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Es ist das Jahr 1939, und auf dem Campus der Universität Indiana ist eine Revolution ausgebrochen. Alfred Kinsey, Zoologe, beschäftigt sich mit dem sexuellen Verhalten von Männern und Frauen - rein empirisch natürlich. John Milk, Student und ehrgeiziger Provinzler, gerät in seinen Bann und in seinen engsten Forscherkreis. T. C. Boyle erzählt die Geschichte eines genialen, fanatischen Helden und porträtiert dabei die prüde und heuchlerische Gesellschaft des Amerikas der vierziger und fünfziger Jahre.

Produktbeschreibung
Es ist das Jahr 1939, und auf dem Campus der Universität Indiana ist eine Revolution ausgebrochen. Alfred Kinsey, Zoologe, beschäftigt sich mit dem sexuellen Verhalten von Männern und Frauen - rein empirisch natürlich. John Milk, Student und ehrgeiziger Provinzler, gerät in seinen Bann und in seinen engsten Forscherkreis. T. C. Boyle erzählt die Geschichte eines genialen, fanatischen Helden und porträtiert dabei die prüde und heuchlerische Gesellschaft des Amerikas der vierziger und fünfziger Jahre.

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Autorenporträt
T. Coraghessan Boyle, 1948 in Peekskill, N.Y., geboren, ist der Autor von zahlreichen Romanen und Erzählungen, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Bis 2012 lehrte er Creative Writing an der University of Southern California in Los Angeles. Bei Hanser erschienen zuletzt Das wilde Kind (Erzählung, 2010), Wenn das Schlachten vorbei ist (Roman, 2012), San Miguel (Roman, 2013), die Neuübersetzung von Wassermusik (Roman, 2014), Hart auf hart (Roman, 2015), die Neuübersetzung von Grün ist die Hoffnung (Roman, 2016), Die Terranauten (Roman, 2017), Good Home (Stories, 2018), Das Licht (Roman, 2019), Sind wir nicht Menschen (Stories, 2020), Sprich mit mir (Roman, 2021) sowie Blue Skies (Roman, 2023).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.05.2005

Dreihundertfünfzig Fragen, die niemanden etwas angehen
Danach ist alles erst einmal ein bißchen unscharf: "Dr. Sex", T.C. Boyles Roman über den Sexualstatistiker Alfred Kinsey und die praktischen Seiten der Theorie

Vor elf Jahren, als T. C. Boyle etwa die halbe Wegstrecke von der heißen Kultfigur in der Nachbarschaft eines Chadwick oder Gibson zum coolen Kritikerliebling auf Augenhöhe mit Paul Auster oder Don DeLillo zurückgelegt hatte, durfte ihn "Mondo 2000", die klügere, weniger technotrottelig kleinkarierte und inzwischen leider eingegangene Cousine der Zeitschrift "Wired", zu seinem Literaturverständnis und zum Umgang mit zeitgeschichtlichen Stoffen befragen. Boyle hatte glücklicherweise gerade seinen entspannten Tag und gab zu Protokoll: "Ich bin kein James Michener oder irgend so ein traditioneller historischer Romancier, der sich für die Rekonstruktion des Gewesenen interessiert. Ich möchte diese Sachen als Sprungbretter der Vorstellungskraft behandeln, als Abstoßungspunkte für die Untersuchung eines abstrakten Themas. Das ähnelt ein bißchen dem, wie sich Science-fiction-Autoren die Zukunft vorstellen. Es ist so ein Ort. Es ist halt so ein Ding."

So ein Ding ist auch "Dr. Sex", Boyles neues und über weiteste Strecken gewohnt charmantes und lebhaftes Buch. Es geht darin um das Leben und Wirken jenes Professors Kinsey (oder "Prok", wie er hier - der Spitzname ist historisch verbürgt - neckisch-vertraulich heißt), der mit seinen sexualstatistisch-soziometrischen Forschungen in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren einiges bewegt hat. Je nachdem, wen man in den Vereinigten Staaten der Gegenwart dazu befragt, hat Kinsey entweder a.) in heilsamer Weise die Fassade neobiedermeierlicher Normalität in "God's Own Country" gesprengt und Praktiken aufs Lebensstil-Menü gesetzt, die bis dahin nur im Dunkeln zu sich selbst kommen durften, oder aber b.) pädophilen, homosexuellen Gottesleugnern, Leibvergiftern und Fruchtabtreibern bei ihrem Ansturm auf alles, was den Untergang des Abendlandes noch verhindern kann, nach Kräften assistiert. (Zutreffendes bitte ankreuzen, der Mann liebte Multiple-Choice-Fragebögen.)

