Schmelzende Gletscher, ansteigende Meere und ein dramatischer Erdrutsch haben das Doggerland vor achttausend Jahren verschwinden lassen. Damals verband das schon in der Steinzeit besiedelte Gebiet Großbritannien mit dem Kontinent; es gilt als das "alte Herz Europas". Heute ist das mysteriöse Land ein Schlüssel zum Verstehen des Klimawandels für die Wissenschaft – und zugleich den Zugriffen der Offshore-Industrie ausgesetzt. Margaret, Geologin aus Aberdeen, erforscht das Doggerland seit dem Ende der achtziger Jahre. Marc hingegen hat den Fachbereich Geologie an der Universität St. Andrews und seine damalige Freundin Margaret gleichermaßen abrupt verlassen und gegen ein abenteuerliches Leben als Ingenieur auf den Bohrinseln der Welt eingetauscht. Im Dezember 2013 sind beide zu einem Kongress in Dänemark eingeladen. Sie könnten sich dort wiedersehen. Doch am Vorabend ihrer Anreise wird in Großbritannien Warnstufe Rot ausgerufen: Orkan Xaver nähert sich Nordeuropa. Der Roman folgt dem Weg des Sturms und seiner zunehmenden Stärke voller Faszination; Xaver erweckt die Geister des Doggerlandes zum Leben, genauso wie die Erinnerungen der beiden an ihre gemeinsame Zeit, er fördert alte Bruchlinien zutage und wirft die Frage auf, was das Vergangene für die Gegenwart bedeuten kann.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Katharina Rudolph scheint schwer fasziniert von Elisabeth Filhols Roman über eine Wissenschaftlerin aus Aberdeen, die dem sagenhaften "Doggerland" nachspürt, einem Waldgebiet, das sich vor 7500 Jahren zwischen England und dem Festland erstreckte. Wie die Autorin Gegenwart und Vergangenheit der Protagonistin miteinander verschränkt, präzise und sprachlich raffiniert, und Fakten über die Ausbeutung der Nordsee in den Text einfließen lässt, scheint Rudolph bemerkenswert. Dass die Faszination für wissenschaftliche Details mitunter mit der Autorin durchgeht und die Story darunter etwas leidet, entgeht Rudolph allerdings nicht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.02.2021Land unter
Élisabeth Filhols Roman "Doggerland"
Einst nannte man sie "Noahs Wälder": Baumstümpfe, die manchmal, bei springtide, am Morgen nach einem großen Sturm vor den Küsten Englands aus dem Schlick der Nordsee heraustreten. Vor rund hundert Jahren, 1913, widmete der britische Geologe und Paläobotaniker Clement Reid diesen "Submerged Forests", überschwemmten Wäldern, ein ganzes Buch. Darin trug er die steile These vor, dass eben diese Bäume, Eichen, Haselnüsse, Erlen, Relikte eines untergegangenen Landes seien, das früher England mit dem europäischen Festland und Teilen Skandinaviens verbunden habe.
Margaret, Geologin aus Aberdeen, hat Reids Erstausgabe in ihrem Bücherregal stehen. Auch sie erforscht die rätselhaften Wälder, "bei Tageslicht tauchen sie langsam aus den Nebelschwaden auf: Alte Baumstümpfe, die mit ihren an den Körper gepressten Armen und krummen Beinen losmarschieren wollen, Baumstämme, die am Boden liegen und sich erheben wollen, eine alterslose Armee, die den Fluten bei Niedrigwasser entkommen ist, noch feuchtschimmernd, unter wild bewegtem Himmel". So heißt es im neuen Roman der französischen Autorin Élisabeth Filhol, der nun auf Deutsch erschienen ist. Damals, 1913, und auch noch einige Jahre später interessierte sich kaum jemand für Reids Behauptung. Mittlerweile ist längst belegt, dass er recht hatte, dass es dort, wo heute die Nordsee liegt, vor Tausenden von Jahren tatsächlich ein mehr als 20 000 Quadratmeter großes Land gab: Doggerland.
Margaret, 49 Jahre alt, ist Filhols Protagonistin. Sie arbeitet als leitende Wissenschaftlerin an der renommierten Universität von St. Andrews, hat leicht autistische Züge und war schon immer anders als andere. Das Doggerland zu erforschen ist ihre Lebensaufgabe. Die Flucht in diese ferne Welt gibt ihr Halt, denn in der eigenen fühlt sie sich oft unwohl und unsicher. Ihr zwei Jahre jüngerer Bruder Ted hat ihr zum 22. Geburtstag Reids Buch geschenkt - und damit ihre Leidenschaft für jenes versunkene Terrain geweckt. Im Jahr 2013, in dem die Rahmenhandlung des Romans spielt, bekleidet Ted eine Führungsposition beim Met Office, dem Wetterdienst des Vereinigten Königreichs. Dort untersuchen er und seine Kollegen eingehend und in höchster Anspannung das Orkantief Xaver, jenes "meteorologische Extrem", das Anfang Dezember 2013 über das nördliche Europa hinwegfegte.
