Dass zum europäischen Faschismus und Nationalsozialismus, der wohl am meisten durchforschten Epoche der Weltgeschichte, fast 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bislang noch keine Gesamtdarstellung der europäischen Kollaboration mit dem Dritten Reich vorlag, kann mit Fug und Recht als großes, vielleicht sogar größtes Desiderat zu diesem historischen Problemkomplex angesehen werden. Klaus Kellmann hat sich der sensiblen Aufgabe gestellt, und er beschränkt sich nicht auf die Einzelanalysen aller 24 Staaten, die bis 1944/45 der deutschen Terrorherrschaft unterworfen waren. Im Schlusskapitel "Europäisches Gedächtnis und europäische Identität" bringt er seine Forschungsergebnisse in die Gestaltung des Europa von Morgen ein: Ohne schonungslose Aufarbeitung und Vergewisserung der Kollaboration mit dem Dritten Reich wird es kein gemeinsames europäisches Narrativ und keine gemeinsame europäische Erinnerungskultur geben – jenes große Projekt, mit dem die Geschichtswissenschaft auf dem Alten Kontinent in den nächsten Jahren und Jahrzehnten zentral und entscheidend befasst sein wird.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.11.2018Zuschauer
und Mittäter
Klaus Kellmann beschreibt die
vielgestaltigen Formen der Kollaboration
von Europäern mit dem NS-Staat
VON LUDGER HEID
Über Europa gibt es viele Geschichten zu erzählen. Einige sind noch nicht hinreichend zu Ende erzählt. Eine handelt von Kollaboration in Zeiten des Zweiten Weltkriegs, ein Begriff, dem das Odium des Verrats anhaftet. Es ist ein sensibler Problemkomplex, ein verstörendes Kapitel europäischer Geschichte. Vielleicht ist dies der Grund, warum bislang eine Gesamtdarstellung der europäischen Kollaboration mit Hitler-Deutschland fehlte. Klaus Kellmann hat nunmehr einen Gesamtüberblick vorgelegt, hat die unterschiedlichen Erscheinungsformen Staat für Staat in den Blick genommen, die ihren abscheulichsten Ausdruck zweifellos in der Beteiligung am Judenmord fand. Er hat damit eine klaffende historiografische Lücke geschlossen. Ein großer Wurf.
In Hitlers Kriegszielplanungen ist nicht auch nur im Ansatz irgendeine Erwägung, irgendein Kalkül von Zusammenarbeit mit den Menschen in den eroberten Territorien nachweisbar. In seinem Denken brauchte der Herrenmensch keine Helfer, und wenn er sich ihrer doch einmal bediente, dann verstand er dies als taktisches und temporäres Zugeständnis, das ihn zu nichts verpflichtete. Das Einzige, was Hitler interessierte, war, wie viele eigene Kräfte er durch den Einsatz von Personal des besetzten Landes an anderer Stelle für eigene Zwecke zur Verfügung hatte und wie er es am besten ausbeuten konnte.
Die Wirklichkeit an der Front sah indes anders aus. Hermann Göring, in seiner selbstherrlichen, anmaßenden und überheblichen Art, meinte im August 1942: „Ich mache keine Kollaboration. Kollaboration der Franzosen sehe ich nur in folgendem: Wenn sie abliefern, bis sie nicht mehr können, wenn sie es freiwillig tun, dann werde ich sagen, ich kollaboriere.“ Tatsächlich hat in der sieges- und zukunftssicheren Führungskamarilla der Partei niemand, am allerwenigsten Hitler selbst, auch nur einen Augenblick daran gedacht, einem Kollaborateur irgendeine Konzession, geschweige denn eine vertraglich fixierte Zusicherung zuzugestehen.