So lang die mitunter breit farcen- und fratzenhafte Geschichte dauert, schlüpft Boyle in die Larve des hochgradig unzuverlässigen Erzählers John Milk, der wohl eher nicht nach der ermordeten Homosexuellen-Ikone Harvey Milk so heißt, sondern vielmehr die Käsigkeit, Homogenität und Pasteurisiertheit der prüden Fünfziger als Nachnamensbuckel mit sich herumschleppen soll. Milk stößt als Helfer und Apostel zur Sexologen-Urgemeinde - "Ich lernte. Von Prok. Vom Meister persönlich. Und ich zuckte nicht zusammen, ich schlug nicht die Augen nieder, mein Gesicht verriet nichts" - und muß trotz vorbildlicher Neugier und Belastbarkeit bald erleben, daß nicht nur die tabellarisch aufbereitete Horizonterweiterung, sondern auch das, "was ich mit Mac und Prok im Bett getrieben hatte", sein Leben neu formatiert, seine emotionale Bindungsfähigkeit in Gefahr bringt.

Das Ganze ist, wie bei diesem Thema nicht anders zu erwarten, vor allem ein Buch der schönen Stellen. Das sind nicht unbedingt säuische, sondern eher niedlich-peinliche wie jene, in der Boyle beschreibt, daß auch noch die Mutter des Erzählers in den Sog der Sexvermessung gerät wie in einen metabolisch-diskursiven Superstaubsauger: "Prok, nahm ich an, hatte über das Projekt gesprochen und sie wie praktisch jeden anderen davon überzeugt, ihm ihre Geschichte zu erzählen. Die Geschichte meiner Mutter. Am folgenden Tag oder noch am selben Abend würde sie ihm zwei Stunden lang gegenübersitzen und die dreihundertfünfzig Fragen beantworten: Über ihre Masturbationsgewohnheiten, wie oft sie sich selbst bis zum Orgasmus stimulierte und mit welchen Männern sie seit dem Tod meines Vaters geschlafen hatte."

Daß "danach alles ein bißchen unscharf" wird für den armen Ödipus, kann man ihm durchaus nachfühlen. Obwohl der Leser gerne über Strecke von gut vierhundertfünfzig Seiten folgt, bleibt das Ganze letztlich - und hier bietet sich ein Wort aus der untersuchten problematischen Sphäre selbst an - unbefriedigend.

Was nämlich Boyles heitere Pointenfolge auf die lange narrative Strecke nachhaltig ausdünnt, den Erzählton mitunter geradezu brüchig und schütter macht und den Spaß am ausgebreiteten Einfallsreichtum gleichsam von innen her angreift, ist die metaphysisch-zeitkritische Grundannahme, die der Autor mit vielen ihm intellektuell unterlegenen Leuten teilt: die falsche Vorstellung, Sexualität stehe im spätabendländischen Kulturkreis vor allem unter dem Bann von Wissenschaft und Technokratie.

Diese These hat die Evidenz von Ratgeberliteratur und zu bloßer Ejakulationsstatistik verflachter Aufklärung für sich, den ganzen seichten, aber beichtfreudig-exhibitionistischen Positivismus. Diese Faktoren gibt es durchaus, aber sie sind abgeleitete. Denn im großen Remmidemmi um die Lust, das man im nachsexualrevolutionären Westen täglich angedreht bekommt, sind die klinischen und szientistischen Töne Momente einer viel größeren Dynamik, und die ist wesentlich nicht technisch oder wissenschaftlich, sondern kulturindustriell, das heißt: pornographisch und phantastisch, geleitet von Vorstellungen, nicht von Befunden. Heute wissen wahrscheinlich mehr junge Amerikaner über Entführungen von Menschen durch Außerirdische zum Zweck der zweigeschlechtlichen Erzeugung bizarrer Hybridwesen Bescheid als über die Funktionsweise der wichtigsten Verhütungsmittel.

