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Lange Suche und langes Leben - das Schicksal des ehemaligen SS-Arztes Aribert Heim
Doktor wer? Die "lange Jagd nach dem meistgesuchten NS-Verbrecher" kündigt der Untertitel dieses Buches an. Der amerikanische Originaltitel lautet gar: "The Eternal Nazi". Doch es geht nicht etwa um Josef Mengele - sondern um den eher unbekannten Aribert Heim. Der Mediziner trieb sein Unwesen im Konzentrationslager Mauthausen, das als Lager mit den härtesten Haftbedingungen galt. Der SS-Arzt Heim war nur einige Monate dort. Nach Aussagen von Häftlingen hat er mehrfach pro Woche Juden zu sich bringen lassen und sie mit Benzinspritzen in Venen und Herz getötet. Einem Jungen soll er bei vollem Bewusstsein den Bauch aufgeschlitzt und die Gedärme entnommen haben. Heim soll sich "auf das Gemütlichste" mit seinen Opfern unterhalten und sie dann grausam getötet haben. Damit fiel Heim in Mauthausen auf, aber er war doch nur einer von vielen. Er war auch einer von nicht wenigen, denen noch ein langes Leben beschieden war - ohne dass sie je vor Gericht standen.
Heim wurde am 28. Juni 1914, dem Tag der Ermordung des österreichischen Thronfolgers, im steirischen Radkersburg geboren, verlor früh den Vater, studierte Medizin. Sein älterer Bruder schloss sich früh Hitlers "Österreichischer Legion" an und fiel später als Fallschirmjäger auf Kreta. Aribert Heim, ein sehr großer, gutaussehender Mann, der österreichischer Eishockey-Nationalspieler war, kam nach seiner Zeit in Mauthausen nach Finnland und an die Ostfront, wurde verwundet und ausgezeichnet. Nach dem Krieg arbeitete er wieder als Arzt. Zunächst in Gefangenschaft, wo ihm seine amerikanischen Bewacher eine "ausgezeichnete" und "lebenswichtige" Arbeit bescheinigten. Im Zuge einer Amnestie kam Heim nach 1947 frei. Bald darauf wurde er als "Mitläufer" eingestuft. Heim arbeitete erfolgreich für ein Sanatorium in Bad Nauheim und spielte dort auch wieder Eishockey. Er heiratete eine Medizinerin. Kurz nach der Hochzeit wurde in Österreich Haftbefehl gegen Heim erlassen - wegen "Mord, Quälereien und Misshandlungen sowie der Verletzung der Menschenwürde und Menschlichkeit". Amerikanische Fahnder trafen den Arzt aber nicht mehr in Bad Nauheim an.
Heim und seine Frau bezogen 1953 eine Villa in Baden-Baden, die die Eltern der Braut gekauft hatten. Der einstige SS-Arzt betrieb nun eine gynäkologische Praxis, seine Frau war zunächst ebenfalls selbständige Medizinerin. Heim war auch als Pharmavertreter tätig, reiste umher und erwarb Immobilien. An einem Morgen im September 1962 verließ Aribert Heim seine Familie - und kehrte offenbar nie zurück. Er wusste, warum. Heim war wohl, wie manch anderer, gewarnt worden, denn am nächsten Tag erschienen Polizisten und durchsuchten das Haus.
Heim floh nach Ägypten, wo er recht unbehelligt leben konnte. 1980 konvertierte er zum Islam. Die Autorin Souad Mekhennet, die für die "Washington Post" wie für diese Zeitung geschrieben hat, fand dort den Koffer mit seinen letzten Habseligkeiten. Im Zuge der Recherchen zu diesem spannend geschriebenen, wenn auch etwas sprunghaft aufgebauten Buch, waren sie und ihr Ko-Autor Nicholas Kulish, ehemaliger Leiter des Berliner Büros der "New York Times", eine Nacht in einem ägyptischen Geheimgefängnis inhaftiert, wo sie Folterschreie zu hören bekam und ihr eine Pistole an den Kopf gehalten wurde.
