Deutschland in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Es herrscht Krieg im Frieden, aller Umerziehung zum Trotz. Körperteilopferungen werden ausgestellt und das Waisenhaus brennt. Flugzeuge stürzen ab, Züge entgleisen, die Pläne zur Weltmechanik sind unauffindbar. Kinder gründen eine neue Religion und ersticken unter Lawinen. Der begabte Zögling Fählmann verlässt das Waisenhaus nicht mehr. Der Kretin hängt unter der Decke und beobachtet seine Eltern. Siebert steht am Fenster. Er wartet auf Marga. Doch Marga scheint verschwunden. Ihr Körper nicht mehr auffindbar. Ein Chor unterschiedlicher Stimmen fragt in diesem unheimlichen Buch von Frank Witzel unermüdlich nach dem, was wirklich geschah. Die Stimmen versuchen, Geschichte durch Geschichten zu erfassen. Sie tasten nach Gründen und werfen mit jeder Frage neue Fragen auf. Gewissheit wird zur Illusion, das Imaginierte zum letzten Zufluchtsort. So steigt der Leser immer tiefer in die Bodenlosigkeit von Geschichte und sieht hinab in das Grauen des Menschenmöglichen. Nominiert für den Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2017.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.08.2017Die Krötenkinder legen uns die Bibel aus
Im Museum der Katastrophen: Frank Witzels neuer Roman sucht den Punkt zwischen davor und danach
Vor den Toren der Stadt liegt der Maubachersee. Dort "trafen sich früher die Liebespaare. Noch früher spielten dort die Kinder. Noch früher begrub man dort die Verunglückten. Noch früher hob man Löcher aus, um Menschen lebend hineinzulegen und zu warten, ob das vom Regen ansteigende Wasser des Sees die Löcher überfluten würde. Viele starben, manche überlebten." Das ist das Ergebnis einer Sondierung in die Vergangenheit, die natürlich beliebig weitergehen könnte, so wie Kinder nach jeder Auskunft immer aufs Neue fragen würden: Und was war davor?
Doch die Richtung lässt sich genauso gut umkehren, und die Beschreibung des Maubachersees am Ende von Frank Witzels neuem Roman bietet auch den Blick nach vorn: "Später errichtete man ein Gefängnis dort", dann, wieder später, einen "Veranstaltungsort christlicher Gemeinden", dann ein Gewerbegebiet und noch später wieder ein Gefängnis. Ob wir damit in der Gegenwart angekommen sind, der des Romans oder vielleicht sogar auch unserer, ist unklar, und ebenso, wo genau dieser Punkt zu verorten ist, von dem aus hier in ein Davor und ein Danach geblickt wird, den Punkt also zwischen den Liebespaaren und dem ersten Gefängnis. Nur von einem traumatisierten Mann ist die Rede, der am Strand steht und auf den See blickt, befähigt, "das Zusammenfließen von Vergangenheit und Zukunft in einer verdichteten Gegenwart zu spüren", die ihm "rein gar nichts mehr bedeutet".
Es geht um Zeit, um Geschichte und wie sie geschrieben wird, um das, was zu bleiben scheint, und um das, was sich verwandelt, aus der deutenden Rückschau oder ohne unser Zutun. Witzels Romantitel trägt dieser Frage Rechnung: "Direkt danach und kurz davor", so ist das 550 Seiten starke Buch überschrieben, der erste Roman Witzels seit "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969", mit dem der Autor 2015 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet worden ist. Es geht um das Festhalten eines Momentes, um von hier aus eine sichere Perspektive zu gewinnen, und um die Unmöglichkeit, dies zu verwirklichen. Und nicht zuletzt geht es darum, genau diese Unmöglichkeit mit einem hohen artistischen Aufwand und beeindruckendem literarischen Formenreichtum abzubilden.
Das Verfahren ist aus dem Vorgängerroman bekannt, der munter erzählende Passagen mit Verhörprotokollen, dramatischen Fragmenten und Sachtexten mischte und auch hier gern die Zeitebenen überbrückte. Doch in "Direkt danach und kurz davor" wird das Spektrum entschieden weiter und reicht nun vom Bibelkommentar, den zwei Kinder in Krötengestalt liefern (vielleicht werden sie aber auch nur vom Erzähler dieses Abschnitts für Kröten gehalten), über Personenverzeichnisse und Chroniken bis zu einem Katalog von Bildern, die während einer bestimmten Zeit gemalt worden sind.
