Den neuen Roman der »ungewöhnlichsten Schriftstellerin Frankreichs« beschrieb die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung in den knappen und präzisen Worten: Er handle »von drei vollkommen unterschiedlichen Frauen, die sich von den Schwierigkeiten des Lebens nicht unterkriegen und von ihren Mitmenschen nicht demütigen lassen«. Die vierzigjährige Norah gibt dem Drängen ihres Vaters nach und besucht ihn in Dakar: Die Juristin soll ihren Bruder aus dem Gefängnis holen. Das schwierige Treffen mit dem Vater führt die Frau an den Rand des Wahnsinns. Fanta hat im Unterschied zu Norah Dakar verlassen, um ihrem Ehemann Rudy in die französische Provinz zu folgen. Sie gibt sich dort vor Langeweile auf, so meint Rudy, durch dessen Perspektive wir von Fanta erfahren – doch ihm entgeht Entscheidendes. Von Afrika aus betrachtet erscheint ihre Existenz geradezu luxuriös und begehrenswert, weshalb Khady, die junge Afrikanerin, illegal nach Frankreich einzuwandern sich bemüht – doch sie endet, tot, an Grenzen. Drei Lebensläufe, drei starke Frauen, die ihre Würde verteidigen, indem sie sich im entscheidenden Moment weigern, so zu handeln, wie es die Umgebung verlangt: drei Frauen, die selbst in extremster Situation ihre Würde verteidigen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.06.2010Die Dämonen, die sie riefen
Auf dem Gipfel der französischen Gegenwartsliteratur: Marie NDiaye erzählt in "Drei starke Frauen" von der weiblichen Fähigkeit, die Männer zu ertragen - und den Opfern, die sie dabei bringen.
Von Felicitas von Lovenberg
Es ist lange her, dass ein französischer Roman bei uns mit solcher Spannung, ja Vorfreude erwartet wurde wie dieser. Dabei ist der Prix Goncourt, die bekannteste literarische Auszeichnung unserer Nachbarn, mit der das Werk im vergangenen Jahr bedacht wurde, hier nur das Tüpfelchen unter dem Ausrufezeichen. Seine Verfasserin Marie NDiaye gehört mit gerade mal Anfang vierzig zu den produktivsten (neben einem knappen Dutzend Romanen und Erzählungen hat sie mehrere Theaterstücke veröffentlicht), politisch wie literaturpolitisch freimütigsten (die Immigrationspolitik des von ihr verachteten Premiers Sarkozy bezeichnete sie in einem vielzitierten Interview als "monströs", und auch manche Autorenkollegin hat schon die Wucht ihres deutlichen Urteils zu spüren bekommen), stilistisch und auch ihrer Erscheinung nach (der Vater stammt aus dem Senegal) zu den auffälligsten Schriftstellerinnen ihres Landes. Marie NDiaye fällt auf, von der ungewöhnlichen Schreibweise ihres Namens bis zum eigenwilligen Stil ihrer Prosa, deren formale Strenge ausgerechnet in dauernden Hypotaxen (ihr Roman "Comédie classique" bestand aus einem einzigen Satz) eine konsequente Entsprechung findet. Seit 2007 lebt sie mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Jean-Yves Cendrey, und ihren drei Kindern in Berlin - der Umzug war ihr entschiedenster Kommentar zur Ära Sarkozy.
In dieser Woche nun ist Marie NDiayes "Trois femmes puissantes" in deutscher Übersetzung erschienen; allenthalben erscheinen glühende Porträts und Rezensionen, schon führt das Werk die Empfehlungslisten der Kritiker an. Doch leider ist der gefeierte Roman "Drei starke Frauen" weder ein Roman noch ein Meisterwerk. Das Buch versammelt drei eigenständige, dabei natürlich subtil miteinander verbundene Erzählungen über Frauen zwischen Afrika und Europa, deren mittlere mit hundertsechzig Seiten fast Romanstärke hat. Erzählt wird, der programmatische Titel "Drei starke Frauen" verrät es, von lauter schwachen Männern, von Männern zudem, die ihre Schwäche mit aller Gewalt zu kaschieren suchen.
