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Ihr verdankt sich nicht zuletzt die Politisierung der evangelischen Kirche: Konstantin Sacher zeichnet Dorothee Sölles Weg der Radikalisierung nach.
Zum zwanzigsten Todestag von Dorothee Sölle (1929-2003) im April sind etliche Texte veröffentlicht worden, der wichtigste erschien aber erst jetzt: Der Theologe Konstantin Sacher legt ein Buch vor, in dem er Leben und Werk Sölles nachzeichnet. Der Band hat zwar bloß 160 Seiten, dringt aber tiefer in ihr Denken ein als die ebenfalls lesenswerten, von großer Zuneigung geprägten Biographien von Renate Wind und Ralph Ludwig. Sacher ist Systematischer Theologe und plante eine Habilitation über Sölle, hat dieses Projekt aufgrund seines beruflichen Wechsels zum Magazin "Chrismon" aber abgebrochen. Die Vorarbeiten hat er nun zu einem flott und persönlich geschriebenen Büchlein verarbeitet.
Sacher bemüht sich um Einfühlung und Fairness gegenüber seinem Gegenstand, leitend bleibt jedoch ein kritischer Blick. Er schildert, wie er für die Recherche zu Sölles Lebensstationen reiste und sich in feinsten Villengegenden wiederfand, von denen aus die Tochter des einflussreichen Arbeitsrechtlers Hans Carl Nipperdey Solidarität mit den Armen und Entrechteten einklagte. Sacher weist auch nach, dass es sich bei der bis heute kursierenden Erzählung, Sölles Berufung auf einen deutschen Lehrstuhl sei von konservativen Männern verhindert worden, um einen Mythos handelt, denn Sölle lehnte 1967 ein entsprechendes Angebot ab. Sicherlich stieß Sölle damals auf Widerstände und Widerspruch. Doch sie hatte auch einflussreiche Förderer - anlässlich der Verleihung der Theodor-Heuss-Medaille 1974 sprach sogar Willy Brandt. Sacher bescheinigt Sölle, die bereits in den späten Sechzigern eine Berühmtheit war und große Auflagen erzielte, eine Meisterschaft darin, "Gegenwind" (so der Titel ihrer Autobiographie) in Rückenwind zu verwandeln.
Theologisch startete Sölle als Adeptin Rudolf Bultmanns und dessen existenzialer Interpretation der Bibel, die in den Fünfzigerjahren kontrovers diskutiert wurde und von konservativen Kirchenleuten angefeindet wurde. Bultmann war, politisch betrachtet, allerdings kein Linker, formatierte seine Theologie sogar bewusst politikfern. Sölle wählte einen anderen Weg: Zunächst trieb sie Bultmanns Programm der Entmythologisierung auf eine rhetorische Spitze, indem sie sich ab Mitte der Sechzigerjahre einer "Theologie nach dem Tode Gottes" verschrieb. Sacher hält dies nicht für mehr als gelungenes Marketing, denn im Kontext der modernen Theologie seien ihre Gedanken recht üblich geblieben. Sacher geht davon aus, dass der "Tod Gottes" ein anderes Wort für eine nachtheistische Theologie ist. Das Ende des Theismus hätten die Systematischen Theologen jedoch längst eingepreist. An dieser Stelle lässt sich fragen, ob Sacher damit nicht die Gewöhnlichkeit ihrer Entwürfe unterschätzt, die häufig eben doch den Kernbestand der hergebrachten Dogmatik durch das Feuer der Metaphysik-Kritik hindurchretten wollen - was manchmal gerade für diejenigen gilt, die dabei camouflierend mit dem "Tode Gottes" klingeln.
Charakteristisch für Sölle wird neben der religiösen aber auch die politische Zuspitzung. Während ihr Bruder, der Historiker Thomas Nipperdey, an seinem dreibändigen, präzise abwägenden Werk über die deutsche Geschichte von 1800 bis 1918 saß, das nebenbei ein meisterhaftes Stück Kirchen- und Religionsgeschichte beinhaltet, radikalisierte sich Sölle immer weiter. Ihre "Politischen Nachtgebete" auf den Kirchentagen wurden zu Kristallisationspunkten für eine nachhaltige Politisierung der evangelischen Kirche. Sölle besetzte damals mit durchschlagendem Erfolg einen Platz, den später - etwas volkstümlicher, milder und mit noch höheren Auflagen - Margot Käßmann übernahm.
Sölle wollte die Christen von den Bedenken zu den Gefühlen lenken und von der Kirchenbank auf die Straße. Die Reflexionsfiguren, mit denen in der abendländischen Theologie zwischen Kirche und Staat, Religion und Politik, Theologie und Frömmigkeit unterschieden wird, wurden von Sölle dabei systematisch unterlaufen und niedergerissen. Sacher arbeitet heraus, dass wichtige ihrer Denkfiguren und auch ihre späte Wendung zur Mystik nicht zuletzt den Zweck verfolgen, die eigenen politischen Überzeugungen gegen Kritik abzuschirmen. Überzeugungen, zu denen ein maßloser Antiamerikanismus und Antikapitalismus gehörten, obschon Sölle 1975 eine Professur am einflussreichen, linksliberalen Union Theological Seminary in New York übernahm. Sölle schrieb, dass sie gerne die Fahne der Vereinigten Staaten verbrannt hätte, und verglich einen amerikanischen Richter mit Adolf Eichmann. Die Parallele zwischen den Übeln durch Uncle Sam und den nationalsozialistischen Verbrechen gehören überhaupt zu Sölles festem Repertoire, während ihr moralischer Fahndungsgeist schlagartig erlahmt, sobald es um kommunistische Machthaber geht.
Sacher schreibt, Sölle habe Westdeutschland für eine Kolonie Washingtons gehalten, und er weist nach, dass sich darin untergründig jener Nationalismus und jene deutsche Kulturarroganz wieder zeigen, die auch bei der ganz frühen Sölle zu finden sind. Über Sölles Werk steht darum auch die Frage, wie tief dieses Gedankengut im deutschen Nachkriegsprotestantismus insgesamt verankert ist. Sacher bescheinigt Sölle, mit ihrem Gespür für die Themen der Zeit, ihrem publizistischen Talent und ihrer pointierten Theologie eine bedeutende Vertreterin dieses Protestantismus zu sein. REINHARD BINGENER
Konstantin Sacher: "Dorothee Sölle auf der Spur". Annäherung an eine Ikone des Protestantismus.
Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2023. 148 S., br., 22,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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