landes, wie sie über gezielte Ausbildungsprogramme der Computerwissenschaften (einschließlich der Entwicklung und des Ausbaus computerisierter Raketen- und Radarsysteme während der Grenzkriege mit dem Dauerrivalen China) seit Ende der 1950er-Jahre, die Förderung von IT-Services in den 1970er-Jahren und schließlich den Einsatz digitaler Computer und elektronischer Datennetze im Bereich des e-governments konsequent vorangetrieben wurden.
Allerdings verhinderte die bewusste Förderung der Digitalisierung nicht, dass das Land auch in diesem Bereich über Jahrzehnte ein Land der Gegensätze war und zumindest teilweise bis heute geblieben ist. Bis ins 21. Jahrhundert hinein bleibt die Ausbildung des Computer-Nachwuchses vor allem den Eliten des Landes vorbehalten. Über Jahrzehnte profitierten sie von Computerexperten, die nach Indien gekommen waren, bis sich die Wanderungsbewegung seit den 1970er-Jahren umkehrte und sie ihrerseits die Kontakte sowohl in die USA wie auch in die Sowjetunion nutzten, um ihre Hardwareressourcen zu akquirieren und technisches Know-how zu erweitern.
Erst seit 2015 hat die Regierung mit ihrer Leitinitiative "Digital India" das Ziel ausgegeben, das Land in eine digital geprägte Gesellschaft und eine wissensbasierte Wirtschaft zu verwandeln, die alle Schichten einschließt. Zu den wichtigsten Elementen dieser Kampagne zählt dabei die Einführung eines biometrischen Identitätssystems, das die Daten von mittlerweile 1,3 Milliarden Teilnehmern erfasst. Darüber hinaus trugen neben staatlichen Initiativen nunmehr auch preiswerte Mobilfunk-Datenangebote sowie die deutliche Aufstockung der Risikokapital- und Private-Equity-Finanzierung dazu bei, dass sich heute ein großer Anteil der indischen Bevölkerung Telefone und Daten leisten kann und die Internetdurchdringungsrate des Landes seitdem deutlich gestiegen ist.
Parallel zum Projekt der digitalen Durchdringung der Gesellschaft haben mit dem Internet und der digitalen Wirtschaft zusammenhängende Unternehmen an den indischen Börsen ebenfalls an Bedeutung gewonnen, was interessante Anlagemöglichkeiten eröffnet und den Gesamtmarkt diversifiziert. Immer mehr auch traditionellere Unternehmen setzen inzwischen auf Digitalisierung. Im Bankensektor werden digitale Dienste eingerichtet, über die Geschäftskunden sämtliche Leistungen aus einer Hand beziehen können. Sie sind damit auch eher in der Lage, Partnerschaften mit Finanztechnologieunternehmen einzugehen. Die Entwicklung einer einheitlichen Zahlungsschnittstelle (Unified Payment Interface - UPI) für Indien, die vom Bankensystem unterstützt und von der Reserve Bank of India reguliert wird, ermöglicht heute sofortige Überweisungen zwischen Bankkonten über eine mobile Plattform. Wie in den meisten anderen Ländern der Welt hat Covid-19 auch in Indien die Einführung des elektronischen Handels und digitaler Dienstleistungen in den Jahren 2020 und 2021 beschleunigt. Im Oktober 2021 wurden 4,2 Milliarden Transaktionen abgewickelt, was einem Anstieg von mehr als 100 Prozent gegenüber dem Vorjahr entsprach.
Dennoch, so das Fazit von Homberg, bleibt offen, ob das Land den Sprung zur digitalen Supermacht schafft. Zweifelsohne verfügt das Land heute über Computerspezialisten, die auch im internationalen Vergleich herausgehobene Positionen einnehmen. Noch immer aber arbeiten in Indien rund drei Viertel der Arbeiter in landwirtschaftlichen Betrieben oder in Jobs mit geringer Produktivität wie auf dem Bau oder in kleinen lokalen Geschäften ohne den Einsatz kontextbezogener Technologien. Löhne und Produktivität sind dementsprechend gering. Die digitalen Gräben sind nach wie vor vorhanden, und auch in der Ausbildung des Nachwuchses hinkt man qualitativ hinter der Konkurrenz in den USA und Europa hinterher.
Hinzu kommt ein anderer Aspekt: In Indien haben nationalistische Tendenzen seit 2014 zugenommen. Computerpioniere warnen vor einer Dominanz US-amerikanischer Firmen und zeichnen das Bild Indiens als einer "digital colony" des globalen Nordens. Einschränkungen von Pressefreiheit und von der Regierung veranlasste Internet-Shutdowns sind an der Tagesordnung. Indiens Haltung zu Fragen der digitalen Ordnung liegt damit oft näher an den Vorstellungen autoritärer Regime, wie auch die Auseinandersetzungen in den Foren der globalen Internet-Governance zeigen.
Im Rahmen der Vereinten Nationen wird seit vielen Jahren über Normen für Rechte und Pflichten der Staaten im digitalen Raum diskutiert, am intensivsten in der dazu eingerichteten Group of Governmental Experts (GGE). In diesem Zusammenhang erklärte Indien 2018, sich in Fragen der Cybersicherheit und gerade mit Blick auf den GGE-Prozess eng mit Russland abstimmen zu wollen. Vor diesem Hintergrund sieht der Autor die spannende Geschichte des digitalen Wegs Indiens in die Unabhängigkeit längst noch nicht abgeschlossen. STEFAN FRÖHLICH
Michael Homberg: Digitale Unabhängigkeit. Indiens Weg ins Computerzeitalter - eine internationale Geschichte.
Wallstein Verlag, Göttingen 2022. 581 S., 48,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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