Da ist zunächst der Vater von Norah, "ein unerbittlicher, fürchterlicher Mann", der "weder Mitleid noch Reue" kennt, ein Patriarch, dessen Körpermasse alle anderen an die Wand zu drängen scheint, vor dessen schierem Blick sich seine Kinder "im Innersten ihres Wesens zusammenrollen". Nach der lange zurückliegenden Trennung von Norahs Mutter hat er die beiden Töchter ohne Bedauern mit ihr fortgehen lassen, während er den Sohn Sony, das jüngste, gewandteste und hellhäutig-hübscheste seiner Kinder, bei sich in Dakar behielt. Viele Jahre später beordert der Vater Norah zu sich, denn sie ist mittlerweile Anwältin und Sony ist im Gefängnis: Er soll seine junge Stiefmutter, mit der er eine Liebesaffäre hatte, erwürgt haben. Norah ist angewidert von ihrem Vater, den in seiner Apathie nichts Menschliches zu erreichen scheint, und von der Atmosphäre in seinem Haus bis ins Mark ihrer eigenen Mutterliebe erschüttert. Doch anstatt dem väterlichen Koloss den Rücken zu kehren, Sony seinem Schicksal zu überlassen und ihr Leben weiterzuleben, überlässt sie ihre kleine Tochter immer mehr und immer leichter der Obhut ihres Lebensgefährten Jakob, der sich Norah seinerseits mit dem parasitären Instinkt des schwachen Mannes als Wirt auserkoren zu haben scheint.
Doch je mehr ihre Lage sich verfinstert, desto weniger lehnt Norah sich dagegen auf und desto besser kann sie damit umgehen. Die Abstumpfung wirkt wohltuend: "Sie saß allein in der strahlenden Helle eines fremden Hauses auf einem harten, kühlen Stuhl aus poliertem Metall, und Körper wie Geist waren ruhig." Dieser nach angedeuteten körperlichen (der "Dämon", der sich in ihrer Erinnerung auf den Bauch der achtjährigen Norah setzt, lässt sich durchaus als Missbrauchs-Hinweis lesen), vor allem aber nach fortwährenden seelischen Verletzungen errungene Gleichmut, gepaart mit der Fähigkeit, das alles auszuhalten, verbindet Norah mit Fanta und Khady Demba, den beiden Frauenfiguren der folgenden Erzählungen. Sie alle zeichnet eine stoische Würde aus, die zu den gleichnishaften Ereignissen, denen sie unterworfen sind, passt und wie man sie auch eher mit dem natürlichen Stolz von Afrikanerinnen als mit den auf Selbstverwirklichung gepolten Mitteleuropäerinnen assoziiert. Nicht die Frage nach der Hautfarbe steht bei Marie NDiaye im Mittelpunkt, sondern die nach der Beschaffenheit der Seele.
Die Archaik der Handlung spiegelt sich in einer klaren, einfachen, bildstarken Sprache, die in einzelnen Momenten die Zeit anzuhalten, aber mitunter auch ganze Jahre in einem Nebensatz vergehen lässt. Wenn Norah des Nachts zu ihrem Vater in den Flammenbaum steigt, Bussarde wie eine Strafe Gottes auf Schuldige niederfahren, wo Dämonen und Engeln ihren selbstverständlichen Platz in der Wahrnehmung haben und die Natur den bedürftigen Menschen ihren Überfluss in Steineichen, Mango-, Glyzinien- oder Frangipanibäumen geradezu aufreizend zur Schau stellt, mischen sich biblische Motive mit Märchen und Magischem Realismus. Doch der Reiz dieser Verfremdungseffekte ist begrenzt; was in der ersten Geschichte noch frappiert und verzaubert, lässt die zweite langatmig werden. Die dritte, die simpelste und bitterste, ist zwar die am wenigsten kunstvolle des Bandes, aber auch die, die einem am längsten nachgeht.
