Dass auch Dogmen dem Werden und Wandel nicht entzogen sind, mag für einige skandalös, für andere befreiend klingen. Michael Seewald geht dieser Provokation nach: Er erzählt die Geschichte dogmatischer Entwicklungstheorien, die von den Anfängen des Christentums bis in die Gegenwart reicht. Dabei zeigt sich: Der Spielraum für Veränderung und Reform in der Kirche ist größer als gedacht. Die Kirche war in der Vergangenheit wandlungsfähiger als viele meinen. Warum sollte ihr das nicht auch in der Zukunft gelingen? Das Buch zeigt die reiche und oft vergessene Tradition dogmatischer Entwicklungstheorien. Es macht deutlich, dass es sich lohnt, diese Ansätze aus der Versenkung hervorzuholen und neu zu beleben.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.09.2018Warum Dogmatiker mit der Zeit gehen
Offenbarung ist ein fortdauerndes Geschehen: Michael Seewald zeigt, wie sich Glaubenslehren der Kirche wandelten, und sieht dafür auch in der Gegenwart noch Spielräume
"Die Vorstellung, dass (...) die Theologiegeschichte bloß wiedergibt, was theologisch gedacht wurde, ist naiv. Denn das, was man findet, hängt auch davon ab, was man sucht." An diese einfache Wahrheit erinnert der Münsteraner Dogmatikprofessor Michael Seewald die Leser seines Buches über die Entwicklung kirchlicher Glaubenslehren gleich an zwei Stellen. Wonach er selbst sucht, gibt er klar zu verstehen: Der Blick in die Vergangenheit soll auf Möglichkeiten für Reformdiskurse der Gegenwart hinweisen, deren doktrinäre Einengung in der katholischen Kirche nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil der Verfasser bedauert.
Kirchliche Dogmen, so möchte Seewald zeigen, sind in geschichtliche Prozesse eingebettet, für die weder ein unhintergehbarer Anfang noch ein fixer Endpunkt zu benennen sind. Dogmenentwicklung stellt sich vielmehr als "die instabile Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Diskontinuität" dar - als nicht endender Versuch der Kirche, die ihr anvertraute Botschaft des Evangeliums "stets neu in die Gegenwart, die Ort und Ziel ihrer Sendung ist, hineinzutragen".
Um theologische Zugänge zum Phänomen der Dogmenentwicklung zu erheben, verarbeitet der Verfasser mit sicherer Hand Material aus der biblischen Zeit bis ins zwanzigste Jahrhundert. Der breite historische Aufriss und die Konzentration auf exemplarische Gestalten machen das Buch gut lesbar. Zugleich werden der Darstellung dadurch Grenzen gezogen. Besonders bedauerlich ist die komplette Ausblendung neuerer protestantischer Theorien der Dogmengeschichte.
Grundlegende Modelle dogmatischer Entwicklung haben ihre Wurzeln schon in der Patristik. Zum katholischen Standard wird für lange Zeit ein Konzept, das von Augustinus her seit dem Mittelalter zur Entfaltung kommt: Das der Kirche übergebene Glaubensgut ist nach dem Abschluss der Offenbarung in apostolischer Zeit objektiv komplett, aber wird im Verlauf der Jahrhunderte unter dem Beistand des Heiligen Geistes immer weiter expliziert. Dieser Fortschritt wird durch die Arbeit der Theologen vorbereitet und offiziell fixiert durch Entscheidungen des kirchlichen Lehramts, die erst ab der Frühen Neuzeit allgemein als "Dogmen" bezeichnet werden.
Spätestens im neunzehnten Jahrhundert geraten Kontinuitätskonstrukte dieser Art in die Krise. "Dogmengeschichte" etabliert sich parallel zur historischen Bibelexegese als neue Disziplin innerhalb der protestantischen Theologie. Ihr Bemühen, überzeitliche Geltungsansprüche dogmatischer Aussagen mit den Werkzeugen historischer Kritik in Frage zu stellen, fordert katholische Autoren unmittelbar heraus. Die innovativsten Antwortversuche kommen zunächst aus Tübingen.