Ob erwünscht oder nicht, Hitler konnte sich der kollaborierenden Unterstützung der okkupierten Territorien sicher sein, ohne die das imperiale Deutschland nicht hätte bis vor die Tore Moskaus vordringen, nicht den größten Teil Europas mit seinen 180 Millionen Menschen in Schach halten können. „Jedem Unteroffizier, ja jedem Obergefreiten war klar, dass ein derart gigantisches Imperium ohne Mitwirkung der Einheimischen nicht regierbar war, mochten die da in Berlin denken, was sie wollten“, schreibt Kellmann. In einer Denkschrift vom Sommer 1943 hieß es: „Die Anhänger einer Verständigungspolitik mit Deutschland werden ausgenutzt, aber mehr oder weniger verächtlich behandelt. Es wird nichts getan, um ihren Einfluss zu stärken.“
Tatsächlich aber gab es eine Zusammenarbeit mit Behörden in den besetzten Gebieten, sodass es im weiteren Verlauf des Krieges zwischen den Vorgaben der Reichskanzlei und der Realität „im Feld“ ein eklatantes Missverhältnis gab. Die Kollaboration, die es in der offiziellen NS-Ideologie gar nicht gab, avancierte zum mitentscheidenden Instrument für die Unterwerfung Europas. Seit Sommer 1942 lief an keiner Front etwas ohne sie.
Die deutschen Okkupanten waren auf tätige Mithilfe in den besetzten Gebieten angewiesen – militärisch, polizeilich und administrativ. Und was den Judenmord betrifft, so fanden sich verblüffend viele bereitwillige Helfer bei der Deportation und Liquidierung der jüdischen Bevölkerung. Allen scheinbaren Beteuerungen zum Trotz war Hitler daran gelegen, die besetzten und verbündeten Staaten in die rassistische „Neuordnungspolitik“ tätig mit einzubeziehen, um diese damit auf Gedeih und Verderb an die deutsche Führungsmacht zu binden.
Im Artikel 45 der Haager Landkriegsordnung von 1907 ist dem Sieger untersagt, der besiegten Bevölkerung den Treueid abzunötigen, denn eine Loyalitätspflicht hat sie nur gegenüber der eigenen Nation, dem Eindringling gegenüber muss sie lediglich gehorsam sein. Mit dieser Ambivalenz und Asymmetrie ist der Kern aller späteren Kollaborationskonflikte benannt. Nach der Haager Ordnung stand der Besatzungsmacht auch der treuhänderische Nießbrauch am Eigentum des besiegten Staates zu. Um diese Bestimmung hat sich die deutsche Besatzungsmacht nirgendwo in Europa auch nur im Ansatz geschert – sie nahm sich, was sie wollte und was ihr nutzte.
Militärischer Gewalt unterworfene Menschen tun etwas, was sie eigentlich gar nicht tun wollen: Sie unterstellen sich einer Macht und Obrigkeit, und vollziehen damit einen Loyalitätswechsel. Das ist der Angelpunkt der Problematik.
Kollaboration ist immer eine Form der Zusammenarbeit, aber nie zwischen gleichberechtigten oder gleichrangigen Partnern. Deren Motive reichen vom subjektiv glaubwürdigen Versuch, die nationale Ehre zu retten, über die blanke Not, Hunger und Durst stillen zu können, bis hin zur flagranten kriminellen Bereicherung und der Mitwirkung am Menschenverbrechen. Die Spannweite konkreter Kollaborationstätigkeiten war und ist gekennzeichnet vom freiwilligen, gedungenen oder bezahlten Verrat, reichte bis hin zur Hausfrau, die sich mit dem Waschen der Wäsche von Wehrmachtssoldaten ein paar Francs, Zlotys oder Dinare hinzuverdiente. All das lief auf eins hinaus: Was dem eigenen Nutzen, Profit, Leben oder Überleben diente, stärkte gleichzeitig den Besatzer. Die scheinbaren Vorteile sind für den Kollaborateur dabei mit dem Stigma des Verrats behaftet und implizieren dadurch eine auch moralisch zu hinterfragende Verhaltensdisposition.
