Rumänien 1989: Die Hitze ist drückend, das Getreide steht hoch, sonst würde man bis zur Grenze sehen können. Der Gedanke an Flucht liegt verlockend und quälend nahe, noch weiß niemand, was kommt und was in ein paar Monaten Geschichte sein wird. In einem Dorf im Banat, weit weg von Bukarest, dem Machtzentrum desCeaüescu-Regimes, erlebt Anna einen Spätsommer von dramatischer und doch stiller Intensität. Sie ist hin- und hergerissen, nicht zuletzt zwischen Hans, ihrem Geliebten, und Misch, dem gemeinsamen Freund. Bei wem will sie bleiben? Mit wem will sie gehen? Und ist Hans tatsächlich ein Spitzel, wie Misch vermutet? Mit diesen Fragen bewegt sich Anna plötzlich gefährlich nahe an der Grenze zwischen Treue und Verrat.Atmosphärisch dicht und schnörkellos erzählt Nadine Schneider von den persönlichen Verstrickungen in einer Zeit vor dem politischen Umsturz. Und davon, was es braucht, um zu bleiben - oder was es bedeutet, sein Land zu verlassen, für sich und die, die man zurücklässt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.11.2019Ein Sommer an der Grenze
Nadine Schneiders "Drei Kilometer"
Im Dorf ist Jahrmarkt, das Kind entwindet sich der Großmutter und sucht beklommen das Zelt der Wahrsagerin auf: eine uralte, dicke, zahnlose Frau, die ihr eigentlich nicht viel erzählen kann. Am Ende aber schenkt sie dem Mädchen ein Säckchen, "da ist deine Zukunft drin". Großmutter gibt ihr eine Ohrfeige, doch das Säckchen wird ihr Amulett, für ein paar Stunden wenigstens. Dann wird die Neugier, wie im Märchen, zu groß, und sie öffnet es. Heraus rieselt: nichts als Sand. Das ist einer dieser kleinen parabolischen Momente in Nadine Schneiders Roman, der Formen des Zerfließens von Gewissheiten, der Auflösung von Vergangenheit und Zukunft beschreibt.
Wir befinden uns in den letzten Tagen des Ceausescu-Regimes im rumäniendeutschen Banat, der Heimat Herta Müllers. Eine junge Frau erzählt, sie steht zwischen zwei befreundeten Männern, die doch uneins sind. Der eine ist ein eher romantischer Freund, der andere verbirgt ein Geheimnis - sollte es politischer Natur sein? Ist er bei der Securitate? Ihre Familie bekommt Briefe von einer ausgewanderten Tante: Sie konnten Abende bei Tisch verderben, diese Botschaften aus einem Phantomland namens Deutschland, und man hatte zwangsläufig das Gefühl, dass man grundsätzlich auf der falschen Seite saß und nichts hinbekam. Der Hinrichtung des Diktators am zweiten Weihnachtstag zusammen mit seiner Frau Elena ging ein heißer Sommer voraus. Die Hitze strömt in die Hirne und Körper und erzeugt einen leichten Schwindel, den der Roman aber nüchtern und frei von überflüssiger Rhetorik erzeugt. Drei Kilometer von den heißen Maisfeldern, in denen sich die Liebenden und Freunde treffen, liegt das Tor zur Freiheit - aber was ist diese Freiheit? Lohnt es sich für sie, Familien und Beziehungen aufzugeben, Traditionen, Erinnerungen, die Kindheit selbst? Der Familienvater verschwindet eines Tages, reist aus und kommt doch desillusioniert wieder. Eigentlich erfährt man nichts von ihm über seine Zeit im Drüben. Er kommt wie ein Revenant aus dem Jenseits, sprachlos und enttäuscht.