Zudem und mit Hilfe dieses Formenreichtums entsteht in diesem zwölfteiligen Konstrukt ein lustvoll ausgeführtes Gewebe von Behauptung und Widerlegung, von offenen und impliziten Widersprüchen, die Personen und Ereignisse kaum einmal Konturen verleihen, die über die Kapitelgrenze hinaus Bestand hätten. Was hat es etwa mit jenem Siebert auf sich, der in einer - oft wiederholten und anders beleuchteten - Szene am Fenster steht und auf den Lindholmplatz schaut, auf dem sich ein Attentat zutragen wird oder bereits zugetragen hat, bei dem vielleicht ein gewisser "alter Siebert" zu Schaden kommt, der, zufällig oder begründet, denselben Nachnamen trägt wie der junge Mann? Hat Sieberts Mutter wirklich ein Verhältnis mit dem Kinderarzt, und wer ist eigentlich Sieberts Vater? Was ist mit Marga, seiner Geliebten, vielleicht aber auch Schwester, die eines Tages verschwindet, vielleicht aber auch vom Lindholmplatz aus durch die Fensterscheibe erschossen und dann von Siebert und dem Mörder verscharrt wird? Was spielt sich in dem Unfallmuseum in der Dolmenstraße ab, das lauter Modelldioramen von Eisenbahn- oder Flugzeugunglücken ausstellt und hinter einer geheimen Tür eine als "Weltmechanik" beschriebene Maschine bewahrt, die freilich auch etwas ganz anderes darstellen kann? Und hat hier tatsächlich wieder der alte Siebert seine Finger im Spiel?
Das Panorama, das sich in der namenlosen Stadt entfaltet, bezieht sein widersprüchliches Erscheinungsbild eben aus der Vielzahl derer, die davon berichten. Meist ist nicht klar, wer da gerade eigentlich erzählt oder auf Verhörfragen antwortet, ob es einer ist oder vielleicht ein Kollektiv, und ob sich da mehrere zusammenfinden, um tatsächliche Geschehnisse zu rekonstruieren, oder ob das Ganze das lustvolle Durchspielen von Alternativversionen ist: "Man braucht uns nicht zu schonen", heißt es einmal. "Wir können mit solchen Geschichten schon umgehen und sie entsprechend interpretieren. Wir nehmen nicht alles für bare Münze." Auch als Leser verliert man das Vertrauen in diese Erzähler schnell - und soll es wohl auch. Statt Gewissheiten gibt es Wahrscheinlichkeiten, Motive wiederholen sich, die jeweils variierte Schilderung bestimmter Szenen auch, und das besitzt keinen geringen Reiz. Im Verlauf des Romans entsteht so kein statisches Bild, wohl aber eine erzählte Atmosphäre um eine Gegend, um Personen und vor allem um eine Zeit, die den Jahren zwischen Kriegsende und Wiederaufbau in der Bundesrepublik ähnelt. Da ist die Erinnerung an die Greuel, die keineswegs völlig überstanden sind, da sind die deutlichen Hinweise auf Menschenversuche, nun vor allem an wehrlosen, kasernierten Kindern und Jugendlichen, da sind die Versuche seitens der Alliierten, den Besiegten mittels Reedukation die Augen zu öffnen, und da ist das Treiben der Wissenschaftler, die sich und ihre Arbeit über die Zeitenwende gerettet haben - besonders die von ihnen erzählenden Passagen sind mitunter von großer Scheußlichkeit. Zugleich ist diese vielfach gebrochene und in unterschiedliche Perspektiven aufgelöste Erzählung offen genug, um auch in andere historische Epochen zu weisen; das betrifft vor allem die eindrucksvoll verrohten Kinder, die sich nach den Kriegsjahren alleingelassen finden und ihrer Erinnerungen kaum anders als mit großer Fühllosigkeit Herr werden.
Darüber hinaus sind wiederum dem Roman in zahllosen Gesprächen jener kommentierenden Stimmen die Interpretationen seiner selbst so hartnäckig eingeschrieben, dass man sich als Leser im Wettstreit zwischen Hase und Igel wähnt: Die Frage, was eine bestimmte Szene symbolisieren solle, wird hier gern explizit erörtert, narrative Grundfragen sowieso, und manchmal äußerst eine dieser unverorteten Stimmen dann auch, man könne das Erzählen doch eigentlich ganz sein lassen, aus Misstrauen gegenüber der geschlossenen Form der Sprache - "dann wäre der Impuls, die Erzählung aufzugeben, der einzig schlüssige". Die Antwort: "Er ist nicht schlüssig. Wir suchen nach dem Schlüssigen. Wir konstruieren die Erzählung. Aber wir müssen das Unschlüssige suchen." Und sich dabei "dem fortschreitenden Erzählen verweigern. Das ist unsere einzige Chance."
Natürlich steht Witzel dabei auf einem Fundament, das andere vor ihm gegossen haben, und die Gefahr dieses ständigen Problematisierens des Erzählten besteht nicht nur darin, dass man irgendwann das Interesse am so hartnäckig Hin- und Hergewendeten verliert, sondern umgekehrt auch darin, dass man selbst Passagen wie das zwölfte Buch am Ende des Romans, das noch einmal zu einer Begründung des Erzählens ansetzt, mit größeren Vorbehalten liest, als es vielleicht angemessen wäre.