Im Fahrwasser idealistischer Geschichtsphilosophien beschreibt Johann Sebastian Drey die Entwicklung der kirchlichen Lehre als schrittweise Ausbildung eines Systems christlicher Dogmatik. Johann Adam Möhler greift das bei den Kirchenvätern vorbereitete Bild des ekklesialen Organismus auf, der durch den Geist Christi beseelt und zum Wachstum befähigt wird. Als "transzendental-idealistisch" charakterisiert Seewald den Ansatz des englischen Konvertiten John Henry Newman, der den Glauben im kollektiven Bewusstsein der Kirche mit einer Idee vergleicht, die sich im menschlichen Geist nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten entfaltet und anreichert.
Die um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts beginnende katholische Neuscholastik sieht in solchen Theorien das Fortschrittsmoment dogmatischer Entwicklung bereits allzu stark betont. Sie diskutiert mit besonderem Eifer darüber, wie weit sich theologische Konklusionen von den Basissätzen der Offenbarung entfernen dürfen, um von der Kirche noch als Dogma verkündet werden zu können.
Seewald dokumentiert diese Problematik an dem um 1920 ausgetragenen Streit zwischen den Dominikanern Reginald Schultes und Francisco Marín-Sola, ohne leider auf den breiten Hintergrund in der frühneuzeitlichen Theologie einzugehen. Auch sein Fazit, dass die scholastischen Unterscheidungen wegen ihrer Abstraktheit für die heutige Diskussion kaum noch relevant seien, ist etwas voreilig. Denn wenn man mit Marín-Sola anerkennt, dass jede definitive kirchliche Lehraussage, selbst wenn sie sich auf nicht ausdrücklich geoffenbarte Inhalte bezieht, göttlichen (und nicht bloß kirchlichen) Glauben einfordert, wird der Begriff des Dogmas flexibel. Es ist exakt diese Tradition, die der unter Johannes Paul II. veröffentlichte Weltkatechismus zu einem vorläufigen Höhepunkt geführt hat, indem er unter die Dogmen erstmals auch Kirchenlehren rechnet, die nicht zum Offenbarungsgut im engsten Sinn gehören.
Mit der dogmatischen Starre, die als Schatten des Modernismusstreits über der katholischen Theologie des frühen zwanzigsten Jahrhunderts lag, war es schon ab 1950 vorbei. Die Definition der Aufnahme Mariens in den Himmel durch Papst Pius XII. hat die herkömmliche Konklusionsdogmatik als unzureichend erwiesen und ist bei Theologen wie Karl Rahner zum Katalysator für Modelle geworden, die mehr als zuvor im je aktuellen Glaubensbewusstsein der Kirche ein wichtiges Kriterium der Traditionserschließung ausmachen. Offenbarung, so wird im Frühwerk Joseph Ratzingers deutlich, ist ein fortdauerndes Geschehen in der Kirche, das vom Prozess seiner subjektiven Aneignung nicht schlechthin geschieden werden kann.
Seewald weist auf die Ambivalenz solcher Dynamisierungsbemühungen hin, die einerseits zugunsten eines autoritativen Lehramtspositivismus ausgenutzt werden können, andererseits aber Spielräume für gegenwartssensible Reformulierungen dogmatischer Vorgaben eröffnen.
Auch der Dogmenhistoriker darf sich jetzt als rückwärtsgekehrter Prophet versuchen. Je deutlicher die traditionell für protestantische Autoren typische Betonung der Differenz von "Dogma" und "Evangelium" auch in der katholischen Theologie Anerkennung findet, verliert strikte Kontinuität der Glaubenslehre als Maßstab kirchlicher Identität an Gewicht. Seewald jedenfalls ist zuversichtlich, dass mit den bisherigen "Reförmchen" unter Papst Franziskus die "Schmerzgrenze des an Diskontinuitäten Zumutbaren" für Katholiken noch lange nicht ausgereizt sein muss.
