Ein sengend heißer Freitagnachmittag in Durton, einer Kleinstadt im ländlichen Australien: Ronnie und Esther, beste Freundinnen, fahren gemeinsam nach der Schule nach Hause - doch nur Ronnie kommt schließlich dort an. Die zwölfjährige Esther bleibt zunächst verschwunden, eine groß angelegte Suche beginnt - bis wenige Tage später ihre Leiche gefunden wird. Was ist geschehen?
Die kleinstädtische Gemeinschaft kämpft mit Trauer und Schrecken ob des Verlusts - und mit gegenseitigen Verdächtigungen, die nicht lange auf sich warten lassen.
Die kleinstädtische Gemeinschaft kämpft mit Trauer und Schrecken ob des Verlusts - und mit gegenseitigen Verdächtigungen, die nicht lange auf sich warten lassen.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Der Outback Noir mutiert zum Trend-Genre, weiß Rezensentin Katrin Doerksen, auch Hayley Scrivenors Debüt ordnet sie in diese im ruralen Australien spielende Form des Krimis ein. In einer in allen Sinnen unwegsamen und gewalttätigen Gegend wird die zwölfjährige Esther vermisst, verrät Doerksen, ihr gefällt besonders, dass deren beiden Freunde Lewis und Ronnie einen Großteil der Erzählung übernehmen. Besonders die Kapitel, die die Kinder aus Durton, auch Dirt-Town genannt, kollektiv erzählen, verschaffen der Kritikerin eine beeindruckende Perspektive auf ein fremdes und manchmal befremdliches Gebiet. Leider gibt es keine Aborigine-Perspektive, bemängelt sie, dennoch ein wichtiger Einblick in die Krisen einer Region - und des Aufwachsens dort.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.04.2023Das geheime Wissen der Kinder
Australiens Hinterland als Ort alltäglicher Gewalt: Hayley Scrivenors Debüt "Dinge, die wir brennen sahen"
Seine Bewohner nennen Durton umgangssprachlich "Dirt Town". Wenig schmeichelhaft für eine Kleinstadt wie jede andere auch, die am Horizont auftaucht, wenn man von einer beliebigen Metropole an der Ostküste Australiens landeinwärts fährt. Der Weizenpreis bestimmt das Leben der Leute mindestens ebenso wie die sengende Hitze, jeder kennt jeden, und der Zug hält nur, wenn man ihn am Tag zuvor telefonisch bestellt.
In ebenjenem Durton gerät eines Freitagnachmittags im November 2001 das Leben aus dem Tritt, als die zwölfjährige Esther Bianchi von der Schule aus ihren Heimweg antritt und nie zu Hause ankommt. Die Isolation australischer Kleinstädte, die Dürre, der Anstieg des Drogenkonsums parallel zur Arbeitslosigkeit und die Nachwehen der kolonialen Landnahme - all das ist uns auch am anderen Ende der Welt erstaunlich vertraut, seit vor ein paar Jahren der Outback Noir im Windschatten von Autoren wie Jane Harper oder Chris Hammer zum kriminalliterarischen Trend avancierte.
In der Hinsicht bildet Hayley Scrivenors Debüt "Dinge, die wir brennen sahen", eines von gleich mehreren, die aktuell in deutscher Übersetzung in die Regale kommen, keine Ausnahme. Nachbarn in Durton kennen sich schon seit Schulzeiten, und genauso lang stecken sie in ihren vor Jahrzehnten zugewiesenen Rollen. Mädchen werden nicht selten im Teenageralter schwanger, Männer richten Drogenküchen in ihren Garagen ein und kontrollieren ihre Frauen. Ein lesbischer Cop aus der Großstadt wie die auf Kindesentführungen spezialisierte Detective Sarah Michaels hat es dort nicht eben leicht, Vertrauen zu gewinnen. Hayley Scrivenor, die selbst aus einer australischen Kleinstadt stammt, entwirft in "Dinge, die wir brennen sahen" einen Stadtplan alltäglicher, mal mehr und mal weniger offensichtlicher Gewaltausübung. Noch vor den Problemen der Erwachsenen priorisiert sie dabei die Sicht der Kinder: Eine der Erzählperspektiven gehört Esthers bester Freundin Ronnie, der für ihr Alter auffällig klugen, aber von Minderwertigkeitsgefühlen geplagten Tochter einer alleinerziehenden Mutter mit Drogenvergangenheit.