Denn so wie der junge Siebert gern als Mensch ohne Erinnerung geschildert wird, als unfähig, gesellschaftliche Strukturen zu erkennen und sich danach auszurichten, so spielt die Frage, wie eine Verletzung, ein Trauma mit der Imagination und daher mittelbar auch mit dem Erzählen zusammenhängt, eine große Rolle in jenem "Marga" überschriebenen Schlussteil.
Vielleicht ist das Misstrauen der Stimmen in diesem Roman gegenüber einer sprachlich allzu glatt geformten Geschichtsschreibung auch damit begründet. Welche Gefahr jedenfalls damit verbunden ist, benennt der Roman auch. Es gebe, heißt es am Ende des Buchs, "immer wieder Bestrebungen, den Maubachersee zuzuschütten. Wie man eine Wunde verdeckt. Wie man eine Vergangenheit so lange umdefiniert, bis nichts mehr von ihr übrig ist."
TILMAN SPRECKELSEN
Frank Witzel: "Direkt danach und kurz davor". Roman.
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2017. 552 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im Museum der Katastrophen: Frank Witzels neuer Roman sucht den Punkt zwischen davor und danach
Vor den Toren der Stadt liegt der Maubachersee. Dort "trafen sich früher die Liebespaare. Noch früher spielten dort die Kinder. Noch früher begrub man dort die Verunglückten. Noch früher hob man Löcher aus, um Menschen lebend hineinzulegen und zu warten, ob das vom Regen ansteigende Wasser des Sees die Löcher überfluten würde. Viele starben, manche überlebten." Das ist das Ergebnis einer Sondierung in die Vergangenheit, die natürlich beliebig weitergehen könnte, so wie Kinder nach jeder Auskunft immer aufs Neue fragen würden: Und was war davor?
Doch die Richtung lässt sich genauso gut umkehren, und die Beschreibung des Maubachersees am Ende von Frank Witzels neuem Roman bietet auch den Blick nach vorn: "Später errichtete man ein Gefängnis dort", dann, wieder später, einen "Veranstaltungsort christlicher Gemeinden", dann ein Gewerbegebiet und noch später wieder ein Gefängnis. Ob wir damit in der Gegenwart angekommen sind, der des Romans oder vielleicht sogar auch unserer, ist unklar, und ebenso, wo genau dieser Punkt zu verorten ist, von dem aus hier in ein Davor und ein Danach geblickt wird, den Punkt also zwischen den Liebespaaren und dem ersten Gefängnis. Nur von einem traumatisierten Mann ist die Rede, der am Strand steht und auf den See blickt, befähigt, "das Zusammenfließen von Vergangenheit und Zukunft in einer verdichteten Gegenwart zu spüren", die ihm "rein gar nichts mehr bedeutet".
Es geht um Zeit, um Geschichte und wie sie geschrieben wird, um das, was zu bleiben scheint, und um das, was sich verwandelt, aus der deutenden Rückschau oder ohne unser Zutun. Witzels Romantitel trägt dieser Frage Rechnung: "Direkt danach und kurz davor", so ist das 550 Seiten starke Buch überschrieben, der erste Roman Witzels seit "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969", mit dem der Autor 2015 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet worden ist. Es geht um das Festhalten eines Momentes, um von hier aus eine sichere Perspektive zu gewinnen, und um die Unmöglichkeit, dies zu verwirklichen. Und nicht zuletzt geht es darum, genau diese Unmöglichkeit mit einem hohen artistischen Aufwand und beeindruckendem literarischen Formenreichtum abzubilden.
Das Verfahren ist aus dem Vorgängerroman bekannt, der munter erzählende Passagen mit Verhörprotokollen, dramatischen Fragmenten und Sachtexten mischte und auch hier gern die Zeitebenen überbrückte. Doch in "Direkt danach und kurz davor" wird das Spektrum entschieden weiter und reicht nun vom Bibelkommentar, den zwei Kinder in Krötengestalt liefern (vielleicht werden sie aber auch nur vom Erzähler dieses Abschnitts für Kröten gehalten), über Personenverzeichnisse und Chroniken bis zu einem Katalog von Bildern, die während einer bestimmten Zeit gemalt worden sind.