Der große Makel, der "Dr. Sex" ebenso wie viele andere literarische Auseinandersetzungen amerikanischer Gegenwartsautoren mit derlei Themen entstellt, ist die Abstinenz der Dichtung gegenüber den einschlägigen populären Genres. Die Hipster-Literaten lassen deren Errungenschaften nur als Ornament zu: Sie lesen, wenn sie sich der Computerwelt zuwenden, vorher nicht genug Science-fiction, sie umschiffen, wenn sie einen Mord behandeln, zweihundert Jahre Kriminalliteratur, und sie schreiben, wenn sie sich wie Boyle in Werken wie "Willkommen in Wellville", "Riven Rock" oder nun eben in "Dr. Sex" mit Sex abgeben, gänzlich unbeleckt von jedem Kontakt mit zeitgenössischer Pornographie.

Nichts in diesem Buch atmet also die melancholische Weisheit von "Scarlet Diva", einer Filmsatire auf die Pornowelt der Mittzwanzigerin Asia Argento; nirgends kommt der von Kinsey vorbereitete, eben nicht einfach "befreite", sondern wie in Desinfektionsmittel gebadete, steril glamouröse American Sex so aufschlußreich vor wie in den Filmen der Firma "Vivid"; nie erreicht Boyle die unsentimental bestechende Datenfülle der nicht ohne Grund auf die Bestsellerliste der "New York Times" gelangten Autobiographie "How to . . . make love like a porn star" von Jenna Jamerson, der erfolgreichsten Pornodarstellerin aller Zeiten.

Denn Boyle interessiert sich nicht für Proben dessen, was uns trotz überwundener Nachkriegsbigotterie immer noch beschäftigt, sondern für das, was in einem kleinen Zirkel elitärer Sexkundschafter ausgekocht wird. Die Vermutung liegt nahe, daß er das tut, weil solche Vorgänge seiner Idee davon entgegenkommen, was der gleichfalls kleine Zirkel wissender, erzähltechnisch hochgerüsteter Zeitschriftsteller leisten kann. Boyle steht zu Pynchon wie sein Erzähler Milk zu Kinsey; das Thema Ferkelwelt aber ist einfach zu komplex und zu schade, um für solche obsoleten Edelfeder-Inszenierungen den billigen Hintergrund abzugeben.

T. Coraghessan Boyle: "Dr. Sex". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Dirk van Gunsteren. Hanser Verlag, München 2005. 468 S., geb. , 24,90 [Euro]

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

In Europa werden Buch und Film über den Sexualforscher Kinsey kaum die gleiche Empörung hervorrufen wie in Amerika, ist sich Julia Encke sicher. Das eine hat aber mit dem anderen nicht viel zu tun, weiß sie auch: anders als Bill Condon in seinem Film "Kinsey" setze T.C. Boyle dem Wissenschaftler kein romantisches Denkmal. Eher portraitiere er ihn als egomanen Wissenschaftler, der vom Zweiten Weltkrieg oder der Atombombe keinerlei Notiz genommen hat. "Dr. Sex" wird aus der Warte eines (von Boyle erfundenen) Assistenten geschildert, berichtet die Rezensentin, der sich zwischen den Anforderungen seines Jobs und der ablehnenden Haltung seiner Frau zerrieben sehe. Job und Privatleben seien für John Milk nicht klar zu trennen, erläutert Encke, da Kinsey den völligen Einsatz seiner Mitarbeiter fordere, nicht nur zeitlich, sondern auch als Experimentiersubjekte. Was den Autor interessiere, sei der "bittere Beigeschmack der Befreiung", erklärt Encke, weshalb Boyle die ambivalenten Seiten dieses schonungslosen Sexaufklärers herausarbeite und dabei ein "aufregend quälendes Porträt" von Kinsey zustande gebracht habe.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.03.2005