Daneben Lewis, ein sensibler Junge, der sich völlig verängstigt von seinem brutalen Vater und den hirnlosen SchulBullies nicht traut, der Polizei zu erzählen, was er am entscheidenden Freitagnachmittag am Fluss gesehen hat. Esther hatte das Dreieck komplettiert; diese in den Erzählungen ihrer besten Freunde vollkommene Projektionsfläche von einem Mädchen mit dem vielsagenden Familiennamen. Bianchi - Weiße. Wie ein Symbol ewig verlorener Reinheit scheint sie über dem in historischer Kontinuität krisengeplagten Land zu schweben, dem Down-Under-Äquivalent zum Wilden Westen. Aboriginal People kommen im Roman mit keinem Wort vor.
Aus den ständig die Perspektiven wechselnden Kapiteln stechen besonders die Passagen hervor, die mit einem schlichten "Wir" überschrieben sind. Es dauert einen Moment, um zu registrieren, wer da eigentlich spricht: die Kinder Durtons, die in der ersten Person Plural gleichsam die allwissend kommentierende Funktion eines griechischen Chors übernehmen. Ihr Wir umfasst kollektive und spezifische Einsichten, einen Erfahrungsschatz, der Wissen über die weit zurückliegende Vergangenheit ebenso einschließt wie über die Zukunft. Die Probleme der Stadt gehen an den Generationen von Kindern nicht unbemerkt vorüber, dennoch schwingt bei dem Spitzamen "Dirt Town" aus ihrem Mund auch eine liebevolle Note mit.
Es ist der Ort, wo ihre Familien und Freunde sind, ihre Normalität. Speziell in einem Land wie Australien, in dem rund neunzig Prozent der Bevölkerung in den urbanen Zentren entlang der Küste lebt, ist dieser Bruch mit der befremdeten Außenperspektive auf die "Hinterwäldler" im Inland bedeutsam. So schlüsselt Scrivenor auf, wie die Koordinaten der Kindheit, wie familiäre Umstände und Wahlmöglichkeiten den Charakter formen, Lebensentscheidungen bedingen und letzten Endes die nächste verkorkste Erwachsenengeneration hervorbringen. KATRIN DOERKSEN
Hayley Scrivenor: "Dinge, die wir brennen sahen". Roman.
Aus dem Englischen von Andrea O'Brien.
Eichborn Verlag, Köln 2023.
368 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Australiens Hinterland als Ort alltäglicher Gewalt: Hayley Scrivenors Debüt "Dinge, die wir brennen sahen"
Seine Bewohner nennen Durton umgangssprachlich "Dirt Town". Wenig schmeichelhaft für eine Kleinstadt wie jede andere auch, die am Horizont auftaucht, wenn man von einer beliebigen Metropole an der Ostküste Australiens landeinwärts fährt. Der Weizenpreis bestimmt das Leben der Leute mindestens ebenso wie die sengende Hitze, jeder kennt jeden, und der Zug hält nur, wenn man ihn am Tag zuvor telefonisch bestellt.
In ebenjenem Durton gerät eines Freitagnachmittags im November 2001 das Leben aus dem Tritt, als die zwölfjährige Esther Bianchi von der Schule aus ihren Heimweg antritt und nie zu Hause ankommt. Die Isolation australischer Kleinstädte, die Dürre, der Anstieg des Drogenkonsums parallel zur Arbeitslosigkeit und die Nachwehen der kolonialen Landnahme - all das ist uns auch am anderen Ende der Welt erstaunlich vertraut, seit vor ein paar Jahren der Outback Noir im Windschatten von Autoren wie Jane Harper oder Chris Hammer zum kriminalliterarischen Trend avancierte.
