Am 2. Juni um 2 Uhr morgens verschwindet die gesamte Menschheit, lautlos und ohne Spuren zu hinterlassen. Zurück bleiben die Sachen und die Tiere, die sich schon bald mit wachsender Furchtlosigkeit hervorwagen, um die Erde wieder in ihren Besitz zu nehmen. Übriggeblieben ist außerdem: ein einziger Mensch, ein Einzelgänger, der mit der Welt nicht zurechtkam und sich in ebendieser Nacht das Leben nehmen wollte. In einer paradoxen Umkehrung wird der verhinderte Selbstmörder nun zum einzigen Repräsentanten menschlichen Lebens, zur Menschheit schlechthin. Offen bleibt dabei die Frage, ob er, der einzig verschont Gebliebene, ein Auserwählter oder ein Verdammter ist.
Geschrieben kurz vor dem Freitod des Autors, ist Dissipatio ein visionäres Porträt unserer heutigen Zeit, ein philosophisches Vermächtnis und das Testament eines großen italienischen Solitärs.
Geschrieben kurz vor dem Freitod des Autors, ist Dissipatio ein visionäres Porträt unserer heutigen Zeit, ein philosophisches Vermächtnis und das Testament eines großen italienischen Solitärs.
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, D, I ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Wolfgang Schneider hat etwas übrig für die auf leisen Flügelschwingen daherkommende Apokalypse in Guido Morsellis Roman von 1977. Dass die Erde nach dem Abgang des Menschen keine öde Steppe sein wird, sondern ein lebendiges Paradies, wie der Autor vermuten lässt, hat sich Schneider schon gedacht. Morsellis Geschichte um den letzten Menschen auf Erden ist für Schneider daher nicht nur ein das profunde Leiden an der Einsamkeit bildstark thematisierendes und angesichts heutiger Katastrophen hochaktuelles "Weltabschiedswerk", sondern auch die utopische Vision einer vom Menschen befreiten Erde, und das ganz ohne Terror, wie der Rezensent staunend feststellt.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.01.2022Die Katastrophen haben dieses Buch eingeholt
Guido Morsellis zivilisationsskeptischer Roman "Dissipatio humani generis" wird wiederentdeckt
Die Apokalypse bleibt aus. Die Menschheit verschwindet einfach, in einer frühsommerlichen Nachtstunde, während ein merkwürdig schwülwarmer Wind weht. Spurlos herausgesaugt aus den Straßen, Wohnungen und Schlafanzügen. Nur einer bleibt übrig - der vierzigjährige Ich-Erzähler des Romans, der seit je nicht viel für dieses Leben übrighatte.
Er war in jener fatalen Nacht entschlossen, mit sich selbst ein Ende zu machen, möglichst unauffällig. Deshalb ist er in einer Höhle durch einen "natürlichen Siphon" gekrochen, um sich in einem unterirdischen See zu ertränken. Aber dann fühlte er sich, dank eines letzten Schlucks Kognak, ein bisschen zu wohl fürs Sterben. Und kehrte Stunden später zurück in die menschenverlassene Welt. In der Höhle hat er noch einem gewohnten Gedankenspiel gefrönt: sich vorzustellen, er sei das "einzige denkende Wesen in einer völlig leeren Schöpfung". Zur Strafe kommt es so: der verhinderte Selbstmörder als letzter Repräsentant der Gattung.
Er fährt in die Stadt Chrysopolis, wo ihm angesichts der Verödung die Erklärungen ausgehen. Anders als zum Beispiel in "The Walking Dead" sind keine Spuren von Panik und Inferno zu erkennen. Es geistern keine appetitlichen Zombies herum; friedlich liegt die noch warme Leiche der Stadt da. Die Menschheit ist gewissermaßen verdunstet. Von Destruktivität künden allein die verbeulten Autos an den Straßenrändern.
Chrysopolis ("Goldstadt") ist ein Ort, den der Erzähler seit Langem als Sinnbild für das Unheil der menschlichen Betriebsamkeit verabscheut - 400 000 Kaufleute, hoch konzentrierter Reichtum, zahlreiche Banken und ebenso viele Nervenkliniken. Zürich scheint als Vorbild durch. Vor einem der großen Bankgebäude geht nun ein Huhn spazieren: "Ein Huhn. Wenn die Pferde der Apokalypse über dieses Pflaster getrabt wären - es hätte mich nicht so getroffen."