Sex Dollar fünfzig
Der manische Zoologe: T. C. Boyles Roman „Dr. Sex” über Alfred C. Kinsey
Mit ihm begann die sexuelle Revolution. Er wusste das. Und doch hatte weder Alfred C. Kinsey noch der engste Kreis seiner Mitarbeiter mit dem tornadogleichen Wirbel gerechnet, der losbrach, als im Januar 1948 sein Buch über „Das sexuelle Verhalten des Mannes” erschien: Das Institutstelefon hörte gar nicht mehr auf zu klingeln. Journalisten wollten Interviews, Zeitschriften-Verleger mit ihm verhandeln, Ärzte beschimpften ihn, und Frauen wie Männer drängten darauf, ihm sein Herz auszuschütten.
„Prok”, wie seine Vertrauten, zuhause an der Uni in Bloomington, Indiana, ihren Professor nannten, wurde binnen kürzester Zeit zum bekanntesten Amerikaner nach dem US-Präsidenten. Für sprichwörtliche „sex Dollar fünfzig” ging sein Sexbuch weg wie warme Semmeln, während im Radio und in der Jukebox Martha Rayes „Ooh, Dr. Kinsey” und der legendäre „Kinsey Boogie” rauf und runter liefen. Kinsey wurde geliebt und gehasst, verehrt und - spätestens nach Erscheinen seines zweiten Bandes, „Das sexuelle Verhalten der Frau” - ernsthaft verfolgt. Denn die Statistiken über die sexuellen Aktivitäten des Mannes in Ehe- und ganz anderen Betten, mit den Prostituierten von Indianapolis, in der Schwulenszene von Chicago oder mit Tieren auf den Farmen des Mittelwestens, waren das eine. Dass „Dr. Sex” im zweiten Teil jedoch auch dem weiblichen Geschlecht eine eigene Sexualität einräumte und akribisch belegte, 62 Prozent der amerikanischen Frauen hätten schon masturbiert und 50 Prozent vorehelichen Verkehr gehabt - das ging gar nicht. McCarthy diffamierte den bekennenden Republikaner Kinsey stur als Kommunisten, und FBI-Cef J. Edgar Hoover - im Privaten ein leidenschaftlicher Träger von Damenunterwäsche - legte umfangreiche Akten über ihn an.
Es gibt wohl nichts, was die Doppelmoral des puritanisch-sexbesessenen Amerika besser vor Augen führt als die Wirkungsgeschichte der biologistischen Datensammlung Alfred C. Kinseys. Und selbst wenn man immer meint, dass sich seit den fünfziger Jahren so einiges verändert hat, wenn sich viele längst enthemmt und befreit glauben, verwundert es am Ende doch nicht, dass das bloße K-Wort zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch Sprengstoff sein kann: Als im Zuge einer Art Kinsey-Renaissance vor wenigen Monaten der Regisseur Bill Condon seinen Film „Kinsey” mit Liam Neeson in der Hauptrolle auf die Leinwand brachte und der etablierte Punk unter den Bestseller-Autoren, T. C. Boyle, einen Roman über „Dr. Sex” veröffentlichte, standen, déjà-vu-artig, die üblichen Verdächtigen auf der Matte.
Die „Traditional Values Coalition”, der 43 000 Kirchen angehören, ließ es sich nicht nehmen, den Zoologen noch einmal als den „einflussreichsten sexuell Perversen in der Geschichte der Nation” zu bezeichnen, und rief bibeltreue Fundamentalisten dazu auf, alle weiteren Produktionen der Fox-Filmstudios zu boykottieren. Der öffentlich-rechtliche Sender Channel 13 wies einen Werbespot für den Film zurück, weil er „zu provokativ” sei. Kinsey dürfte sich im Grabe umgedreht und sehnsüchtig nach Europa geblickt haben, wo weder der Film, der Ende März bei uns in die Kinos kommt, noch der gerade auf Deutsch erschienene T. C. Boyle Gefahr laufen, zum Skandal auszuarten - nach Kinsey-Maßstäben eine deutliche Errungenschaft.
„Ich bin sicher, ich hätte ihn absolut unerträglich gefunden”, hat Boyle in einem Interview über seinen Protagonisten gesagt. „Ich glaube, das wäre jedem so gegangen, es sei denn, man wäre einer seiner Jünger gewesen. Kinsey war völlig egomanisch. Für ihn war nur sein Projekt wichtig - und damit er selbst. Der Mann war hochgebildet, Professor, und hat in den vierziger Jahren nicht ein einziges Mal über den Weltkrieg gesprochen. Oder über die Atombombe.” Sein Roman ist aus diesem Grund auch keine uneingeschränkte Feier und, anders als der Film, alles andere als das romantische Porträt eines buchstäblichen Vorreiters. Romantik ist Boyles Sache bekanntermaßen nicht. Er begibt sich in das Dickicht der Ambivalenzen, der uneingestandenen Widersprüche. Was ihn interessiert, ist der bittere Beigeschmack der Befreiung. Also hält er sich, wo es um die Person Kinsey geht, detailgenau an die historische Überlieferung, erfindet sich aber einen hübschen, talentierten und ewig stotternden Studenten, den engsten Mitarbeiter Proks, John Milk, den er erzählen lässt, den er vorführt und den er in die Enge treibt.
Niemand, außer Kinsey, glaubt so sehr an „die Sache” wie John Milk. Niemand folgt ihm so bedingungslos nach, ist, wenn es sein muss, rund um die Uhr zur Stelle, schläft mal mit ihm, mal mit der Professorengattin Mac und vergisst irgendwann sogar, bei den Tausenden von Interviews, die sie führen, und in denen Amerikaner aller Schichten über ihre sexuellen Gewohnheiten und Erfahrungen befragt werden, zu erröten. John Milks Geschichte ist die Geschichte eines Meisterschülers, und sie wäre die einer steilen Karriere, wäre da nicht Iris, Milks junge Frau, die gegen den Guru und dessen das Privatleben der Mitarbeiter völlig vereinnahmende Doktrin aufbegehrt. Dass ihr Ehemann mit Kinsey hunderte Männer einlädt, einer nach dem anderen vor der Filmkamera und auf ausgerolltem, den Teppich schützenden Papier zu onanieren, um herauszufinden, ob während der Ejakulation die Samenflüssigkeit unter Druck „herausgespritzt” werde oder ob sie „tröpfelnd” herausquillt - das ist sein Job, damit kann sie leben. Dass aber auch sie sich, wie die anderen, an den Mitarbeiter-Experimenten beteiligen und am Ende von Prok höchstpersönlich beschlafen lassen soll („Wir sind bloß menschliche Säugetiere!”), das geht ihr zu weit.
Boyle lässt den zwischen Prok und Iris hin- und hergerissenen John Milk wie einen Hund leiden, ohne sich am Ende für die eine oder die andere Seite zu entscheiden. Mit Kinsey erklärt er Sex zur selbstverständlichsten Sache der Welt und beharrt gleichzeitig auf dessen eigenwilligem Zauber. Es ist diese Zerrissenheit, die sein Roman zu einem aufregend quälenden Porträt Kinseys macht.
JULIA ENCKE
T. C. BOYLE: Dr. Sex. Roman. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. Carl Hanser Verlag, München 2005. 470 Seiten, 24,90 Euro.
Alfred Kinsey (Mitte), 1953, mit seinen Mitarbeitern, mit denen er ohne Probleme auch Sex hatte.
Foto: UPI/SZ-Archiv
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"T.C. Boyles gelungene Romanstudie über den Sexualforscher Alfred C. Kinsey. T.C. Boyle gelingt es, einen ganzen großartigen Roman lang, einen kostbaren Erregungspegel zu halten und uns gleichzeitig zu erstaunten Zeugen dieser Erregung zu machen. ... Auf der Klaviatur der Sinne gelingen Boyle Botschaften von erstaunlicher Komplexität."
Walter van Rossum, Die Zeit, März 2005