Mit eindrucksvoller Präzision und sprachlichem Raffinement folgt Filhol 48 Stunden lang dem Lauf des Sturms, der "mit der Faust ausholt und alles zu Boden drückt, was ihm Widerstand leistet". Zugleich führt sie den Leser, gekonnt zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin- und herwabernd, zurück in Margarets Studienzeit. Da war sie zusammen mit Marc, einem rastlosen, wissenshungrigen, zum Exzess neigenden Kommilitonen aus Frankreich, der sie eines Tages Hals über Kopf verließ. Die Geschichte dieses ungleichen Paares kulminiert in einer Begegnung in Dänemark am zweiten Tag von Sturmtief Xaver.
Filhols vielschichtiger Roman dreht sich aber auch um die Geschichte vom Doggerland. Um Gletscherschmelze und Anstieg des Meeresspiegels; um Schleppnetze, in denen sich archäologische Funde verfangen; um die Ausbeutung, ja Ausschlachtung der Nordsee durch die Gas- und Ölindustrie ("Millionen von Bohrungen haben ihre Epidermis durchdrungen"); um Wasser und Erde, tückisch, wild und unbezähmbar - und um den Hochmut des Menschen.
Schon für ihren Debütroman "Der Reaktor", der eindringlich von der Lage prekär Beschäftigter in der Atomindustrie erzählt, hatte die Autorin sich umfassendes Fachwissen angeeignet. "Der Reaktor" sei keine Fotografie, sagte sie in einem Interview, sondern "eine Rekonstitution durch Fiktion. Dennoch, kein einziges technisches Detail ist erfunden." Dies gilt sicher auch für "Doggerland", eine Art Klima-Roman, der so dicht mit Informationen und Fakten durchzogen ist, dass man meinen könnte, Filhol, die eigentlich Wirtschaftswissenschaften studiert hat, habe ganz sicher irgendetwas mit Geologie, Archäologie, Meteorologie, Paläontologie, Seismologie oder Geophysik zu tun. Schade nur, dass all die kenntnisreichen technologischen und wissenschaftlichen Beschreibungen eine Spur zu dominant sind. So wird die faszinierende und bis zuletzt spannende Geschichte zuweilen übertönt.
Doggerland, das einst so fruchtbare "alte Herz Europas", wie manche sagen, ein "verlorenes Paradies", durch dessen Wälder wohl Mammuts, Wollnashörner, Bären und Wölfe streiften und das den Jägern und Sammlern der Steinzeit eine ertragreiche Heimat bot, wurde Stück für Stück vom Wasser verschluckt. Als das Klima sich erwärmte, wurde aus dem Land ein Eiland, das, zwischenzeitlich heimgesucht von einem riesigen Tsunami, schließlich gänzlich im Meer versank. Etwa 7500 Jahre ist das her - und auf eine gewisse Art und Weise doch aktueller denn je.
KATHARINA RUDOLPH
Élisabeth Filhol:
"Doggerland". Roman.
Aus dem Französischen von Cornelia Wend. Nautilus Verlag, Hamburg 2020. 272 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Élisabeth Filhols Roman "Doggerland"
Einst nannte man sie "Noahs Wälder": Baumstümpfe, die manchmal, bei springtide, am Morgen nach einem großen Sturm vor den Küsten Englands aus dem Schlick der Nordsee heraustreten. Vor rund hundert Jahren, 1913, widmete der britische Geologe und Paläobotaniker Clement Reid diesen "Submerged Forests", überschwemmten Wäldern, ein ganzes Buch. Darin trug er die steile These vor, dass eben diese Bäume, Eichen, Haselnüsse, Erlen, Relikte eines untergegangenen Landes seien, das früher England mit dem europäischen Festland und Teilen Skandinaviens verbunden habe.