Mit den drei psychologischen Porträts hat Marie NDiaye zweifellos kraftvolle Studien über Macht und Gewalt geschaffen. Die Autorin legt die Machtstrukturen aller zwischenmenschlichen Beziehungen bloß - die Macht, die Männer über ihre Frauen ausüben, Eltern über ihre Kinder und umgekehrt. Es geht um die Eifersucht der Männer, die auch Väter sind, auf die Liebe der Frauen zu ihren Kindern und auf die Abhängigkeit der Kinder von ihren Müttern. Biologische Wahrheiten werden in ihrer ganzen Dramatik ausbuchstabiert. Und es geht darum, wie Frauen die Demütigungen durch die Männer kraft ihres Wesens zu parieren verstehen. Keine Frage: das ist eindrucksvoll gemacht. Aber wenn es derart programmatisch dreimal hintereinander vorgeführt wird, eben auch etwas ermüdend.
Die Frauen sind berufstätig; Norah als Anwältin, Fanta als Französischlehrerin. Ihre Mutterschaft betont zusätzlich ihre Selbstgenügsamkeit; diese Frauen brauchen keine Männer, vielleicht wollen sie nicht einmal mehr welche. Khady Demba, die Dritte, deren ruhiger, stolzer Stimme und festem Blick wir bereits im Haus von Norahs Vater im ersten Teil begegnet sind, bevor sie uns als kinderlose, verstoßene Witwe auf der Flucht nach Europa wiederbegegnet, muss sich ganz auf ihren Körper verlassen, um durchs Leben zu kommen. Die sachliche Schilderung, wie sie über Jahre zur Prostitution gezwungen ist, gehört zu den erschütterndsten Passagen dieses an erschütternden Begebenheiten und Charakteren reichen Buches.
Unmöglich zu sagen, welcher der Männer, die zugleich drei Generationen vorstellen, der befremdlichste ist. Denn während die Frauen in sich selbst Mittel und Wege finden, alles auszuhalten, geben die Männer die erlebte Gewalt weiter und setzen so fatale Ereignisketten in Gang. Lamine, der Junge, der sich Khady Demba zunächst anschließt, als ihre Flucht nach Europa das erste Mal missglückt, und sie dann bestiehlt und mit diesem Frevel ihren Tod besiegelt, ist noch zu jung, als dass sie mehr als vorübergehende Enttäuschung über seine Tat verspüren könnte. Und Norahs Vater ist womöglich durch ein langes Leben ohne Liebe wenigstens etwas gestraft für sein Regime. Der masochistisch veranlagte Rudy Descas hingegen, dem die längste Erzählung des Bandes gilt, ist als uneingestandener Sohn eines Mörders vielleicht die verstörteste Figur des Bandes - auch und gerade weil er davon überzeugt ist, seine Frau Fanta über alles zu lieben, während alles an seinem Verhalten auf das Gegenteil deutet. Der ehemalige Französischlehrer und Spezialist für mittelalterliche Literatur, der nach einem Zwischenfall mit drei Schülern suspendiert wurde und inzwischen Einbauküchen verkauft, ist ein wandelnder Minderwertigkeitskomplex - und als solcher eine tickende Zeitbombe. Rudy, der einmal beinahe jemanden umgebracht hätte, erinnert sich geradezu wohlig an den Moment, da ihn die Raserei der Gewalt erfasste: "Es war, als würde er endlich seine wahre Persönlichkeit entdecken, das, wofür er geschaffen war und was ihm Lust bereitete." Es ist nicht, wie er meint, Liebe, die diesen Mann überflutet, sondern Wut.