Das Schweigen der Menschen und das pausenlose Geschwätz des Imperators bilden eine Klammer, die eines Tages aber zusammenbricht. Bei einer Rede Ceausescus in Timisoara (Temeswar) wird ein Zögern sichtbar, eine Missstimmung - möglicherweise, so vermutet einer der Freunde, habe er Angst davor, dass das Volk nicht mehr so recht jubeln will und kann. Irgendwann zieht Regen auf und der Herrscher redet weiter und weiter. Murren kommt auf: "Wir werden patschnass, wenn er nicht gleich ruhig ist", raunt es in der Menge. Noch ist die Zeit für den Aufstand nicht gekommen, doch die Risse sind unübersehbar für das Auge der sensiblen Erzählerin. Wie die Hunde im Roman hat sie ein außerordentliches Gespür für die zwischenmenschlichen Beziehungen, für die Zeichen eines kommenden Umsturzes. Erdbeben, von denen die Region Banat seit jeher betroffen ist, sind solche Zeichen, die die Natur selbst in die Geschichte der Menschen wirft. Schließlich wird Misch, der eine Freund, plötzlich verschwinden - er hat die drei Kilometer Richtung ungarische Grenze hinter sich gelassen, aber auch seine Jugendliebe. Anna wird nun Hans aushorchen müssen - auf welcher Seite des Systems steht er, wie verhält er sich bei den ersten Demonstrationen?
Das Lokalkolorit wird nicht überbetont, vielleicht auch deshalb, weil die Autorin eben nicht im Banat geboren ist, sondern in Nürnberg als Tochter von Auswanderern aus Rumänien aufwuchs. Hin und wieder muss sie Zeichen zur Orientierung der Leser setzten - Vinetesalat, Weinlaube und Plastiktischdecke helfen dabei. Ansonsten wird der kleine Roman von einer psychologisch-politischen Stimmung grundiert, die sich auf viele Erfahrungen anderswo in der Welt übertragen lässt: Angst vor dem Aufbruch, erste Zeichen von Veränderung, einschneidende Erfahrungen, Weiterleben in Krisen und nach Krisen, Entscheidungen. Annas Entscheidung wird dann ihre eigene Ausreise sein. Der letzte Blick, das letzte Haus, ein Mensch, der verlassen wird, ihr Geliebter: "Ich schaute mir die Kirche an, den kleinen Laden, den leeren Biergarten und den Dorfplatz, und überall stand eine Erinnerung wie ein Gespenst." Ein Roman, der weniger Schockwellen auslöst als vielmehr ein Gefühl der Unausweichlichkeit. Am Ende weint der Mann, doch selbst das ist kaum hörbar.
ELMAR SCHENKEL
Nadine Schneider: "Drei Kilometer". Roman. Verlag Jung & Jung, Salzburg 2019. 152 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nadine Schneiders "Drei Kilometer"
Im Dorf ist Jahrmarkt, das Kind entwindet sich der Großmutter und sucht beklommen das Zelt der Wahrsagerin auf: eine uralte, dicke, zahnlose Frau, die ihr eigentlich nicht viel erzählen kann. Am Ende aber schenkt sie dem Mädchen ein Säckchen, "da ist deine Zukunft drin". Großmutter gibt ihr eine Ohrfeige, doch das Säckchen wird ihr Amulett, für ein paar Stunden wenigstens. Dann wird die Neugier, wie im Märchen, zu groß, und sie öffnet es. Heraus rieselt: nichts als Sand. Das ist einer dieser kleinen parabolischen Momente in Nadine Schneiders Roman, der Formen des Zerfließens von Gewissheiten, der Auflösung von Vergangenheit und Zukunft beschreibt.