THOMAS MARSCHLER
Michael Seewald:
"Dogma im Wandel".
Wie Glaubenslehren sich
entwickeln.
Herder Verlag, , Freiburg 2018. 334 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Offenbarung ist ein fortdauerndes Geschehen: Michael Seewald zeigt, wie sich Glaubenslehren der Kirche wandelten, und sieht dafür auch in der Gegenwart noch Spielräume
"Die Vorstellung, dass (...) die Theologiegeschichte bloß wiedergibt, was theologisch gedacht wurde, ist naiv. Denn das, was man findet, hängt auch davon ab, was man sucht." An diese einfache Wahrheit erinnert der Münsteraner Dogmatikprofessor Michael Seewald die Leser seines Buches über die Entwicklung kirchlicher Glaubenslehren gleich an zwei Stellen. Wonach er selbst sucht, gibt er klar zu verstehen: Der Blick in die Vergangenheit soll auf Möglichkeiten für Reformdiskurse der Gegenwart hinweisen, deren doktrinäre Einengung in der katholischen Kirche nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil der Verfasser bedauert.
Kirchliche Dogmen, so möchte Seewald zeigen, sind in geschichtliche Prozesse eingebettet, für die weder ein unhintergehbarer Anfang noch ein fixer Endpunkt zu benennen sind. Dogmenentwicklung stellt sich vielmehr als "die instabile Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Diskontinuität" dar - als nicht endender Versuch der Kirche, die ihr anvertraute Botschaft des Evangeliums "stets neu in die Gegenwart, die Ort und Ziel ihrer Sendung ist, hineinzutragen".
Um theologische Zugänge zum Phänomen der Dogmenentwicklung zu erheben, verarbeitet der Verfasser mit sicherer Hand Material aus der biblischen Zeit bis ins zwanzigste Jahrhundert. Der breite historische Aufriss und die Konzentration auf exemplarische Gestalten machen das Buch gut lesbar. Zugleich werden der Darstellung dadurch Grenzen gezogen. Besonders bedauerlich ist die komplette Ausblendung neuerer protestantischer Theorien der Dogmengeschichte.
Grundlegende Modelle dogmatischer Entwicklung haben ihre Wurzeln schon in der Patristik. Zum katholischen Standard wird für lange Zeit ein Konzept, das von Augustinus her seit dem Mittelalter zur Entfaltung kommt: Das der Kirche übergebene Glaubensgut ist nach dem Abschluss der Offenbarung in apostolischer Zeit objektiv komplett, aber wird im Verlauf der Jahrhunderte unter dem Beistand des Heiligen Geistes immer weiter expliziert. Dieser Fortschritt wird durch die Arbeit der Theologen vorbereitet und offiziell fixiert durch Entscheidungen des kirchlichen Lehramts, die erst ab der Frühen Neuzeit allgemein als "Dogmen" bezeichnet werden.
Spätestens im neunzehnten Jahrhundert geraten Kontinuitätskonstrukte dieser Art in die Krise. "Dogmengeschichte" etabliert sich parallel zur historischen Bibelexegese als neue Disziplin innerhalb der protestantischen Theologie. Ihr Bemühen, überzeitliche Geltungsansprüche dogmatischer Aussagen mit den Werkzeugen historischer Kritik in Frage zu stellen, fordert katholische Autoren unmittelbar heraus. Die innovativsten Antwortversuche kommen zunächst aus Tübingen.