"Wilder Poet und hinreißender Bestsellerautor."
Stephan Draf, Stern, Oktober 2005

"Eine beißende Satire auf den großen Meister."
Gala, 03.03.05

"Ein aufregend quälendes Porträt Kinseys."
Julia Encke, Süddeutsche Zeitung, 08.03.05

"Boyle, für uns einer der besten zeitgenössischen Erzähler."
Brigitte, 02.03.05

"Es ist das Spezialgebiet von Boyle, die groteske Mechanik zu erkunden, mit der utopische Paradiesentwürfe scheitern an der menschlichen Natur. Selten war Boyle so gut in Form wie in Dr. Sex. Der Witz und die Kraft des Romans ergeben sich fast von selbst aus den bizarren Glaubensbekenntnissen und bösen Irrtümern einer aufkeimenden Revolution."
Thomas Hüetlin, Der Spiegel, 14.02.05

"Geschichten, die so leicht daherkommen wie ein guter Song, dessen Rhythmus einem nicht mehr aus dem Kopf geht."
Nike Vlachos, Playboy, März 2005

"Eine differenzierte und ironische Charakterstudie."
Susanne Kunkel, Welt am Sonntag, 27.02.05

"Der seltsamste Bestseller-Autor der Welt."
Nike Vlachos, Playboy, März 2005
Keiner schreibt so anspruchsvoll und lustig über Freaks und Utopisten, reale Persönlichkeiten (Kinsey, Kellogg, Wright) und historische Ereignisse. Günter Keil Playboy 20180117