In der Hinsicht bildet Hayley Scrivenors Debüt "Dinge, die wir brennen sahen", eines von gleich mehreren, die aktuell in deutscher Übersetzung in die Regale kommen, keine Ausnahme. Nachbarn in Durton kennen sich schon seit Schulzeiten, und genauso lang stecken sie in ihren vor Jahrzehnten zugewiesenen Rollen. Mädchen werden nicht selten im Teenageralter schwanger, Männer richten Drogenküchen in ihren Garagen ein und kontrollieren ihre Frauen. Ein lesbischer Cop aus der Großstadt wie die auf Kindesentführungen spezialisierte Detective Sarah Michaels hat es dort nicht eben leicht, Vertrauen zu gewinnen. Hayley Scrivenor, die selbst aus einer australischen Kleinstadt stammt, entwirft in "Dinge, die wir brennen sahen" einen Stadtplan alltäglicher, mal mehr und mal weniger offensichtlicher Gewaltausübung. Noch vor den Problemen der Erwachsenen priorisiert sie dabei die Sicht der Kinder: Eine der Erzählperspektiven gehört Esthers bester Freundin Ronnie, der für ihr Alter auffällig klugen, aber von Minderwertigkeitsgefühlen geplagten Tochter einer alleinerziehenden Mutter mit Drogenvergangenheit.
Daneben Lewis, ein sensibler Junge, der sich völlig verängstigt von seinem brutalen Vater und den hirnlosen SchulBullies nicht traut, der Polizei zu erzählen, was er am entscheidenden Freitagnachmittag am Fluss gesehen hat. Esther hatte das Dreieck komplettiert; diese in den Erzählungen ihrer besten Freunde vollkommene Projektionsfläche von einem Mädchen mit dem vielsagenden Familiennamen. Bianchi - Weiße. Wie ein Symbol ewig verlorener Reinheit scheint sie über dem in historischer Kontinuität krisengeplagten Land zu schweben, dem Down-Under-Äquivalent zum Wilden Westen. Aboriginal People kommen im Roman mit keinem Wort vor.
Aus den ständig die Perspektiven wechselnden Kapiteln stechen besonders die Passagen hervor, die mit einem schlichten "Wir" überschrieben sind. Es dauert einen Moment, um zu registrieren, wer da eigentlich spricht: die Kinder Durtons, die in der ersten Person Plural gleichsam die allwissend kommentierende Funktion eines griechischen Chors übernehmen. Ihr Wir umfasst kollektive und spezifische Einsichten, einen Erfahrungsschatz, der Wissen über die weit zurückliegende Vergangenheit ebenso einschließt wie über die Zukunft. Die Probleme der Stadt gehen an den Generationen von Kindern nicht unbemerkt vorüber, dennoch schwingt bei dem Spitzamen "Dirt Town" aus ihrem Mund auch eine liebevolle Note mit.
Es ist der Ort, wo ihre Familien und Freunde sind, ihre Normalität. Speziell in einem Land wie Australien, in dem rund neunzig Prozent der Bevölkerung in den urbanen Zentren entlang der Küste lebt, ist dieser Bruch mit der befremdeten Außenperspektive auf die "Hinterwäldler" im Inland bedeutsam. So schlüsselt Scrivenor auf, wie die Koordinaten der Kindheit, wie familiäre Umstände und Wahlmöglichkeiten den Charakter formen, Lebensentscheidungen bedingen und letzten Endes die nächste verkorkste Erwachsenengeneration hervorbringen. KATRIN DOERKSEN
Hayley Scrivenor: "Dinge, die wir brennen sahen". Roman.
Aus dem Englischen von Andrea O'Brien.
Eichborn Verlag, Köln 2023.
368 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Scrivenor priorisiert die Perspektive der Kinder in ihrem Kriminalroman - und dadurch fängt sie all die Widersprüchlichkeiten und Kontinuitäten des Lebens in einer Kleinstadt ein. Das ist ungemein spannend zu lesen." Sonja Hartl, Deutschlandfunk Kultur "DINGE, DIE WIR BRENNEN SAHEN ist ein Kriminalroman, an dem alles überzeugt. Das Setting, die plastischen Figuren und der clever konstruierte Plot." MDR Kultur "Klasse Kleinstadt-Drama" Susanne Helmer, Für Sie Auf der "Krimibestenliste April" von Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Kultur "Es ist Roman, Krimi, Gesellschaftsbeobachtung und Drama. Und der absolute Hammer." Buchhandlung Jost "Scrivenor versteht es glänzend, die Empfindungen zu transportieren. Sie hat schon eine ganz besondere Art, diese schweren, drückenden, dunklen, traurigen, schmerzhaften Dinge so zu schreiben, dass sie zwar einerseits irgendwie unbekümmert und leichtfüßig geschildert werden, andererseits aber vielleicht gerade deswegn einschlagen wie eine Bombe." Daniela Anders, Lesezauber_Zeilenreise Blog