Wir wissen: Geschichte wird geschrieben von den Siegern. Aber nicht die Besiegten sind die Opfer der Geschichte. Denn schlimmer als besiegt zu sein, ist es, des Besiegtwerdens nicht wert zu sein. Die wahren Opfer der Geschichte sind die, deren Existenz uns nicht einmal bekannt ist.Ausgehend von der Schilderung Dostojewskis Verbannung in Sibirien richtet Földényi in diesem eleganten Essay voll leiser Sprengkraft den Blick auf den blinden Fleck der Geschichte. Seine Überlegungen lesen sich wie ein kritischer Kommentar zur Gegenwart: Was aber, wenn man sie zu Ende denkt?»László Földényi hat einen wunderbar intelligenten und stilistisch brillanten Essay verfasst, der sich zum Plädoyer für die Denkfreiheit weitet.« Frankfurter Allgmeine Zeitung vom 7.04.2008
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.04.2008Sibirien II
Hegel, als er die Geschichte erfand, wünschte sich wie alle Väter, dass sein Baby über die Maßen mit Vernunft gesegnet sei. Mit einem kleinen hygienischen Eingriff half er nach, indem er Leiden, Schmutz und Aberglaube kurzerhand ausschloss. Nicht nur das ungezähmte Afrika flog so aus der Weltgeschichte heraus, auch Sibirien: "Die ganze Beschaffenheit des Landes ist nicht derart, dass es ein Schauplatz geschichtlicher Kultur wäre." Ausgehend von der Unterstellung, der nach Sibirien verbannte Dostojewskij könnte 1854 in Semipalatinsk ebendiesen Passus gelesen haben, der ihn gewissermaßen noch einmal verbannte, ja geradezu negierte, hat László Földényi einen wunderbar intelligenten und stilistisch brillanten Essay verfasst, der sich zum Plädoyer für die Denkfreiheit weitet. Földényi liest dabei Dostojewskijs "Aufzeichnungen aus einem Totenhaus" (die "Bibel des Aufbegehrens") als Replik auf das alle Zufälligkeiten und damit das bunte Leben selbst ausschließende, absolute Geschichtsverständnis. Jetzt scheint die Vernunft der eigentliche Kerker zu sein, ängstlich abgegrenzt zu allen Seiten hin. Dostojewskij hingegen sei, weil er die Hölle wahrzunehmen gezwungen war - die bunte Sibiriens und die graue der modernen Zivilisation -, für die Überschreitung der Spiel- und Einbahnstraße Aufklärung auch zur anderen Seite hin offen gewesen: "Wir könnten es als göttliche List verstehen, dass sich Dostojewskij gerade in Sibirien (. . .) von der Existenz Gottes (. . .) überzeugte." (László Földényi: "Dostojewskij liest in Sibirien und bricht in Tränen aus". Aus dem Ungarischen übersetzt von Hans Skirecki. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2008. 64 S., 10,- [Euro].) oju
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hegel, als er die Geschichte erfand, wünschte sich wie alle Väter, dass sein Baby über die Maßen mit Vernunft gesegnet sei. Mit einem kleinen hygienischen Eingriff half er nach, indem er Leiden, Schmutz und Aberglaube kurzerhand ausschloss. Nicht nur das ungezähmte Afrika flog so aus der Weltgeschichte heraus, auch Sibirien: "Die ganze Beschaffenheit des Landes ist nicht derart, dass es ein Schauplatz geschichtlicher Kultur wäre." Ausgehend von der Unterstellung, der nach Sibirien verbannte Dostojewskij könnte 1854 in Semipalatinsk ebendiesen Passus gelesen haben, der ihn gewissermaßen noch einmal verbannte, ja geradezu negierte, hat László Földényi einen wunderbar intelligenten und stilistisch brillanten Essay verfasst, der sich zum Plädoyer für die Denkfreiheit weitet. Földényi liest dabei Dostojewskijs "Aufzeichnungen aus einem Totenhaus" (die "Bibel des Aufbegehrens") als Replik auf das alle Zufälligkeiten und damit das bunte Leben selbst ausschließende, absolute Geschichtsverständnis. Jetzt scheint die Vernunft der eigentliche Kerker zu sein, ängstlich abgegrenzt zu allen Seiten hin. Dostojewskij hingegen sei, weil er die Hölle wahrzunehmen gezwungen war - die bunte Sibiriens und die graue der modernen Zivilisation -, für die Überschreitung der Spiel- und Einbahnstraße Aufklärung auch zur anderen Seite hin offen gewesen: "Wir könnten es als göttliche List verstehen, dass sich Dostojewskij gerade in Sibirien (. . .) von der Existenz Gottes (. . .) überzeugte." (László Földényi: "Dostojewskij liest in Sibirien und bricht in Tränen aus". Aus dem Ungarischen übersetzt von Hans Skirecki. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2008. 64 S., 10,- [Euro].) oju
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Arno Widmann wird ganz demütig angesichts der hohen Lese- und Auslegungskunst, die der 1952 in Ungarn geborenen Laszlo Földenyi in dem schmalen Essayband entfaltet. Wie der Titel schon andeutet, liegt dem Aufsatz wiederum Dostojewskis Lektüre zugrunde, der in der sibirischen Verbannung Hegels systematische und vernunftgeleitete Geschichtsphilosophie liest. Diese Erfahrung spiegelt Földenyi, dessen Sympathien dem russischen Romancier gehören, sowohl in Dostojewskis Verzweiflung und in seiner Hinwendung zum Glauben als auch vor seiner eigener Geschichte und der des 20. Jahrhunderts und den Schriften Dostojewskis, führt Widmann aus. En passant gelingt es dem Ungarn dabei auch noch aufzuzeigen, aus "wieviel verdrängter Dunkelheit bei Hegel die Sehnsucht nach dem Licht kommt". Eine äußerst anregende, hellsichtige und stilistisch wie wissenschaftlich glänzende Abhandlung: "Man liest Földenyi und wird deutlich klüger dabei", resümiert der begeisterte Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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