Zudem und mit Hilfe dieses Formenreichtums entsteht in diesem zwölfteiligen Konstrukt ein lustvoll ausgeführtes Gewebe von Behauptung und Widerlegung, von offenen und impliziten Widersprüchen, die Personen und Ereignisse kaum einmal Konturen verleihen, die über die Kapitelgrenze hinaus Bestand hätten. Was hat es etwa mit jenem Siebert auf sich, der in einer - oft wiederholten und anders beleuchteten - Szene am Fenster steht und auf den Lindholmplatz schaut, auf dem sich ein Attentat zutragen wird oder bereits zugetragen hat, bei dem vielleicht ein gewisser "alter Siebert" zu Schaden kommt, der, zufällig oder begründet, denselben Nachnamen trägt wie der junge Mann? Hat Sieberts Mutter wirklich ein Verhältnis mit dem Kinderarzt, und wer ist eigentlich Sieberts Vater? Was ist mit Marga, seiner Geliebten, vielleicht aber auch Schwester, die eines Tages verschwindet, vielleicht aber auch vom Lindholmplatz aus durch die Fensterscheibe erschossen und dann von Siebert und dem Mörder verscharrt wird? Was spielt sich in dem Unfallmuseum in der Dolmenstraße ab, das lauter Modelldioramen von Eisenbahn- oder Flugzeugunglücken ausstellt und hinter einer geheimen Tür eine als "Weltmechanik" beschriebene Maschine bewahrt, die freilich auch etwas ganz anderes darstellen kann? Und hat hier tatsächlich wieder der alte Siebert seine Finger im Spiel?
Das Panorama, das sich in der namenlosen Stadt entfaltet, bezieht sein widersprüchliches Erscheinungsbild eben aus der Vielzahl derer, die davon berichten. Meist ist nicht klar, wer da gerade eigentlich erzählt oder auf Verhörfragen antwortet, ob es einer ist oder vielleicht ein Kollektiv, und ob sich da mehrere zusammenfinden, um tatsächliche Geschehnisse zu rekonstruieren, oder ob das Ganze das lustvolle Durchspielen von Alternativversionen ist: "Man braucht uns nicht zu schonen", heißt es einmal. "Wir können mit solchen Geschichten schon umgehen und sie entsprechend interpretieren. Wir nehmen nicht alles für bare Münze." Auch als Leser verliert man das Vertrauen in diese Erzähler schnell - und soll es wohl auch. Statt Gewissheiten gibt es Wahrscheinlichkeiten, Motive wiederholen sich, die jeweils variierte Schilderung bestimmter Szenen auch, und das besitzt keinen geringen Reiz. Im Verlauf des Romans entsteht so kein statisches Bild, wohl aber eine erzählte Atmosphäre um eine Gegend, um Personen und vor allem um eine Zeit, die den Jahren zwischen Kriegsende und Wiederaufbau in der Bundesrepublik ähnelt. Da ist die Erinnerung an die Greuel, die keineswegs völlig überstanden sind, da sind die deutlichen Hinweise auf Menschenversuche, nun vor allem an wehrlosen, kasernierten Kindern und Jugendlichen, da sind die Versuche seitens der Alliierten, den Besiegten mittels Reedukation die Augen zu öffnen, und da ist das Treiben der Wissenschaftler, die sich und ihre Arbeit über die Zeitenwende gerettet haben - besonders die von ihnen erzählenden Passagen sind mitunter von großer Scheußlichkeit. Zugleich ist diese vielfach gebrochene und in unterschiedliche Perspektiven aufgelöste Erzählung offen genug, um auch in andere historische Epochen zu weisen; das betrifft vor allem die eindrucksvoll verrohten Kinder, die sich nach den Kriegsjahren alleingelassen finden und ihrer Erinnerungen kaum anders als mit großer Fühllosigkeit Herr werden.
Darüber hinaus sind wiederum dem Roman in zahllosen Gesprächen jener kommentierenden Stimmen die Interpretationen seiner selbst so hartnäckig eingeschrieben, dass man sich als Leser im Wettstreit zwischen Hase und Igel wähnt: Die Frage, was eine bestimmte Szene symbolisieren solle, wird hier gern explizit erörtert, narrative Grundfragen sowieso, und manchmal äußerst eine dieser unverorteten Stimmen dann auch, man könne das Erzählen doch eigentlich ganz sein lassen, aus Misstrauen gegenüber der geschlossenen Form der Sprache - "dann wäre der Impuls, die Erzählung aufzugeben, der einzig schlüssige". Die Antwort: "Er ist nicht schlüssig. Wir suchen nach dem Schlüssigen. Wir konstruieren die Erzählung. Aber wir müssen das Unschlüssige suchen." Und sich dabei "dem fortschreitenden Erzählen verweigern. Das ist unsere einzige Chance."
Natürlich steht Witzel dabei auf einem Fundament, das andere vor ihm gegossen haben, und die Gefahr dieses ständigen Problematisierens des Erzählten besteht nicht nur darin, dass man irgendwann das Interesse am so hartnäckig Hin- und Hergewendeten verliert, sondern umgekehrt auch darin, dass man selbst Passagen wie das zwölfte Buch am Ende des Romans, das noch einmal zu einer Begründung des Erzählens ansetzt, mit größeren Vorbehalten liest, als es vielleicht angemessen wäre.