Im Original ist Guido Morsellis Abgesang auf die Menschheit 1977 erschienen. Große Aktualität hat er seitdem nicht nur im Zeichen von Klimawandel und Artensterben gewonnen. Seine beklemmende Bildsprache der verlassenen Orte lässt auch an die Fotoserien über die Zivilisation im Lockdown denken, an Bilder der menschenleeren Plätze und Straßenfluchten. Die titelgebende Formel "Dissipatio humani generis" (Zerstäubung des menschlichen Geschlechts) stammt von dem antiken syrischen Philosophen Iamblichos. Überhaupt hat der Erzähler eine Liebe zu lateinischen Formeln, spricht gerne auch von seiner "fuga saeculi". Die Einsamkeit, nach der er sich in seiner Menschenangst früher sehnte, hat er nun im Übermaß. Und muss erkennen, dass ein Mensch keiner mehr ist ohne Gegenüber. Als imaginärer Gesprächspartner dient ihm zeitweise noch sein ehemaliger Psychoanalytiker.
Guido Morselli, geboren 1912 in Bologna, kannte sich aus mit der Einsamkeit. Er war promovierter Jurist ohne Berufsausübung, halbherziger Journalist, Verfasser von neun unveröffentlichten Romanen und Empfänger zahlreicher gewundener Absageschreiben von den Verlagen. Als Sohn eines erfolgreichen Unternehmers war er mit einer Leibrente ausgestattet, die ein äußerlich sorgenfreies Leben ermöglichte. Zuletzt lebte Morselli als Privatgelehrter, dessen Kult des Alleinseins der demütigenden Erfolglosigkeit auf Dauer jedoch nicht standhielt. Am 31. Juli 1973 erschoss er sich. Bald darauf wurden seine Werke in dichter Folge publiziert, darunter "Rom ohne Papst" und der als moderner Klassiker geltende, bis heute aber nicht ins Deutsche übersetzte Roman "Il comunista".
In "Dissipatio humani generis" liegt die Pistole bereits auf dem Bett des Erzählers, kokett als "Mädchen mit dem Schwarzauge" bezeichnet. Deshalb ist es ein Weltabschiedswerk im doppelten Sinn, "geschrieben kurz vor dem Freitod des Autors", wie es im Klappentext heißt. Den Begriff "Freitod" hat Morselli allerdings abgelehnt. "Niemand hat sich jemals freiwillig das Leben genommen. Der Selbstmord ist ein Todesurteil, mit dessen Vollstreckung der Richter den Verurteilten beauftragt", heißt es in seinem Tagebuch.
Morselli war ein empfindlicher Mann, der mit der naturvernichtenden Zivilisation haderte und sich ausdauernd mit den Behörden stritt, unter anderem wegen einer geplanten Versuchsstrecke für Motorräder in der Nähe seines Refugiums, was ebenfalls einige Echos in diesem Roman findet. Schon im Jahr 1952 sprach er von der "Verteidigung des Grüns". Michael Krüger, der sich für die Wiederentdeckung dieses Romans in der bewährten Übersetzung von Ragni Maria Gschwend eingesetzt und kürzlich auch eine Hörspielfassung erarbeitet hat, stellt in seinem Nachwort deshalb die Frage, ob sich "Dissipatio humani generis" heute als Dystopie lesen lässt - oder doch eher als kühne ökologische Utopie einer vom Albdruck des Menschen befreiten Erde.