Marie NDiaye, die dieses Buch ihr hellstes genannt hat, verweigert ihren Heldinnen konsequent den Kampf um so etwas wie Glück außerhalb ihrer selbst. "Doch ihr Herz schlug langsam, friedlich, und auch sie fühlte sich so, langsam, friedlich, unerreichbar, im Schutz ihrer unangreifbaren Menschlichkeit." Duldsamkeit gegenüber dem Schicksal mag eine hart errungene Tugend sein; literarisch betrachtet, ist sie eine Herausforderung, die bisweilen zur Zumutung wird.
Marie NDiaye: "Drei starke Frauen". Roman. Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 341 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auf dem Gipfel der französischen Gegenwartsliteratur: Marie NDiaye erzählt in "Drei starke Frauen" von der weiblichen Fähigkeit, die Männer zu ertragen - und den Opfern, die sie dabei bringen.
Von Felicitas von Lovenberg
Es ist lange her, dass ein französischer Roman bei uns mit solcher Spannung, ja Vorfreude erwartet wurde wie dieser. Dabei ist der Prix Goncourt, die bekannteste literarische Auszeichnung unserer Nachbarn, mit der das Werk im vergangenen Jahr bedacht wurde, hier nur das Tüpfelchen unter dem Ausrufezeichen. Seine Verfasserin Marie NDiaye gehört mit gerade mal Anfang vierzig zu den produktivsten (neben einem knappen Dutzend Romanen und Erzählungen hat sie mehrere Theaterstücke veröffentlicht), politisch wie literaturpolitisch freimütigsten (die Immigrationspolitik des von ihr verachteten Premiers Sarkozy bezeichnete sie in einem vielzitierten Interview als "monströs", und auch manche Autorenkollegin hat schon die Wucht ihres deutlichen Urteils zu spüren bekommen), stilistisch und auch ihrer Erscheinung nach (der Vater stammt aus dem Senegal) zu den auffälligsten Schriftstellerinnen ihres Landes. Marie NDiaye fällt auf, von der ungewöhnlichen Schreibweise ihres Namens bis zum eigenwilligen Stil ihrer Prosa, deren formale Strenge ausgerechnet in dauernden Hypotaxen (ihr Roman "Comédie classique" bestand aus einem einzigen Satz) eine konsequente Entsprechung findet. Seit 2007 lebt sie mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Jean-Yves Cendrey, und ihren drei Kindern in Berlin - der Umzug war ihr entschiedenster Kommentar zur Ära Sarkozy.
In dieser Woche nun ist Marie NDiayes "Trois femmes puissantes" in deutscher Übersetzung erschienen; allenthalben erscheinen glühende Porträts und Rezensionen, schon führt das Werk die Empfehlungslisten der Kritiker an. Doch leider ist der gefeierte Roman "Drei starke Frauen" weder ein Roman noch ein Meisterwerk. Das Buch versammelt drei eigenständige, dabei natürlich subtil miteinander verbundene Erzählungen über Frauen zwischen Afrika und Europa, deren mittlere mit hundertsechzig Seiten fast Romanstärke hat. Erzählt wird, der programmatische Titel "Drei starke Frauen" verrät es, von lauter schwachen Männern, von Männern zudem, die ihre Schwäche mit aller Gewalt zu kaschieren suchen.
Da ist zunächst der Vater von Norah, "ein unerbittlicher, fürchterlicher Mann", der "weder Mitleid noch Reue" kennt, ein Patriarch, dessen Körpermasse alle anderen an die Wand zu drängen scheint, vor dessen schierem Blick sich seine Kinder "im Innersten ihres Wesens zusammenrollen". Nach der lange zurückliegenden Trennung von Norahs Mutter hat er die beiden Töchter ohne Bedauern mit ihr fortgehen lassen, während er den Sohn Sony, das jüngste, gewandteste und hellhäutig-hübscheste seiner Kinder, bei sich in Dakar behielt. Viele Jahre später beordert der Vater Norah zu sich, denn sie ist mittlerweile Anwältin und Sony ist im Gefängnis: Er soll seine junge Stiefmutter, mit der er eine Liebesaffäre hatte, erwürgt haben. Norah ist angewidert von ihrem Vater, den in seiner Apathie nichts Menschliches zu erreichen scheint, und von der Atmosphäre in seinem Haus bis ins Mark ihrer eigenen Mutterliebe erschüttert. Doch anstatt dem väterlichen Koloss den Rücken zu kehren, Sony seinem Schicksal zu überlassen und ihr Leben weiterzuleben, überlässt sie ihre kleine Tochter immer mehr und immer leichter der Obhut ihres Lebensgefährten Jakob, der sich Norah seinerseits mit dem parasitären Instinkt des schwachen Mannes als Wirt auserkoren zu haben scheint.