Denn so wie der junge Siebert gern als Mensch ohne Erinnerung geschildert wird, als unfähig, gesellschaftliche Strukturen zu erkennen und sich danach auszurichten, so spielt die Frage, wie eine Verletzung, ein Trauma mit der Imagination und daher mittelbar auch mit dem Erzählen zusammenhängt, eine große Rolle in jenem "Marga" überschriebenen Schlussteil.
Vielleicht ist das Misstrauen der Stimmen in diesem Roman gegenüber einer sprachlich allzu glatt geformten Geschichtsschreibung auch damit begründet. Welche Gefahr jedenfalls damit verbunden ist, benennt der Roman auch. Es gebe, heißt es am Ende des Buchs, "immer wieder Bestrebungen, den Maubachersee zuzuschütten. Wie man eine Wunde verdeckt. Wie man eine Vergangenheit so lange umdefiniert, bis nichts mehr von ihr übrig ist."
TILMAN SPRECKELSEN
Frank Witzel: "Direkt danach und kurz davor". Roman.
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2017. 552 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.10.2017Traumlose Nachtruhe
Jenseits der Zeitgeschichte: In seinem neuen Roman „Direkt danach und kurz davor“ verwandelt Frank Witzel
die Nachkriegszeit in ein unheimliches Panoptikum – und verliert sich in den Labyrinthen seiner eigenen Erzähltheorie
VON LOTHAR MÜLLER
Vor zwei Jahren gewann der Schriftsteller Frank Witzel, der 1955 in Wiesbaden geboren wurde, mit seinem Roman „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ den Deutschen Buchpreis. Darin spielte ein gelber NSU Prinz, 2 Zylinder 4-Takt, 30 PS, eine nicht unwichtige Nebenrolle. Denn in diesem Roman gehörten die Dinge, etwa Din-A-4-Hefte, Kleidungsstücke, Plastiktiere, Trockenshampoodosen, Plattenspieler oder Modelleisenbahnen zum Personal.
Erzählt wurde von einer Kindheit und Jugend, deren Echoraum weit hinausging über den Sommer 1969 und von den Fünfzigerjahren bis in die Siebzigerjahre und an den Rändern auch schon ins 21. Jahrhundert hineinreichte. John Lennon und die RAF gab es in einer Art Echtzeit und als Wesen der Erinnerung und Mythologie, und wenn jemand in einer mäandernden Exegese das Beatles-Album „Rubber Soul“ mit einem erschöpfenden Kommentar umgab, dann flossen die beiden Energieströme zusammen, die zum voluminösen Umfang des Romans beitrugen.
Der eine Energiestrom entsprang der Obsession für die Alltagskultur der alten Bundesrepublik in den Jahren, in denen sie erstmals mit solcher Wucht vom Pop erfasst wurde. Der andere entsprang der Leidenschaft für die Durchdringung des Alltags mit Theorien, für obsessive Grübeleien, für das Durchwühlen aller möglichen Schubladen voller Begriffsbestecke, egal, ob sie aus der Frankfurter Schule, der Theologie oder dem französischen Strukturalismus entstammten.
Der Historiker Philipp Felsch, Jahrgang 1972, fand für die Atmosphäre in Witzels Roman die treffende Formel „BRD noir“. Denn die „Bonner Republik“ die in den Jahren nach 1989/90, zumal im Kontrast mit der zerfallenden DDR und den Turbulenzen der Nachwendezeit in den „neuen Bundesländern“, gern als Hort selbstzufriedener, langweiliger Stabilität ironisiert wurde, wirkte hier wie eine Geisterbahn, in der zur Musik aus Rock und Pop die Gebeine aller Friedhöfe nur so klapperten. Kindermörder wie Jürgen Bartsch gehörten zum festen Inventar in den Träumen der Heranwachsenden. In der Herz-Jesu-Kirche, in der die Hauptfigur des Romans Messdiener war, erhielt um 1970 die Terroristin Birgit Hogefeld Orgelunterricht. Und während der Messe wurden heimlich „Gruselbildchen“ getauscht.
Nach einem Gesprächsband mit Philipp Felsch über das „Unheimliche“ seiner Herkunftswelt (Philipp Felsch / Frank Witzel: BRD noir, Matthes & Seitz, Berlin 2016) hat Frank Witzel nun wieder einen voluminösen Roman veröffentlicht. Er trägt den auf den ersten Blick eher blassen Titel „Direkt danach und kurz davor“, der aber an Reiz gewinnt, wenn man ihn als Umschreibung einer Schrecksekunde liest, in der ein Verhängnis oder eine Katastrophe schon eingetreten, aber noch nicht als solche ins Bewusstsein getreten ist.