Kellmann unternimmt einen Definitionsversuch des Terminus Kollaboration, der als Kriterium den Kriegsverlauf ausmacht. Dabei war entscheidend nicht das Ob und Wie, sondern das Wann. Kollaboration hing demnach elementar davon ab, wie die Besetzten das Machtpotenzial der Besatzer einschätzten. Die Kollaborateure hatten das Ziel, aufseiten des Siegers zu sein. Kellmann versteht Kollaboration als einen komplexen, dynamischen Prozess, der sich von einem Moment zum anderen kriegsrelevant verändern konnte, und zwar für beide Seiten.
Auch nach der Kellmann’schen Lektüre bleibt Kollaboration ein vielschichtiges, äußerst diffiziles Phänomen, ein hochkomplexes Zusammenspiel aus den unterschiedlichsten Motiven, Kontexten und Konstellationen mit ständig wechselnden Akteuren, Profiteuren, Mittätern, Verfolgern und Bystanders, wie Raul Hilberg diejenigen genannt hat, die dabeistanden, die anwesend waren, ohne teilzunehmen. Das waren nicht allesamt Zuschauer. Viele sahen im Gegenteil nicht hin, sondern weg. Kurz: Kollaboration ist ein permanent changierender, nirgendwo einheitlicher Prozess. Was in Frankreich als selbstverständliche Hilfeleistung gegenüber dem Besatzer galt, war in Polen ein todeswürdiges Verbrechen, was einem Norweger lediglich als Servilität erschien, konnte für einen Serben Verrat bedeuten, wobei gerade bei diesem Begriff zwischen freiwilligem, bewusstem und begünstigtem oder aber erpresstem und mit Folter erzwungenem Verrat zu trennen ist. Da dem landläufigen Verständnis von Kollaboration bis heute die Verratskonnotation inhärent ist, vermag auch Klaus Kellmann das Wort nicht als neutrale, für die wissenschaftliche Analyse taugliche Vokabel zu buchstabieren.
Kellmann hat die Dimension der Mittäterschaft in 24 europäischen Staaten von Albanien – über neutrale Staaten wie Schweden und Schweiz – bis Ungarn in den Blick genommen. Sein opulentes Buch hat die „Europäisierung von Mitschuld“ zum Inhalt, jenseits jedweder Relativierung, Verlagerung oder Abschwächung von Ausmaß und Form nationalsozialistischen Terrors.
Das Thema Kollaboration in Europas Nachkriegsgeschichte ist überschattet von Leerstellen und Schweigen, hat Tony Judt 2006 festgehalten. Streng genommen ist das noch die positivere Variante. Viel häufiger wurde gelogen, verbogen, vertuscht und verfälscht bis hin zur Umwidmung übelster Kollaborateure zu ehrenhaften Widerstandskämpfern. Auf die Amnestie folgte die Amnesie. Der Mythos der französischen Résistance wurde schon in den 1960er-Jahren angekratzt, die dreiste österreichische Lüge, das erste Opfer des Hitlerfaschismus gewesen zu sein, ist längst entlarvt, die sogenannte schwedische und schweizerische Neutralität gegenüber NS-Deutschland ist als raffinierte Geschäftemacherei inzwischen demaskiert.
Kein Verbrechen der Deutschen im Dritten Reich kann dadurch relativiert werden, dass es Kollaborateure in anderen Ländern gab. Umgekehrt kann sich kein Volk seiner Verantwortung für die eigenen Verbrechen entledigen, nur weil ein anderes weitaus größeres Unheil angerichtet hat. Dieser Satz Adam Soboczynskis bleibt gültig. Auch bleibt es eine spannende Aufgabe der Geschichtsschreibung, die ganze Dimension außereuropäischer Kollaboration zu erfassen wie etwa den Beitrag der USA und der arabischen Welt bei deren Stützung und Unterstützung des Dritten Reiches.