Doch je mehr ihre Lage sich verfinstert, desto weniger lehnt Norah sich dagegen auf und desto besser kann sie damit umgehen. Die Abstumpfung wirkt wohltuend: "Sie saß allein in der strahlenden Helle eines fremden Hauses auf einem harten, kühlen Stuhl aus poliertem Metall, und Körper wie Geist waren ruhig." Dieser nach angedeuteten körperlichen (der "Dämon", der sich in ihrer Erinnerung auf den Bauch der achtjährigen Norah setzt, lässt sich durchaus als Missbrauchs-Hinweis lesen), vor allem aber nach fortwährenden seelischen Verletzungen errungene Gleichmut, gepaart mit der Fähigkeit, das alles auszuhalten, verbindet Norah mit Fanta und Khady Demba, den beiden Frauenfiguren der folgenden Erzählungen. Sie alle zeichnet eine stoische Würde aus, die zu den gleichnishaften Ereignissen, denen sie unterworfen sind, passt und wie man sie auch eher mit dem natürlichen Stolz von Afrikanerinnen als mit den auf Selbstverwirklichung gepolten Mitteleuropäerinnen assoziiert. Nicht die Frage nach der Hautfarbe steht bei Marie NDiaye im Mittelpunkt, sondern die nach der Beschaffenheit der Seele.
Die Archaik der Handlung spiegelt sich in einer klaren, einfachen, bildstarken Sprache, die in einzelnen Momenten die Zeit anzuhalten, aber mitunter auch ganze Jahre in einem Nebensatz vergehen lässt. Wenn Norah des Nachts zu ihrem Vater in den Flammenbaum steigt, Bussarde wie eine Strafe Gottes auf Schuldige niederfahren, wo Dämonen und Engeln ihren selbstverständlichen Platz in der Wahrnehmung haben und die Natur den bedürftigen Menschen ihren Überfluss in Steineichen, Mango-, Glyzinien- oder Frangipanibäumen geradezu aufreizend zur Schau stellt, mischen sich biblische Motive mit Märchen und Magischem Realismus. Doch der Reiz dieser Verfremdungseffekte ist begrenzt; was in der ersten Geschichte noch frappiert und verzaubert, lässt die zweite langatmig werden. Die dritte, die simpelste und bitterste, ist zwar die am wenigsten kunstvolle des Bandes, aber auch die, die einem am längsten nachgeht.
Mit den drei psychologischen Porträts hat Marie NDiaye zweifellos kraftvolle Studien über Macht und Gewalt geschaffen. Die Autorin legt die Machtstrukturen aller zwischenmenschlichen Beziehungen bloß - die Macht, die Männer über ihre Frauen ausüben, Eltern über ihre Kinder und umgekehrt. Es geht um die Eifersucht der Männer, die auch Väter sind, auf die Liebe der Frauen zu ihren Kindern und auf die Abhängigkeit der Kinder von ihren Müttern. Biologische Wahrheiten werden in ihrer ganzen Dramatik ausbuchstabiert. Und es geht darum, wie Frauen die Demütigungen durch die Männer kraft ihres Wesens zu parieren verstehen. Keine Frage: das ist eindrucksvoll gemacht. Aber wenn es derart programmatisch dreimal hintereinander vorgeführt wird, eben auch etwas ermüdend.