Eine zentrale Figur wie den Teenager, in der die Erzählungen und essayistischen Erkundungen des Unheimlichen gebündelt werden könnten, gibt es hier nicht mehr. Aber es gibt eine Lokalisierung des Unheimlichen, die an den Vorgängerroman anschließt. Dort war eine der essayistischen Passagen, die eine Art Ideologiekritik der Objektwelt betrieben, dem Fleckenentferner K2R gewidmet: „Flecken und deren Entfernung hatten im Nachkriegsdeutschland eine besondere Bedeutung. Es gab alle möglichen Anweisungen, wie man Tinte, Ruß, Rotwein usw. entfernen konnte … Man stellte sich gegenseitig Persilscheine aus und perfektionierte die chemische Reinigung, in die man alles brachte, was einen an die verleugnete Schuld erinnerte.“
Im neuen Roman ist die Nachkriegszeit, die durch das Bewusstsein des Teenagers spukte, zum Zentrum geworden. Aber sie ist anonymisiert wie die namenlose Stadt, in der Frank Witzel diesmal große Teile des Geschehens ansiedelt. Versehrte Körper und Ruinen, Worte wie „Volksempfänger“ oder „Lager“, erfundene Romantitel wie „Traumlose Nachtruhe“ schlagen Brücken hinein in die reale Nachkriegswelt. Aber die Welt, von der hier erzählt wird, ist systematisch abgedichtet gegen die gleichnamige Jugend der alten Bundesrepublik in den Werken der Zeitgeschichte.
Es gibt nur das Grundgefühl der doppelgesichtigen Dinge und Menschen, des Grauens, das hinter schnell errichteten Fassaden nistet, der dunklen Flecken im Leben der Menschen und Institutionen. Und dort, wo in den Büchern der Historiker die politischen Ereignisse und Konfliktfelder von der „Entnazifizierung“ bis zur Wiederbewaffnung verzeichnet sind, steht hier ein kleines Lexikon zum Volksaberglauben, aus dem man, was geschehen sein könnte, deutend herauslesen muss wie aus einem Traum.
Oder auch Albtraum. Ob eine Villa eine Villa ist oder ein Privatmuseum, in dem die Technik von Menschenversuchen („Körperteilopferungen“, „Augenextraktionen“) ausgestellt wird, bleibt unklar. Attentate können fingiert sein oder auch nicht, Ereignisse durchlaufen Variationen, ohne in einer Version einzurasten. Der Konjunktiv und Worte wie „angeblich“ unterminieren alles Erzählen, dementieren direkt danach, was kurz zuvor gesagt wurde.
Das bringt ein opulentes Gestöber des Unheimlichen hervor, birgt aber ein Problem. Wohl durch den Erfolg des Teenager-Romans ermutigt, hat der Autor diesen Roman zu einem Konzeptalbum gemacht, das obsessiv dem Ideal seiner Autorschaft huldigt, der Verweigerung einer „geschlossenen“, in sich ruhenden Erzählung. Im Teenager-Roman hielten die popkulturellen Obsessionen, die Versenkungen in affektiv besetzte Details der Sprengkraft dieser Aufkündigung des Erzählens die Waage. In diesem Roman herrscht demgegenüber die Theorie-Obsession absolut. Die „Weltmechanik“, von der immer wieder die Rede ist, meint nicht nur die gewaltgestützte totalitäre Ordnung, deren Schatten über allen Biografien, Orten und Landschaften liegt. „Solange wir eine Erzählung anstreben, ein geschlossenes Narrativ, überhaupt ein Narrativ, schon den Ansatz eines Narrativs, arbeiten wir dem Entsetzlichen zu.“ An Sätzen wie diesem, die mit terminologischen Peitschenhieben die Illusionen des Realismus aus der Literatur exorzieren wollen, zeigt sich, woran dieser Roman krankt. Allzu oft opfert er die physiognomische Konkretion der Lust an allegorischen Erfindungen, in denen die theoretische Obsession des Autors sich austobt. Sie stammt aus den Achtzigerjahren, feiert in immer neuen Variationen den Aufschub und die Unterbrechung, die Suspendierung des Sinns.
Suchte der Teenager-Roman immer wieder die Nähe zur Musik, so geben hier Frage-und-Antwort-Litaneien, Listen erfundener Romane und Filme, begriffliche Exerzitien wie die „Zwanzig Ansätze zu einer Theorie des Postmortalen“ den Ton an. Der Erfindungsreichtum nötigt Respekt ab. Aber hoffentlich gibt es im nächsten Roman ein stärkeres Gegengewicht gegen den Absolutismus der Theorie.
Wörter wie „Volksempfänger“
schlagen Brücken in
die reale Nachkriegswelt
Mit terminologischen
Peitschenhieben wird dem Roman
der Realismus ausgetrieben
Frank Witzel: Direkt danach und kurz davor. Roman. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2017.
552 Seiten, 25 Euro. E-Book 19,99 Euro.
„Also machte ich mich auf in Richtung Stadt, ging die Straße hinunter und bog nach rechts in eine Gasse ein, durch die irgendwann einmal eine Straßenbahn gefahren sein musste, denn hier und da waren noch im Boden eingelassene Gleisteile zu sehen.“ So wandert am Ende von Witzels Romans ein Ich dahin.