Jene Apokalyptik, die mit dem Ende des Menschen das Ende überhaupt verbindet, wird von Morsellis Erzähler jedenfalls widerlegt: "Nie war die Welt so lebendig wie heute, da eine gewisse Gattung Zweifüßler aufgehört hat, sie zu frequentieren." Sogar Gämsen und Steinböcke kommen herunter in die Täler. Nach ein paar Wochen bildet sich eine herangewehte dünne Humusschicht auf den Straßen, aus der sich erste Wildpflanzen hervorwagen. Bald wird sich eine grüne Decke über die Zivilisation legen. In Michel Houellebecqs neuem Roman "Vernichten" ist die Rede von radikalen Antinatalisten, nach deren Ideologie nur das Auslöschen der Menschheit den Planeten noch retten könne. Sie stehen im Verdacht, Cyberattacken und schwere Anschläge zu verüben, um jenem Zustand näher zu kommen, der in "Dissipatio humani generis" beschrieben wird. Hier kommt er ganz ohne Terror - auf den Flügeln eines warmen Winds. WOLFGANG SCHNEIDER
Guido Morselli: "Dissipatio humani generis". Roman.
Aus dem Italienischen von Ragni Maria Gschwend. Mit einem Nachwort von Michael Krüger. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 190 S., geb., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Guido Morsellis zivilisationsskeptischer Roman "Dissipatio humani generis" wird wiederentdeckt
Die Apokalypse bleibt aus. Die Menschheit verschwindet einfach, in einer frühsommerlichen Nachtstunde, während ein merkwürdig schwülwarmer Wind weht. Spurlos herausgesaugt aus den Straßen, Wohnungen und Schlafanzügen. Nur einer bleibt übrig - der vierzigjährige Ich-Erzähler des Romans, der seit je nicht viel für dieses Leben übrighatte.
Er war in jener fatalen Nacht entschlossen, mit sich selbst ein Ende zu machen, möglichst unauffällig. Deshalb ist er in einer Höhle durch einen "natürlichen Siphon" gekrochen, um sich in einem unterirdischen See zu ertränken. Aber dann fühlte er sich, dank eines letzten Schlucks Kognak, ein bisschen zu wohl fürs Sterben. Und kehrte Stunden später zurück in die menschenverlassene Welt. In der Höhle hat er noch einem gewohnten Gedankenspiel gefrönt: sich vorzustellen, er sei das "einzige denkende Wesen in einer völlig leeren Schöpfung". Zur Strafe kommt es so: der verhinderte Selbstmörder als letzter Repräsentant der Gattung.
Er fährt in die Stadt Chrysopolis, wo ihm angesichts der Verödung die Erklärungen ausgehen. Anders als zum Beispiel in "The Walking Dead" sind keine Spuren von Panik und Inferno zu erkennen. Es geistern keine appetitlichen Zombies herum; friedlich liegt die noch warme Leiche der Stadt da. Die Menschheit ist gewissermaßen verdunstet. Von Destruktivität künden allein die verbeulten Autos an den Straßenrändern.
Chrysopolis ("Goldstadt") ist ein Ort, den der Erzähler seit Langem als Sinnbild für das Unheil der menschlichen Betriebsamkeit verabscheut - 400 000 Kaufleute, hoch konzentrierter Reichtum, zahlreiche Banken und ebenso viele Nervenkliniken. Zürich scheint als Vorbild durch. Vor einem der großen Bankgebäude geht nun ein Huhn spazieren: "Ein Huhn. Wenn die Pferde der Apokalypse über dieses Pflaster getrabt wären - es hätte mich nicht so getroffen."
Im Original ist Guido Morsellis Abgesang auf die Menschheit 1977 erschienen. Große Aktualität hat er seitdem nicht nur im Zeichen von Klimawandel und Artensterben gewonnen. Seine beklemmende Bildsprache der verlassenen Orte lässt auch an die Fotoserien über die Zivilisation im Lockdown denken, an Bilder der menschenleeren Plätze und Straßenfluchten. Die titelgebende Formel "Dissipatio humani generis" (Zerstäubung des menschlichen Geschlechts) stammt von dem antiken syrischen Philosophen Iamblichos. Überhaupt hat der Erzähler eine Liebe zu lateinischen Formeln, spricht gerne auch von seiner "fuga saeculi". Die Einsamkeit, nach der er sich in seiner Menschenangst früher sehnte, hat er nun im Übermaß. Und muss erkennen, dass ein Mensch keiner mehr ist ohne Gegenüber. Als imaginärer Gesprächspartner dient ihm zeitweise noch sein ehemaliger Psychoanalytiker.