Die Frauen sind berufstätig; Norah als Anwältin, Fanta als Französischlehrerin. Ihre Mutterschaft betont zusätzlich ihre Selbstgenügsamkeit; diese Frauen brauchen keine Männer, vielleicht wollen sie nicht einmal mehr welche. Khady Demba, die Dritte, deren ruhiger, stolzer Stimme und festem Blick wir bereits im Haus von Norahs Vater im ersten Teil begegnet sind, bevor sie uns als kinderlose, verstoßene Witwe auf der Flucht nach Europa wiederbegegnet, muss sich ganz auf ihren Körper verlassen, um durchs Leben zu kommen. Die sachliche Schilderung, wie sie über Jahre zur Prostitution gezwungen ist, gehört zu den erschütterndsten Passagen dieses an erschütternden Begebenheiten und Charakteren reichen Buches.
Unmöglich zu sagen, welcher der Männer, die zugleich drei Generationen vorstellen, der befremdlichste ist. Denn während die Frauen in sich selbst Mittel und Wege finden, alles auszuhalten, geben die Männer die erlebte Gewalt weiter und setzen so fatale Ereignisketten in Gang. Lamine, der Junge, der sich Khady Demba zunächst anschließt, als ihre Flucht nach Europa das erste Mal missglückt, und sie dann bestiehlt und mit diesem Frevel ihren Tod besiegelt, ist noch zu jung, als dass sie mehr als vorübergehende Enttäuschung über seine Tat verspüren könnte. Und Norahs Vater ist womöglich durch ein langes Leben ohne Liebe wenigstens etwas gestraft für sein Regime. Der masochistisch veranlagte Rudy Descas hingegen, dem die längste Erzählung des Bandes gilt, ist als uneingestandener Sohn eines Mörders vielleicht die verstörteste Figur des Bandes - auch und gerade weil er davon überzeugt ist, seine Frau Fanta über alles zu lieben, während alles an seinem Verhalten auf das Gegenteil deutet. Der ehemalige Französischlehrer und Spezialist für mittelalterliche Literatur, der nach einem Zwischenfall mit drei Schülern suspendiert wurde und inzwischen Einbauküchen verkauft, ist ein wandelnder Minderwertigkeitskomplex - und als solcher eine tickende Zeitbombe. Rudy, der einmal beinahe jemanden umgebracht hätte, erinnert sich geradezu wohlig an den Moment, da ihn die Raserei der Gewalt erfasste: "Es war, als würde er endlich seine wahre Persönlichkeit entdecken, das, wofür er geschaffen war und was ihm Lust bereitete." Es ist nicht, wie er meint, Liebe, die diesen Mann überflutet, sondern Wut.
Marie NDiaye, die dieses Buch ihr hellstes genannt hat, verweigert ihren Heldinnen konsequent den Kampf um so etwas wie Glück außerhalb ihrer selbst. "Doch ihr Herz schlug langsam, friedlich, und auch sie fühlte sich so, langsam, friedlich, unerreichbar, im Schutz ihrer unangreifbaren Menschlichkeit." Duldsamkeit gegenüber dem Schicksal mag eine hart errungene Tugend sein; literarisch betrachtet, ist sie eine Herausforderung, die bisweilen zur Zumutung wird.
Marie NDiaye: "Drei starke Frauen". Roman. Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 341 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.06.2010Balanceakte der Selbstbehauptung
Marie NDiaye ist eine der interessantesten Autorinnen der Gegenwart. Ihr Roman „Drei starke Frauen“ erscheint jetzt auf Deutsch
Ob der „Prix Goncourt“ im letzten Herbst für ihren Roman „Trois femmes puissantes“ ihr Leben verändert habe, will der Fernsehmoderator wissen, und Marie NDiayes knappes „Nein“ ist typisch für das scheue Selbstbewusstsein dieser Autorin, die seit drei Jahren mit Mann und Kindern in Berlin lebt, um dem Frankreich Sarkozys zu entkommen. Natürlich sei sie „zufrieden“ über diese hohe Auszeichnung, kommt sie dem Moderator entgegen, der gern eine vor Glück strahlende Autorin erleben möchte. Andererseits sei sie „keine Anfängerin“. Wie wahr; ihren ersten Roman veröffentlichte sie als Siebzehnjährige.