Die deutschen Okkupanten
waren auf tätige Mithilfe in den
besetzten Gebieten angewiesen
Klaus Kellmann:
Dimensionen
der Mittäterschaft.
Die europäische
Kollaboration mit dem Dritten Reich. Böhlau-Verlag Wien.
666 Seiten, 39,99 Euro.
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und Mittäter
Klaus Kellmann beschreibt die
vielgestaltigen Formen der Kollaboration
von Europäern mit dem NS-Staat
VON LUDGER HEID
Über Europa gibt es viele Geschichten zu erzählen. Einige sind noch nicht hinreichend zu Ende erzählt. Eine handelt von Kollaboration in Zeiten des Zweiten Weltkriegs, ein Begriff, dem das Odium des Verrats anhaftet. Es ist ein sensibler Problemkomplex, ein verstörendes Kapitel europäischer Geschichte. Vielleicht ist dies der Grund, warum bislang eine Gesamtdarstellung der europäischen Kollaboration mit Hitler-Deutschland fehlte. Klaus Kellmann hat nunmehr einen Gesamtüberblick vorgelegt, hat die unterschiedlichen Erscheinungsformen Staat für Staat in den Blick genommen, die ihren abscheulichsten Ausdruck zweifellos in der Beteiligung am Judenmord fand. Er hat damit eine klaffende historiografische Lücke geschlossen. Ein großer Wurf.
In Hitlers Kriegszielplanungen ist nicht auch nur im Ansatz irgendeine Erwägung, irgendein Kalkül von Zusammenarbeit mit den Menschen in den eroberten Territorien nachweisbar. In seinem Denken brauchte der Herrenmensch keine Helfer, und wenn er sich ihrer doch einmal bediente, dann verstand er dies als taktisches und temporäres Zugeständnis, das ihn zu nichts verpflichtete. Das Einzige, was Hitler interessierte, war, wie viele eigene Kräfte er durch den Einsatz von Personal des besetzten Landes an anderer Stelle für eigene Zwecke zur Verfügung hatte und wie er es am besten ausbeuten konnte.
Die Wirklichkeit an der Front sah indes anders aus. Hermann Göring, in seiner selbstherrlichen, anmaßenden und überheblichen Art, meinte im August 1942: „Ich mache keine Kollaboration. Kollaboration der Franzosen sehe ich nur in folgendem: Wenn sie abliefern, bis sie nicht mehr können, wenn sie es freiwillig tun, dann werde ich sagen, ich kollaboriere.“ Tatsächlich hat in der sieges- und zukunftssicheren Führungskamarilla der Partei niemand, am allerwenigsten Hitler selbst, auch nur einen Augenblick daran gedacht, einem Kollaborateur irgendeine Konzession, geschweige denn eine vertraglich fixierte Zusicherung zuzugestehen.
Ob erwünscht oder nicht, Hitler konnte sich der kollaborierenden Unterstützung der okkupierten Territorien sicher sein, ohne die das imperiale Deutschland nicht hätte bis vor die Tore Moskaus vordringen, nicht den größten Teil Europas mit seinen 180 Millionen Menschen in Schach halten können. „Jedem Unteroffizier, ja jedem Obergefreiten war klar, dass ein derart gigantisches Imperium ohne Mitwirkung der Einheimischen nicht regierbar war, mochten die da in Berlin denken, was sie wollten“, schreibt Kellmann. In einer Denkschrift vom Sommer 1943 hieß es: „Die Anhänger einer Verständigungspolitik mit Deutschland werden ausgenutzt, aber mehr oder weniger verächtlich behandelt. Es wird nichts getan, um ihren Einfluss zu stärken.“
Tatsächlich aber gab es eine Zusammenarbeit mit Behörden in den besetzten Gebieten, sodass es im weiteren Verlauf des Krieges zwischen den Vorgaben der Reichskanzlei und der Realität „im Feld“ ein eklatantes Missverhältnis gab. Die Kollaboration, die es in der offiziellen NS-Ideologie gar nicht gab, avancierte zum mitentscheidenden Instrument für die Unterwerfung Europas. Seit Sommer 1942 lief an keiner Front etwas ohne sie.