Foto: Regina Schmeken
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Jenseits der Zeitgeschichte: In seinem neuen Roman „Direkt danach und kurz davor“ verwandelt Frank Witzel
die Nachkriegszeit in ein unheimliches Panoptikum – und verliert sich in den Labyrinthen seiner eigenen Erzähltheorie
VON LOTHAR MÜLLER
Vor zwei Jahren gewann der Schriftsteller Frank Witzel, der 1955 in Wiesbaden geboren wurde, mit seinem Roman „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ den Deutschen Buchpreis. Darin spielte ein gelber NSU Prinz, 2 Zylinder 4-Takt, 30 PS, eine nicht unwichtige Nebenrolle. Denn in diesem Roman gehörten die Dinge, etwa Din-A-4-Hefte, Kleidungsstücke, Plastiktiere, Trockenshampoodosen, Plattenspieler oder Modelleisenbahnen zum Personal.
Erzählt wurde von einer Kindheit und Jugend, deren Echoraum weit hinausging über den Sommer 1969 und von den Fünfzigerjahren bis in die Siebzigerjahre und an den Rändern auch schon ins 21. Jahrhundert hineinreichte. John Lennon und die RAF gab es in einer Art Echtzeit und als Wesen der Erinnerung und Mythologie, und wenn jemand in einer mäandernden Exegese das Beatles-Album „Rubber Soul“ mit einem erschöpfenden Kommentar umgab, dann flossen die beiden Energieströme zusammen, die zum voluminösen Umfang des Romans beitrugen.
Der eine Energiestrom entsprang der Obsession für die Alltagskultur der alten Bundesrepublik in den Jahren, in denen sie erstmals mit solcher Wucht vom Pop erfasst wurde. Der andere entsprang der Leidenschaft für die Durchdringung des Alltags mit Theorien, für obsessive Grübeleien, für das Durchwühlen aller möglichen Schubladen voller Begriffsbestecke, egal, ob sie aus der Frankfurter Schule, der Theologie oder dem französischen Strukturalismus entstammten.
Der Historiker Philipp Felsch, Jahrgang 1972, fand für die Atmosphäre in Witzels Roman die treffende Formel „BRD noir“. Denn die „Bonner Republik“ die in den Jahren nach 1989/90, zumal im Kontrast mit der zerfallenden DDR und den Turbulenzen der Nachwendezeit in den „neuen Bundesländern“, gern als Hort selbstzufriedener, langweiliger Stabilität ironisiert wurde, wirkte hier wie eine Geisterbahn, in der zur Musik aus Rock und Pop die Gebeine aller Friedhöfe nur so klapperten. Kindermörder wie Jürgen Bartsch gehörten zum festen Inventar in den Träumen der Heranwachsenden. In der Herz-Jesu-Kirche, in der die Hauptfigur des Romans Messdiener war, erhielt um 1970 die Terroristin Birgit Hogefeld Orgelunterricht. Und während der Messe wurden heimlich „Gruselbildchen“ getauscht.
Nach einem Gesprächsband mit Philipp Felsch über das „Unheimliche“ seiner Herkunftswelt (Philipp Felsch / Frank Witzel: BRD noir, Matthes & Seitz, Berlin 2016) hat Frank Witzel nun wieder einen voluminösen Roman veröffentlicht. Er trägt den auf den ersten Blick eher blassen Titel „Direkt danach und kurz davor“, der aber an Reiz gewinnt, wenn man ihn als Umschreibung einer Schrecksekunde liest, in der ein Verhängnis oder eine Katastrophe schon eingetreten, aber noch nicht als solche ins Bewusstsein getreten ist.
Eine zentrale Figur wie den Teenager, in der die Erzählungen und essayistischen Erkundungen des Unheimlichen gebündelt werden könnten, gibt es hier nicht mehr. Aber es gibt eine Lokalisierung des Unheimlichen, die an den Vorgängerroman anschließt. Dort war eine der essayistischen Passagen, die eine Art Ideologiekritik der Objektwelt betrieben, dem Fleckenentferner K2R gewidmet: „Flecken und deren Entfernung hatten im Nachkriegsdeutschland eine besondere Bedeutung. Es gab alle möglichen Anweisungen, wie man Tinte, Ruß, Rotwein usw. entfernen konnte … Man stellte sich gegenseitig Persilscheine aus und perfektionierte die chemische Reinigung, in die man alles brachte, was einen an die verleugnete Schuld erinnerte.“
Im neuen Roman ist die Nachkriegszeit, die durch das Bewusstsein des Teenagers spukte, zum Zentrum geworden. Aber sie ist anonymisiert wie die namenlose Stadt, in der Frank Witzel diesmal große Teile des Geschehens ansiedelt. Versehrte Körper und Ruinen, Worte wie „Volksempfänger“ oder „Lager“, erfundene Romantitel wie „Traumlose Nachtruhe“ schlagen Brücken hinein in die reale Nachkriegswelt. Aber die Welt, von der hier erzählt wird, ist systematisch abgedichtet gegen die gleichnamige Jugend der alten Bundesrepublik in den Werken der Zeitgeschichte.