Marie NDiaye, 1967 als Tochter einer Französin und eines Senegalesen geboren, legt Wert darauf, „hundertprozent französisch“ zu sein. Der Vater war als Student nach Frankreich gekommen und verließ die Familie, als Marie noch sehr klein war; ihre Mutter, eine Lehrerin, zog sie und ihren Bruder allein auf, in der näheren Umgebung von Paris; von einer „Doppelkultur“ könne in ihrem Fall nicht die Rede sein. Und die Sprache Marie NDiayes knüpft tatsächlich sehr bewusst an die französische Literaturtradition an; eines ihrer Stücke, „Papa doit manger“ (2003), zählt zum Repertoire der Comédie française. Auf Deutsch liegen die Romane „Rosie Carpe“ und „Mein Herz in der Enge“ vor; die preisgekrönten „Drei starken Frauen“ in der Übersetzung Claudia Kalscheuers sollten nun den Durchbruch auch beim deutschen Publikum bringen. Verdient hätte sie es unbedingt.
Gerade weil die Mittelmäßigkeit des Lebens, die Ungerechtigkeit der Geburt, die Unausweichlichkeit der Herkunft durchaus Themen des überaus komplexen neuen Romans sind, mag es erstaunen, wenn als literarische Referenz ausgerechnet Madame de la Fayette genannt sei, die als Repräsentantin des klassischen Zeitalters am Hof Ludwigs des XIV. ihren berühmten Roman „La Princesse de Clève“ (1678) verfasste (unter Mithilfe des Moralisten La Rochefoucauld, heißt es). Die Lebenssituation von Marie NDiayes drei starken Frauen Norah, Fanta und Khady Demba – allesamt in Senegal verwurzelt – hat mit dem Konflikt der Prinzessin von Kleve, die sich unsterblich in einen Aristokraten verliebt und dennoch ihrem Mann über dessen Tod hinaus treu bleibt, wirklich nicht viel gemein. Und doch knüpft die Engführung von Analyse und Gefühl, die Marie NDiaye mit Brillanz und Expertise praktiziert, an die Technik des psychologischen Romans der La Fayette an. Es ist erstaunlich, im einen wie im anderen Fall, wie die Intensität des Gefühls beim Leser, bei der Leserin durch die anspruchsvolle, resümierende, einen hohen Grad an Einsicht voraussetzende Analyse freigesetzt wird.
Im zentralen und längsten des aus insgesamt drei mehr oder weniger eigenständigen Kapiteln bestehenden Romans wird aus der Perspektive des Ehemanns erzählt: Rudy Descas mit Namen, um die vierzig Jahre alt, einst Lehrer für Literatur an einem Gymnasium in Dakar, wo er seine Frau Fanta kennenlernt, eine Einheimische und Kollegin. Nachdem er von der Schule relegiert worden ist aufgrund eines mysteriösen Vorfalls, der im Lauf des Kapitels immer konturierter und dramatischer hervortritt, bringt er seine über alles geliebte Frau in die französische Provinz, in seine alte Heimat und damit in die Nähe seiner etwas spinnerten Mutter. Es herrscht, als das Romankapitel einsetzt, die schiere Verzweiflung, Entfremdung und Ödnis.