Die deutschen Okkupanten waren auf tätige Mithilfe in den besetzten Gebieten angewiesen – militärisch, polizeilich und administrativ. Und was den Judenmord betrifft, so fanden sich verblüffend viele bereitwillige Helfer bei der Deportation und Liquidierung der jüdischen Bevölkerung. Allen scheinbaren Beteuerungen zum Trotz war Hitler daran gelegen, die besetzten und verbündeten Staaten in die rassistische „Neuordnungspolitik“ tätig mit einzubeziehen, um diese damit auf Gedeih und Verderb an die deutsche Führungsmacht zu binden.
Im Artikel 45 der Haager Landkriegsordnung von 1907 ist dem Sieger untersagt, der besiegten Bevölkerung den Treueid abzunötigen, denn eine Loyalitätspflicht hat sie nur gegenüber der eigenen Nation, dem Eindringling gegenüber muss sie lediglich gehorsam sein. Mit dieser Ambivalenz und Asymmetrie ist der Kern aller späteren Kollaborationskonflikte benannt. Nach der Haager Ordnung stand der Besatzungsmacht auch der treuhänderische Nießbrauch am Eigentum des besiegten Staates zu. Um diese Bestimmung hat sich die deutsche Besatzungsmacht nirgendwo in Europa auch nur im Ansatz geschert – sie nahm sich, was sie wollte und was ihr nutzte.
Militärischer Gewalt unterworfene Menschen tun etwas, was sie eigentlich gar nicht tun wollen: Sie unterstellen sich einer Macht und Obrigkeit, und vollziehen damit einen Loyalitätswechsel. Das ist der Angelpunkt der Problematik.
Kollaboration ist immer eine Form der Zusammenarbeit, aber nie zwischen gleichberechtigten oder gleichrangigen Partnern. Deren Motive reichen vom subjektiv glaubwürdigen Versuch, die nationale Ehre zu retten, über die blanke Not, Hunger und Durst stillen zu können, bis hin zur flagranten kriminellen Bereicherung und der Mitwirkung am Menschenverbrechen. Die Spannweite konkreter Kollaborationstätigkeiten war und ist gekennzeichnet vom freiwilligen, gedungenen oder bezahlten Verrat, reichte bis hin zur Hausfrau, die sich mit dem Waschen der Wäsche von Wehrmachtssoldaten ein paar Francs, Zlotys oder Dinare hinzuverdiente. All das lief auf eins hinaus: Was dem eigenen Nutzen, Profit, Leben oder Überleben diente, stärkte gleichzeitig den Besatzer. Die scheinbaren Vorteile sind für den Kollaborateur dabei mit dem Stigma des Verrats behaftet und implizieren dadurch eine auch moralisch zu hinterfragende Verhaltensdisposition.
Kellmann unternimmt einen Definitionsversuch des Terminus Kollaboration, der als Kriterium den Kriegsverlauf ausmacht. Dabei war entscheidend nicht das Ob und Wie, sondern das Wann. Kollaboration hing demnach elementar davon ab, wie die Besetzten das Machtpotenzial der Besatzer einschätzten. Die Kollaborateure hatten das Ziel, aufseiten des Siegers zu sein. Kellmann versteht Kollaboration als einen komplexen, dynamischen Prozess, der sich von einem Moment zum anderen kriegsrelevant verändern konnte, und zwar für beide Seiten.
