Kein Wunder, dass Japans bekannteste Frauenaktivistin, die Soziologin Chizuko Ueno, in ihrem Nachwort zum Roman schrieb: »In der Sackgasse? Da hilft nur eins - Hiromi Ito!«
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Karma und Eltern wollen ständig gepflegt sein: Hiromi Itos philosophischer Familienroman "Dornauszieher"
Die 1955 in Tokio geborene Hiromi Ito ist eine der provokantesten und kreativsten feministischen Stimmen Japans. Seit den späten Siebzigerjahren erregte die als "Schamanin der Poesie" bezeichnete Autorin mit performanceartigen Lesungen Aufsehen. Frühe Werke wie "Territorialtheorien 1+2" oder "Das Medium und sein Deuter" sind Etüden über Sinn und Sinnlichkeit, Körperlichkeit und die condition féminine. Seit dem Umzug nach Kalifornien, 1997 mit ihrem zweiten Mann, einem englischen Künstler, ergänzen noch der Status als Migrantin, amerikanische Folklore ("Coyote Song"), aber auch altes asiatisches Kulturgut ("Lesarten des Herz-Sutras") ihr Repertoire.
Die spätere Ito ist scheinbar introspektiver. Auch ihr im Original 2007 erschienener Roman "Dornauszieher" kreist eher um Senilität als um Sexualität, um Probleme der superalten japanischen Gesellschaft (für 2025 wird dort ein Mangel von 377 000 Pflegekräften prognostiziert) und Verwaltung von Pflege.
Stark autobiographisch rekapituliert Ito ein transpazifisches Leben zwischen Zeitzonen, Kontinenten und Kulturen. Nachdem die Eltern in Kumamoto hilfsbedürftig geworden sind, jettet die im Tokio-Dialekt "Shiromi" genannte Erzählerin zwischen den Vereinigten Staaten und Japan hin und her. Im Crescendo dieser Kalamitäten muss sich ihr dreißig Jahre älterer Mann wegen Herzproblemen in Kalifornien operieren lassen, als Shiromi gerade in Japan weilt. Die Krankenhaus-Odyssee der im Rollstuhl sitzenden Mutter, der demente Vater, der streitlustige Ehemann, die pubertierenden Töchter mit Essstörungen und die unfallanfälligen Haustiere sorgen für akkumuliertes Leid. Ito verfängt sich im Netz ihrer Verpflichtungen zwischen westlicher Priorität der Partnerschaft und Kindes-Pietät in Japan.
Der Roman lebt vom Kontrast zwischen dem buddhistischen Leitmotiv eines Meers der Qualen und dem Humor, mit dem die Erzählerin ihre Situation schultert: etwa wenn Shiromi den in westlicher Streitkultur geschulten atheistischen, No-Theater und Ozu-Filme hassenden Gatten ("Wenn er spricht, pickt er genüsslich mein holpriges Englisch wie mit Stäbchen auf und wirft es ins heiße Tempura-Öl") mit Schweigen straft oder ihn (wie in den Mythen die Göttin Izanami ihren Gefährten) mit Pfirsichen als "Metaphern" bewirft. Oder ihrem blonden Masseur erklärt: "Wir Asiaten haben immer Tiger Balm zur Hand."
Der westlich-männlich-rationalen Welt steht im Roman ein weiblich-spirituell-schamanisches Universum gegenüber. Wie Itos Großmutter war die von Shiromi ein Medium, und die Erzählerin vergleicht sich mit einer Füchsin in Menschengestalt. Sehnsuchtsort für Generationen von Frauen in Itos realer Familie war der Tempel Koganji im Tokioter Stadtteil Sugamo: Dort wird ein "Dornauszieher" genannter Bodhisattwa verehrt, dem heilende Kräfte zugesprochen werden. Die kann man durch Zufächeln von Rauch aus einem Räucherkessel akquirieren oder indem man eine Statue des Bodhisattwa wäscht. In den Krankenhäusern Kumamotos, wo Shiromis Mutter "das Piepsen der Instrumente" umfängt, symbolisiert ein Talisman aus dem Koganji, den die Tochter ihr mitbringt, den "Geheimcode" Sugamo als Weisheit des alten Japans.
Neben Shiromis Ausflügen nach Sugamo orchestrieren Reisen zu Dichtertreffen, historische Urszenen wie die Seeschlacht von Dannoura oder Mammutbäume im Sequoia-Nationalpark die Identitätssuche der Erzählerin. Alltägliches kippt ins Surreale, wenn ein Dichter sich plötzlich zum Bodhisattwa wandelt. Oder beim Ausflug zur Westspitze von Amakusa ein "flimmerndes Gewimmel" von Totengeistern am Horizont als Wink vom "Reinen Land" erscheint, dem buddhistischen Paradies.
Shiromi vergleicht ihr Herumjetten mit der Tätigkeit eines Wandermönches. Während sich das spirituelle Interesse ihrer amerikanisierten Tochter Aiko, die sich in Japan rasch ein Tamagotchi kauft, aufs Sammeln von "Gotchi Points" als Karma-Guthaben beschränkt, begreift Shiromi beim Besuch eines No-Stücks, dass der wahre Gewinn des Wanderns darin liege, zu einer Kraft zu werden, die anderen hilft - und dadurch auch sich selbst. So ist der mit Anspielungen auf Weltliteratur - der in einer Traumsequenz entladene Zorn von Pilgerinnen auf den atheistischen Gatten verweist auf den Furor der Anhängerinnen des Dionysos in Euripides' "Bacchantinnen" - gespickte, von Irmela HijiyaKirschnereit fachkundig übersetzte Roman eine wunderbare Resilienz-Erzählung. Anrührend und ergreifend beschwört Ito das Bewahren von Würde und Emanzipationen des Humanen in den Transitzonen des Lebens. STEFFEN GNAM
Hiromi Ito: "Dornauszieher". Der fabelhafte Jizo von Sugamo. Roman.
Aus dem Japanischen von Irmela Hijiya-Kirschnereit. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021. 336 S., geb., 22,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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