Wir befinden uns in den letzten Tagen des Ceausescu-Regimes im rumäniendeutschen Banat, der Heimat Herta Müllers. Eine junge Frau erzählt, sie steht zwischen zwei befreundeten Männern, die doch uneins sind. Der eine ist ein eher romantischer Freund, der andere verbirgt ein Geheimnis - sollte es politischer Natur sein? Ist er bei der Securitate? Ihre Familie bekommt Briefe von einer ausgewanderten Tante: Sie konnten Abende bei Tisch verderben, diese Botschaften aus einem Phantomland namens Deutschland, und man hatte zwangsläufig das Gefühl, dass man grundsätzlich auf der falschen Seite saß und nichts hinbekam. Der Hinrichtung des Diktators am zweiten Weihnachtstag zusammen mit seiner Frau Elena ging ein heißer Sommer voraus. Die Hitze strömt in die Hirne und Körper und erzeugt einen leichten Schwindel, den der Roman aber nüchtern und frei von überflüssiger Rhetorik erzeugt. Drei Kilometer von den heißen Maisfeldern, in denen sich die Liebenden und Freunde treffen, liegt das Tor zur Freiheit - aber was ist diese Freiheit? Lohnt es sich für sie, Familien und Beziehungen aufzugeben, Traditionen, Erinnerungen, die Kindheit selbst? Der Familienvater verschwindet eines Tages, reist aus und kommt doch desillusioniert wieder. Eigentlich erfährt man nichts von ihm über seine Zeit im Drüben. Er kommt wie ein Revenant aus dem Jenseits, sprachlos und enttäuscht.
Das Schweigen der Menschen und das pausenlose Geschwätz des Imperators bilden eine Klammer, die eines Tages aber zusammenbricht. Bei einer Rede Ceausescus in Timisoara (Temeswar) wird ein Zögern sichtbar, eine Missstimmung - möglicherweise, so vermutet einer der Freunde, habe er Angst davor, dass das Volk nicht mehr so recht jubeln will und kann. Irgendwann zieht Regen auf und der Herrscher redet weiter und weiter. Murren kommt auf: "Wir werden patschnass, wenn er nicht gleich ruhig ist", raunt es in der Menge. Noch ist die Zeit für den Aufstand nicht gekommen, doch die Risse sind unübersehbar für das Auge der sensiblen Erzählerin. Wie die Hunde im Roman hat sie ein außerordentliches Gespür für die zwischenmenschlichen Beziehungen, für die Zeichen eines kommenden Umsturzes. Erdbeben, von denen die Region Banat seit jeher betroffen ist, sind solche Zeichen, die die Natur selbst in die Geschichte der Menschen wirft. Schließlich wird Misch, der eine Freund, plötzlich verschwinden - er hat die drei Kilometer Richtung ungarische Grenze hinter sich gelassen, aber auch seine Jugendliebe. Anna wird nun Hans aushorchen müssen - auf welcher Seite des Systems steht er, wie verhält er sich bei den ersten Demonstrationen?
Das Lokalkolorit wird nicht überbetont, vielleicht auch deshalb, weil die Autorin eben nicht im Banat geboren ist, sondern in Nürnberg als Tochter von Auswanderern aus Rumänien aufwuchs. Hin und wieder muss sie Zeichen zur Orientierung der Leser setzten - Vinetesalat, Weinlaube und Plastiktischdecke helfen dabei. Ansonsten wird der kleine Roman von einer psychologisch-politischen Stimmung grundiert, die sich auf viele Erfahrungen anderswo in der Welt übertragen lässt: Angst vor dem Aufbruch, erste Zeichen von Veränderung, einschneidende Erfahrungen, Weiterleben in Krisen und nach Krisen, Entscheidungen. Annas Entscheidung wird dann ihre eigene Ausreise sein. Der letzte Blick, das letzte Haus, ein Mensch, der verlassen wird, ihr Geliebter: "Ich schaute mir die Kirche an, den kleinen Laden, den leeren Biergarten und den Dorfplatz, und überall stand eine Erinnerung wie ein Gespenst." Ein Roman, der weniger Schockwellen auslöst als vielmehr ein Gefühl der Unausweichlichkeit. Am Ende weint der Mann, doch selbst das ist kaum hörbar.
ELMAR SCHENKEL
Nadine Schneider: "Drei Kilometer". Roman. Verlag Jung & Jung, Salzburg 2019. 152 S., geb., 20,- [Euro].
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