Auch nach der Kellmann’schen Lektüre bleibt Kollaboration ein vielschichtiges, äußerst diffiziles Phänomen, ein hochkomplexes Zusammenspiel aus den unterschiedlichsten Motiven, Kontexten und Konstellationen mit ständig wechselnden Akteuren, Profiteuren, Mittätern, Verfolgern und Bystanders, wie Raul Hilberg diejenigen genannt hat, die dabeistanden, die anwesend waren, ohne teilzunehmen. Das waren nicht allesamt Zuschauer. Viele sahen im Gegenteil nicht hin, sondern weg. Kurz: Kollaboration ist ein permanent changierender, nirgendwo einheitlicher Prozess. Was in Frankreich als selbstverständliche Hilfeleistung gegenüber dem Besatzer galt, war in Polen ein todeswürdiges Verbrechen, was einem Norweger lediglich als Servilität erschien, konnte für einen Serben Verrat bedeuten, wobei gerade bei diesem Begriff zwischen freiwilligem, bewusstem und begünstigtem oder aber erpresstem und mit Folter erzwungenem Verrat zu trennen ist. Da dem landläufigen Verständnis von Kollaboration bis heute die Verratskonnotation inhärent ist, vermag auch Klaus Kellmann das Wort nicht als neutrale, für die wissenschaftliche Analyse taugliche Vokabel zu buchstabieren.
Kellmann hat die Dimension der Mittäterschaft in 24 europäischen Staaten von Albanien – über neutrale Staaten wie Schweden und Schweiz – bis Ungarn in den Blick genommen. Sein opulentes Buch hat die „Europäisierung von Mitschuld“ zum Inhalt, jenseits jedweder Relativierung, Verlagerung oder Abschwächung von Ausmaß und Form nationalsozialistischen Terrors.
Das Thema Kollaboration in Europas Nachkriegsgeschichte ist überschattet von Leerstellen und Schweigen, hat Tony Judt 2006 festgehalten. Streng genommen ist das noch die positivere Variante. Viel häufiger wurde gelogen, verbogen, vertuscht und verfälscht bis hin zur Umwidmung übelster Kollaborateure zu ehrenhaften Widerstandskämpfern. Auf die Amnestie folgte die Amnesie. Der Mythos der französischen Résistance wurde schon in den 1960er-Jahren angekratzt, die dreiste österreichische Lüge, das erste Opfer des Hitlerfaschismus gewesen zu sein, ist längst entlarvt, die sogenannte schwedische und schweizerische Neutralität gegenüber NS-Deutschland ist als raffinierte Geschäftemacherei inzwischen demaskiert.
Kein Verbrechen der Deutschen im Dritten Reich kann dadurch relativiert werden, dass es Kollaborateure in anderen Ländern gab. Umgekehrt kann sich kein Volk seiner Verantwortung für die eigenen Verbrechen entledigen, nur weil ein anderes weitaus größeres Unheil angerichtet hat. Dieser Satz Adam Soboczynskis bleibt gültig. Auch bleibt es eine spannende Aufgabe der Geschichtsschreibung, die ganze Dimension außereuropäischer Kollaboration zu erfassen wie etwa den Beitrag der USA und der arabischen Welt bei deren Stützung und Unterstützung des Dritten Reiches.
Die deutschen Okkupanten
waren auf tätige Mithilfe in den
besetzten Gebieten angewiesen
Klaus Kellmann:
Dimensionen
der Mittäterschaft.
Die europäische
Kollaboration mit dem Dritten Reich. Böhlau-Verlag Wien.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Überaus lesenswert findet Clemens Klünemann Klaus Kellmanns breit angelegte Studie über die Wirkungsweisen bürokratischer Mittäter in den besetzten Ländern Europas während der Zeit des Nationalsozialismus. Anhand von 24 Ländern kann Kellermann dem Rezensenten die Unterstützung der kollaborierenden Bevölkerung aufzeigen, ohne die Verbrechen der Deutschen dabei zu relativieren. Das Ziel der Entzauberung nationaler Narrative, von Widerstand und Selbstviktimisierung erreicht der Autor laut Rezensent auf überzeugende Weise, akribisch und versehen mit dem Rat einer Enttabuisierung der Kollaboration als Voraussetzung für eine europäische Identität.
© Perlentaucher Medien GmbH
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