Im Fahrwasser idealistischer Geschichtsphilosophien beschreibt Johann Sebastian Drey die Entwicklung der kirchlichen Lehre als schrittweise Ausbildung eines Systems christlicher Dogmatik. Johann Adam Möhler greift das bei den Kirchenvätern vorbereitete Bild des ekklesialen Organismus auf, der durch den Geist Christi beseelt und zum Wachstum befähigt wird. Als "transzendental-idealistisch" charakterisiert Seewald den Ansatz des englischen Konvertiten John Henry Newman, der den Glauben im kollektiven Bewusstsein der Kirche mit einer Idee vergleicht, die sich im menschlichen Geist nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten entfaltet und anreichert.
Die um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts beginnende katholische Neuscholastik sieht in solchen Theorien das Fortschrittsmoment dogmatischer Entwicklung bereits allzu stark betont. Sie diskutiert mit besonderem Eifer darüber, wie weit sich theologische Konklusionen von den Basissätzen der Offenbarung entfernen dürfen, um von der Kirche noch als Dogma verkündet werden zu können.
Seewald dokumentiert diese Problematik an dem um 1920 ausgetragenen Streit zwischen den Dominikanern Reginald Schultes und Francisco Marín-Sola, ohne leider auf den breiten Hintergrund in der frühneuzeitlichen Theologie einzugehen. Auch sein Fazit, dass die scholastischen Unterscheidungen wegen ihrer Abstraktheit für die heutige Diskussion kaum noch relevant seien, ist etwas voreilig. Denn wenn man mit Marín-Sola anerkennt, dass jede definitive kirchliche Lehraussage, selbst wenn sie sich auf nicht ausdrücklich geoffenbarte Inhalte bezieht, göttlichen (und nicht bloß kirchlichen) Glauben einfordert, wird der Begriff des Dogmas flexibel. Es ist exakt diese Tradition, die der unter Johannes Paul II. veröffentlichte Weltkatechismus zu einem vorläufigen Höhepunkt geführt hat, indem er unter die Dogmen erstmals auch Kirchenlehren rechnet, die nicht zum Offenbarungsgut im engsten Sinn gehören.
Mit der dogmatischen Starre, die als Schatten des Modernismusstreits über der katholischen Theologie des frühen zwanzigsten Jahrhunderts lag, war es schon ab 1950 vorbei. Die Definition der Aufnahme Mariens in den Himmel durch Papst Pius XII. hat die herkömmliche Konklusionsdogmatik als unzureichend erwiesen und ist bei Theologen wie Karl Rahner zum Katalysator für Modelle geworden, die mehr als zuvor im je aktuellen Glaubensbewusstsein der Kirche ein wichtiges Kriterium der Traditionserschließung ausmachen. Offenbarung, so wird im Frühwerk Joseph Ratzingers deutlich, ist ein fortdauerndes Geschehen in der Kirche, das vom Prozess seiner subjektiven Aneignung nicht schlechthin geschieden werden kann.
Seewald weist auf die Ambivalenz solcher Dynamisierungsbemühungen hin, die einerseits zugunsten eines autoritativen Lehramtspositivismus ausgenutzt werden können, andererseits aber Spielräume für gegenwartssensible Reformulierungen dogmatischer Vorgaben eröffnen.
Auch der Dogmenhistoriker darf sich jetzt als rückwärtsgekehrter Prophet versuchen. Je deutlicher die traditionell für protestantische Autoren typische Betonung der Differenz von "Dogma" und "Evangelium" auch in der katholischen Theologie Anerkennung findet, verliert strikte Kontinuität der Glaubenslehre als Maßstab kirchlicher Identität an Gewicht. Seewald jedenfalls ist zuversichtlich, dass mit den bisherigen "Reförmchen" unter Papst Franziskus die "Schmerzgrenze des an Diskontinuitäten Zumutbaren" für Katholiken noch lange nicht ausgereizt sein muss.
THOMAS MARSCHLER
Michael Seewald:
"Dogma im Wandel".
Wie Glaubenslehren sich
entwickeln.
Herder Verlag, , Freiburg 2018. 334 S., geb., 25,- [Euro].
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