Margaret, Geologin aus Aberdeen, hat Reids Erstausgabe in ihrem Bücherregal stehen. Auch sie erforscht die rätselhaften Wälder, "bei Tageslicht tauchen sie langsam aus den Nebelschwaden auf: Alte Baumstümpfe, die mit ihren an den Körper gepressten Armen und krummen Beinen losmarschieren wollen, Baumstämme, die am Boden liegen und sich erheben wollen, eine alterslose Armee, die den Fluten bei Niedrigwasser entkommen ist, noch feuchtschimmernd, unter wild bewegtem Himmel". So heißt es im neuen Roman der französischen Autorin Élisabeth Filhol, der nun auf Deutsch erschienen ist. Damals, 1913, und auch noch einige Jahre später interessierte sich kaum jemand für Reids Behauptung. Mittlerweile ist längst belegt, dass er recht hatte, dass es dort, wo heute die Nordsee liegt, vor Tausenden von Jahren tatsächlich ein mehr als 20 000 Quadratmeter großes Land gab: Doggerland.
Margaret, 49 Jahre alt, ist Filhols Protagonistin. Sie arbeitet als leitende Wissenschaftlerin an der renommierten Universität von St. Andrews, hat leicht autistische Züge und war schon immer anders als andere. Das Doggerland zu erforschen ist ihre Lebensaufgabe. Die Flucht in diese ferne Welt gibt ihr Halt, denn in der eigenen fühlt sie sich oft unwohl und unsicher. Ihr zwei Jahre jüngerer Bruder Ted hat ihr zum 22. Geburtstag Reids Buch geschenkt - und damit ihre Leidenschaft für jenes versunkene Terrain geweckt. Im Jahr 2013, in dem die Rahmenhandlung des Romans spielt, bekleidet Ted eine Führungsposition beim Met Office, dem Wetterdienst des Vereinigten Königreichs. Dort untersuchen er und seine Kollegen eingehend und in höchster Anspannung das Orkantief Xaver, jenes "meteorologische Extrem", das Anfang Dezember 2013 über das nördliche Europa hinwegfegte.
Mit eindrucksvoller Präzision und sprachlichem Raffinement folgt Filhol 48 Stunden lang dem Lauf des Sturms, der "mit der Faust ausholt und alles zu Boden drückt, was ihm Widerstand leistet". Zugleich führt sie den Leser, gekonnt zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin- und herwabernd, zurück in Margarets Studienzeit. Da war sie zusammen mit Marc, einem rastlosen, wissenshungrigen, zum Exzess neigenden Kommilitonen aus Frankreich, der sie eines Tages Hals über Kopf verließ. Die Geschichte dieses ungleichen Paares kulminiert in einer Begegnung in Dänemark am zweiten Tag von Sturmtief Xaver.
Filhols vielschichtiger Roman dreht sich aber auch um die Geschichte vom Doggerland. Um Gletscherschmelze und Anstieg des Meeresspiegels; um Schleppnetze, in denen sich archäologische Funde verfangen; um die Ausbeutung, ja Ausschlachtung der Nordsee durch die Gas- und Ölindustrie ("Millionen von Bohrungen haben ihre Epidermis durchdrungen"); um Wasser und Erde, tückisch, wild und unbezähmbar - und um den Hochmut des Menschen.
Schon für ihren Debütroman "Der Reaktor", der eindringlich von der Lage prekär Beschäftigter in der Atomindustrie erzählt, hatte die Autorin sich umfassendes Fachwissen angeeignet. "Der Reaktor" sei keine Fotografie, sagte sie in einem Interview, sondern "eine Rekonstitution durch Fiktion. Dennoch, kein einziges technisches Detail ist erfunden." Dies gilt sicher auch für "Doggerland", eine Art Klima-Roman, der so dicht mit Informationen und Fakten durchzogen ist, dass man meinen könnte, Filhol, die eigentlich Wirtschaftswissenschaften studiert hat, habe ganz sicher irgendetwas mit Geologie, Archäologie, Meteorologie, Paläontologie, Seismologie oder Geophysik zu tun. Schade nur, dass all die kenntnisreichen technologischen und wissenschaftlichen Beschreibungen eine Spur zu dominant sind. So wird die faszinierende und bis zuletzt spannende Geschichte zuweilen übertönt.
Doggerland, das einst so fruchtbare "alte Herz Europas", wie manche sagen, ein "verlorenes Paradies", durch dessen Wälder wohl Mammuts, Wollnashörner, Bären und Wölfe streiften und das den Jägern und Sammlern der Steinzeit eine ertragreiche Heimat bot, wurde Stück für Stück vom Wasser verschluckt. Als das Klima sich erwärmte, wurde aus dem Land ein Eiland, das, zwischenzeitlich heimgesucht von einem riesigen Tsunami, schließlich gänzlich im Meer versank. Etwa 7500 Jahre ist das her - und auf eine gewisse Art und Weise doch aktueller denn je.
KATHARINA RUDOLPH
Élisabeth Filhol:
"Doggerland". Roman.
Aus dem Französischen von Cornelia Wend. Nautilus Verlag, Hamburg 2020. 272 S., geb., 22,- [Euro].
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