Das Buch erzählt nicht nur von Heim, sondern auch von seinem hartnäckigsten Verfolger, dem Kriminalbeamten Alfred Aetner, wie Heim einst Soldat und Träger des Eisernen Kreuzes, etwas dandyhaft und zugleich wie besessen daran arbeitend, NS-Verbrecher zur Rechenschaft zu ziehen. Nicht selten wurde er anfangs als "Verräter" beschimpft. Doch nicht zuletzt die 1979 in Deutschland ausgestrahlte amerikanische Serie "Holocaust" sorgte nicht nur für einen neuen Blick auf die Vergangenheit, sondern auch für neuen Schwung in den Ermittlungen. Anwaltlich gut beraten und von den Einnahmen eines Berliner Mietshauses gut versorgt, musste sich Heim, der in Kairo als beliebter Exilant lebte, in selbstgewählter Abwesenheit einem Spruchkammerverfahren stellen. Der Vorsitzende kam zu dem Schluss, Heims Verbrechen seien "schauerlicher und schrecklicher als jene, die in dem Film Holocaust gezeigt wurden". Heim wurde nun als Hauptschuldiger eingestuft. Die Berliner Einnahmen fielen weg. 1992 soll er im Beisein eines Sohnes gestorben sein. Ein Grab ist nicht bekannt.
Der ewige Nazi? Das ist tatsächlich eher ein Spruch für den amerikanischen Markt. Heim hat in einem offenbar nie abgeschickten Brief alle Vorwürfe abgestritten und hob hervor, dass er Juden schätze und dass er gegen seinen Willen nach Mauthausen abkommandiert worden sei. Mit Blick auf die Karriere von Hans Globke schrieb Heim: "Der kleine Mann soll nun büßen." Wäre nicht nach ihm gesucht worden, hätte Heim sein Leben wohl als angesehener Arzt in Deutschland beschlossen, ohne je wieder politisch oder gar strafrechtlich auffällig zu werden. Das ist das Verstörende: Mediziner wie auch Juristen zeigten sich allzeit bereit: zu jedem Zweck einsetzbar. Ist der Spuk vorbei, dann gilt auch wieder der Eid des Hippokrates. Über das materielle Erbe des Dr. Aribert Heim wird noch gestritten. Aber das Bewusstsein, dass auch wieder ganz andere Zeiten anbrechen könnten, gehört auch zu diesem Erbe, ja zum deutschen Erbe, das es zu bewahren gilt.
REINHARD MÜLLER
Nicholas Kulish, Souad Mekhennet: Dr. Tod. Verlag C.H. Beck München 2015, 351 Seiten, 24,95 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Martin Gehlen, Tagesspiegel, 8. Juli 2015
"Detailgetreu und fesselnd geschrieben."
Martin Gehlen, Cicero, 23. Juni 2015
"Ein zeithistorischer Krimi."
Hörzu Buchtipp, 20. Februar 2015
"Spannend geschrieben."
Reinhard Müller, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. März 2015
"Ein Buch gegen das Vergessen und wider die Inhumanität."
Patrick Fritsch, Badisches Tagblatt, 12. Februar 2015
"Souad Mekhennet ist eine kluge und beharrliche Rechercheurin, ihr und Nicholas Kulish geht es allein um Wahrhaftigkeit. Erst, wenn jeder Stein gehoben, jedes Blatt umgedreht ist, beginnen sie zu erzählen - fesselnd und überzeugend."
Claus Kleber
"Unglaublich: Eine junge, arabischstämmige deutsche Journalistin findet den jahrzehntelang gesuchten NS-Verbrecher. Souad Mekhennet und Nicholas Kulish zeigen, was der Mut und das Engagement Einzelner bewirken können. Ein faszinierendes, ein wichtiges Buch."
Iris Berben, November 2014
"Eine spannende Geschichte"
Thomas Röbke, FürSie, August 2014