Die Vita der Gertrud von Ortenberg, ein in vielerlei Hinsicht singulärer Text, vermittelt aufschlussreiche Einblicke in realgeschichtliche, religiöse und gesellschaftliche Gegebenheiten des 14. Jahrhunderts im Umkreis von Beginentum, Armutsbewegung und christlicher Mystik. Als eine Frauenvita, die ohne den Einfluss männlicher Berater verfasst ist, schildert sie das religiöse Erleben ebenso wie das soziale Wirken zweier selbständig lebender Frauen, wobei vor allem Straßburg als ein Zentrum spirituellen Lebens erscheint. Einflüsse der zeitgenössischen Mystik weisen auf dominikanische und franziskanische Predigten im Umkreis von Meister Eckhart und Rudolf von Biberach; möglich sind auch Bezüge zur Mystik der Marguerite Porète. Der religiöse Paradigmenwechsel dieser Zeit samt seiner Auswirkungen auf die religiöse Alltagspraxis wird deutlich in der Konfrontation zweier gegensätzlicher Gottesbilder. Zugleich ermöglicht der Text neue Erkenntnisse zu Genese, Inhalten und Strukturen der Vitenschreibung. Die Rezeption solcher Texte wird sowohl in Parallelen zum Leben der Elisabeth von Thüringen als auch in der Rezeption der Gertrud-Vita bis hin ins 20. Jahrhundert erkennbar.
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