Guido Morselli, geboren 1912 in Bologna, kannte sich aus mit der Einsamkeit. Er war promovierter Jurist ohne Berufsausübung, halbherziger Journalist, Verfasser von neun unveröffentlichten Romanen und Empfänger zahlreicher gewundener Absageschreiben von den Verlagen. Als Sohn eines erfolgreichen Unternehmers war er mit einer Leibrente ausgestattet, die ein äußerlich sorgenfreies Leben ermöglichte. Zuletzt lebte Morselli als Privatgelehrter, dessen Kult des Alleinseins der demütigenden Erfolglosigkeit auf Dauer jedoch nicht standhielt. Am 31. Juli 1973 erschoss er sich. Bald darauf wurden seine Werke in dichter Folge publiziert, darunter "Rom ohne Papst" und der als moderner Klassiker geltende, bis heute aber nicht ins Deutsche übersetzte Roman "Il comunista".
In "Dissipatio humani generis" liegt die Pistole bereits auf dem Bett des Erzählers, kokett als "Mädchen mit dem Schwarzauge" bezeichnet. Deshalb ist es ein Weltabschiedswerk im doppelten Sinn, "geschrieben kurz vor dem Freitod des Autors", wie es im Klappentext heißt. Den Begriff "Freitod" hat Morselli allerdings abgelehnt. "Niemand hat sich jemals freiwillig das Leben genommen. Der Selbstmord ist ein Todesurteil, mit dessen Vollstreckung der Richter den Verurteilten beauftragt", heißt es in seinem Tagebuch.
Morselli war ein empfindlicher Mann, der mit der naturvernichtenden Zivilisation haderte und sich ausdauernd mit den Behörden stritt, unter anderem wegen einer geplanten Versuchsstrecke für Motorräder in der Nähe seines Refugiums, was ebenfalls einige Echos in diesem Roman findet. Schon im Jahr 1952 sprach er von der "Verteidigung des Grüns". Michael Krüger, der sich für die Wiederentdeckung dieses Romans in der bewährten Übersetzung von Ragni Maria Gschwend eingesetzt und kürzlich auch eine Hörspielfassung erarbeitet hat, stellt in seinem Nachwort deshalb die Frage, ob sich "Dissipatio humani generis" heute als Dystopie lesen lässt - oder doch eher als kühne ökologische Utopie einer vom Albdruck des Menschen befreiten Erde.
Jene Apokalyptik, die mit dem Ende des Menschen das Ende überhaupt verbindet, wird von Morsellis Erzähler jedenfalls widerlegt: "Nie war die Welt so lebendig wie heute, da eine gewisse Gattung Zweifüßler aufgehört hat, sie zu frequentieren." Sogar Gämsen und Steinböcke kommen herunter in die Täler. Nach ein paar Wochen bildet sich eine herangewehte dünne Humusschicht auf den Straßen, aus der sich erste Wildpflanzen hervorwagen. Bald wird sich eine grüne Decke über die Zivilisation legen. In Michel Houellebecqs neuem Roman "Vernichten" ist die Rede von radikalen Antinatalisten, nach deren Ideologie nur das Auslöschen der Menschheit den Planeten noch retten könne. Sie stehen im Verdacht, Cyberattacken und schwere Anschläge zu verüben, um jenem Zustand näher zu kommen, der in "Dissipatio humani generis" beschrieben wird. Hier kommt er ganz ohne Terror - auf den Flügeln eines warmen Winds. WOLFGANG SCHNEIDER
Guido Morselli: "Dissipatio humani generis". Roman.
Aus dem Italienischen von Ragni Maria Gschwend. Mit einem Nachwort von Michael Krüger. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 190 S., geb., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Große Aktualität hat er seitdem nicht nur im Zeichen von Klimawandel und Artensterben gewonnen. Seine beklemmende Bildsprache der verlassenen Orte lässt auch an die Fotoserien über die Zivilisation im Lockdown denken, an Bilder der menschenleeren Plätze und Straßenfluchten.« Wolfgang Schneider Frankfurter Allgemeine Zeitung 20220129