Es gibt nur das Grundgefühl der doppelgesichtigen Dinge und Menschen, des Grauens, das hinter schnell errichteten Fassaden nistet, der dunklen Flecken im Leben der Menschen und Institutionen. Und dort, wo in den Büchern der Historiker die politischen Ereignisse und Konfliktfelder von der „Entnazifizierung“ bis zur Wiederbewaffnung verzeichnet sind, steht hier ein kleines Lexikon zum Volksaberglauben, aus dem man, was geschehen sein könnte, deutend herauslesen muss wie aus einem Traum.
Oder auch Albtraum. Ob eine Villa eine Villa ist oder ein Privatmuseum, in dem die Technik von Menschenversuchen („Körperteilopferungen“, „Augenextraktionen“) ausgestellt wird, bleibt unklar. Attentate können fingiert sein oder auch nicht, Ereignisse durchlaufen Variationen, ohne in einer Version einzurasten. Der Konjunktiv und Worte wie „angeblich“ unterminieren alles Erzählen, dementieren direkt danach, was kurz zuvor gesagt wurde.
Das bringt ein opulentes Gestöber des Unheimlichen hervor, birgt aber ein Problem. Wohl durch den Erfolg des Teenager-Romans ermutigt, hat der Autor diesen Roman zu einem Konzeptalbum gemacht, das obsessiv dem Ideal seiner Autorschaft huldigt, der Verweigerung einer „geschlossenen“, in sich ruhenden Erzählung. Im Teenager-Roman hielten die popkulturellen Obsessionen, die Versenkungen in affektiv besetzte Details der Sprengkraft dieser Aufkündigung des Erzählens die Waage. In diesem Roman herrscht demgegenüber die Theorie-Obsession absolut. Die „Weltmechanik“, von der immer wieder die Rede ist, meint nicht nur die gewaltgestützte totalitäre Ordnung, deren Schatten über allen Biografien, Orten und Landschaften liegt. „Solange wir eine Erzählung anstreben, ein geschlossenes Narrativ, überhaupt ein Narrativ, schon den Ansatz eines Narrativs, arbeiten wir dem Entsetzlichen zu.“ An Sätzen wie diesem, die mit terminologischen Peitschenhieben die Illusionen des Realismus aus der Literatur exorzieren wollen, zeigt sich, woran dieser Roman krankt. Allzu oft opfert er die physiognomische Konkretion der Lust an allegorischen Erfindungen, in denen die theoretische Obsession des Autors sich austobt. Sie stammt aus den Achtzigerjahren, feiert in immer neuen Variationen den Aufschub und die Unterbrechung, die Suspendierung des Sinns.
Suchte der Teenager-Roman immer wieder die Nähe zur Musik, so geben hier Frage-und-Antwort-Litaneien, Listen erfundener Romane und Filme, begriffliche Exerzitien wie die „Zwanzig Ansätze zu einer Theorie des Postmortalen“ den Ton an. Der Erfindungsreichtum nötigt Respekt ab. Aber hoffentlich gibt es im nächsten Roman ein stärkeres Gegengewicht gegen den Absolutismus der Theorie.
Wörter wie „Volksempfänger“
schlagen Brücken in
die reale Nachkriegswelt
Mit terminologischen
Peitschenhieben wird dem Roman
der Realismus ausgetrieben
Frank Witzel: Direkt danach und kurz davor. Roman. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2017.
552 Seiten, 25 Euro. E-Book 19,99 Euro.
„Also machte ich mich auf in Richtung Stadt, ging die Straße hinunter und bog nach rechts in eine Gasse ein, durch die irgendwann einmal eine Straßenbahn gefahren sein musste, denn hier und da waren noch im Boden eingelassene Gleisteile zu sehen.“ So wandert am Ende von Witzels Romans ein Ich dahin.
Foto: Regina Schmeken
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Lothar Müller geht's zu theoretisch zu in Frank Witzel neuem Roman. Auch wenn er den Erfindungsreichtum des Autors bewundert, der hier gern Listen und begriffliche Exerzitien führt, der Funke springt nicht über, meint Müller. Wenn Witzel die Nachkriegszeit und ihr unheimliches Grundgefühl ins Zentrum seines Texes stellt, weiß Müller vor lauter Konjunktiv und Konzept nicht mehr, ob er sich noch in einem Roman befindet oder eher in einem Lexikon des Volksaberglaubens. Der Literatur derart den Realismus auszutreiben, wäre ja vielleicht nicht nötig gewesen, meint der Rezensent bei allem Respekt vor diesem "opulenten Gestöber des Unheimlichen".
© Perlentaucher Medien GmbH
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