Kiran Klaus Patel und Ingo Schulze diskutieren in ihrem klugen Buch die Folgen und Wechselwirkungen von deutscher Einheit und Europäischer Integration. Mit der deutschen Einheit wurde die ehemalige DDR auch Teil des europäischen Einigungsprozesses. Seit den 1980er Jahren hatte dieser an Dynamik gewonnen: Im Februar 1992 wurde der Vertrag von Maastricht unterzeichnet, der die Europäische Union begründete. Während über den Fall der Mauer viel geschrieben wurde, fanden die Wechselwirkungen zwischen der »Herstellung der deutschen Einheit« und der europäischen Integration bisher wenig Beachtung. Dem schon lange diskutierten, kontroversen Projekt einer europäischen Währungsunion etwa verlieh die deutsche Einheit die entscheidende Schubkraft – über die Köpfe der Menschen in Ost wie West hinweg. Und die DDR-Wirtschaft musste sich nun dem Regelwerk der Europäischen Gemeinschaft anpassen. Was bedeuteten diese und andere Entwicklungen für die Bevölkerung? Der Historiker Kiran Klaus Patel, einer der besten Kenner der Europäischen Union, und der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller Ingo Schulze gehen dieser Frage in ihren Essays nach, dem Trennenden und den Gemeinsamkeiten, den Belastungen und den Gelegenheiten. So ist ein eindrucksvolles, lehrreiches und persönliches Buch entstanden, das ein neues Licht auf Europa und die Wendejahre wirft.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.03.2022Brüsseler Beifang
nach der Einheit
Vieles ist geschrieben worden in den mehr als 30 Jahren seit der deutschen Wiedervereinigung, wie alles kam, was alles versäumt wurde, was Ost- und Westdeutsche seither bewegt – und doch gibt es weiterhin diskursive Leerstellen. Diese zu füllen, ist bekanntlich nötiger denn je. Was dabei hilft, ist die Lektüre eines kleinen Essaybands, der schon in seiner Zusammenstellung recht originell ist. Der Schriftsteller Ingo Schulze und der Historiker Kiran Klaus Patel haben sich hier Gedanken gemacht. Und es geht dabei um mehr als nur den „Beitritt der DDR zur BRD und zur Europäischen Gemeinschaft“, wie der Titel verheißt.
Patel, ein exzellenter Kenner der europäischen Vereinigung, weist in seinem Beitrag darauf hin, dass die Ex-DDR ja am 3. Oktober 1990 nicht zur BRD, sondern auch der damaligen Europäischen Gemeinschaft (EG) beitrat. Dieser Brüsseler „Beifang“ trug letztlich entscheidend dazu bei, dass den Ostdeutschen die Lust auf Europa recht schnell wieder verging – und auf die Vereinigung, denn das EG-Recht kam „im Gewand westdeutscher Normen“ daher. Und es kam sofort, ohne Übergangsfristen.
Und so ist auch bei Schulze viel von vom utopischen Potenzial des Umbruchs zu lesen. Es geht um „Möglichkeitsräume“ und „Möglichkeitssinn“, um Verflechtung und die Macht der D-Mark. Die Lektüre jedenfalls weitet den Blick – bis nach Brüssel.
ROBERT PROBST
Kiran Klaus Patel,
Ingo Schulze:
Doppelt verbunden,
halb vereint. Der Beitritt der DDR zur BRD und
zur Europäischen
Gemeinschaft.
Hamburger Edition,
Hamburg 2022.
128 Seiten, 15 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
nach der Einheit
Vieles ist geschrieben worden in den mehr als 30 Jahren seit der deutschen Wiedervereinigung, wie alles kam, was alles versäumt wurde, was Ost- und Westdeutsche seither bewegt – und doch gibt es weiterhin diskursive Leerstellen. Diese zu füllen, ist bekanntlich nötiger denn je. Was dabei hilft, ist die Lektüre eines kleinen Essaybands, der schon in seiner Zusammenstellung recht originell ist. Der Schriftsteller Ingo Schulze und der Historiker Kiran Klaus Patel haben sich hier Gedanken gemacht. Und es geht dabei um mehr als nur den „Beitritt der DDR zur BRD und zur Europäischen Gemeinschaft“, wie der Titel verheißt.
Patel, ein exzellenter Kenner der europäischen Vereinigung, weist in seinem Beitrag darauf hin, dass die Ex-DDR ja am 3. Oktober 1990 nicht zur BRD, sondern auch der damaligen Europäischen Gemeinschaft (EG) beitrat. Dieser Brüsseler „Beifang“ trug letztlich entscheidend dazu bei, dass den Ostdeutschen die Lust auf Europa recht schnell wieder verging – und auf die Vereinigung, denn das EG-Recht kam „im Gewand westdeutscher Normen“ daher. Und es kam sofort, ohne Übergangsfristen.
Und so ist auch bei Schulze viel von vom utopischen Potenzial des Umbruchs zu lesen. Es geht um „Möglichkeitsräume“ und „Möglichkeitssinn“, um Verflechtung und die Macht der D-Mark. Die Lektüre jedenfalls weitet den Blick – bis nach Brüssel.
ROBERT PROBST
Kiran Klaus Patel,
Ingo Schulze:
Doppelt verbunden,
halb vereint. Der Beitritt der DDR zur BRD und
zur Europäischen
Gemeinschaft.
Hamburger Edition,
Hamburg 2022.
128 Seiten, 15 Euro.
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