Der Abstieg des Lehrers Rudy Descas zum kleinen Angestellten eines Kücheneinrichtungsgeschäfts, der nur mit Müh und Not über der Armutsgrenze balanciert und sich selbst nicht mehr respektiert, ist bereits in vollem Gang, als das Paar und deren einziger Sohn Djibril nach Frankreich kommt. An einem Tag im Sommer, der den Erzählrahmen vorgibt, wird sich Rudy seiner selbst bewusst, erinnert er sich plötzlich an die dunkelsten Seiten seiner Geschichte, seines lange währenden Selbstbetrugs, konfrontiert er sich mit der Erinnerung an seinen Vater, einen Mörder, der einst ebenfalls in Senegal gearbeitet hat, wie Rudy zwanzig Jahre später auch. Rudy Descas lebt das alles wie in einem Film, oder wie in einer radikal beschleunigten Psychoanalyse, innerhalb weniger Stunden noch einmal durch. Trotz oder gerade wegen des Erschreckens über sich selbst handelt es sich um Seelenarbeit im emphatischen Sinne – sie endet mit einer Befreiung.
Und welche Rolle spielt die schöne Fanta dabei, die der Romantitel zur „starken Frau“ erklärt? Fanta, deren Gesicht schon lange kein Zeichen der Zuneigung, überhaupt der Gefühlsregung mehr gibt, Fanta, die ihren Sohn liebt, aber gegenüber ihrem Ehemann und der Umwelt lethargisch geworden ist, die in dem schäbigen Häuschen in der Provinz vor Unglück abzusterben droht, ohne Arbeit und ohne Stolz, eine Fremde, die ihr gutes Leben für immer verloren zu haben scheint; diese Fanta ist Auslöser und Adresse von Rudys Seelenarbeit.
Über Fantas spezifische Stärke ließe sich lange nachdenken. Sie, die ehemalige Lehrerin aus Dakar, ist die einzige Liebe von Rudy Descas, und doch hat er ihr Leben zerstört, indem er sie entwurzelt, indem er ihr falsche Versprechen gemacht hat. Und indem er sie an jenem Sommermorgen angeschrieen hat. Er hat ihr Worte ins Gesicht geschleudert, die er mehr als bedauert – die er selbst kaum glauben kann. Etwas, nein alles, sein ganzes psychisches Drama, ist über ihn gekommen. Warum dies passiert oder passieren muss, ahnt man am Ende des Kapitels, als Fanta ihre Nachbarin erstmals mit einem Lächeln grüßt.
Es ist bewundernswert, wie Marie NDiaye es schafft, uns die tiefen Wunden eines aus dem Gleis geratenen Durchschnittsfranzosen mit brisanten biographischen Verbindungen nach Afrika langsam, aber sicher fühlbar zu machen. Wie sie es schafft, dass wir mitzittern, ob dieser hochproblematische Rudy das Vertrauen seiner Frau Fanta wiedergewinnt. Das geschieht in einer raffinierten Mischung aus innerem Monolog, knappen Wortwechseln, atmosphärisch dichten Beschreibungen und jenes klaren klassischen Stils.
Die Lücken, die dabei bleiben beziehungsweise erst entstehen, sind das eigentliche Kunststück: Denn dem betont Expliziten in Marie NDiayes Sprachgestus steht in jeder der drei Geschichten ein Geheimnis gegenüber. Irgendetwas lässt sie die dunkle, quälende Geschichte ins Helle, Hoffnungsvolle umschlagen. Was genau das aber ist, scheint die Autorin nicht unbedingt ausschmücken zu wollen; während sie andererseits das Psychogramm der Familien, in die ihre Heldinnen eingebettet sind, mit gnadenloser Klarheit in den Blick nimmt.
„Ich bin ein weißer Neger“, hatte Jean Genet behauptet und wollte damit – Ende der fünziger Jahre – das finstere Herz des Rassismus treffen. Marie NDiaye ihrerseits geht mit der Frage der Hautfarbe fast schon provozierend diskret um. Nicht, dass die Hautfarbe der Protagonisten uns vorenthalten würde, aber sie wird sehr kunstvoll wie ein biographisches Detail unter anderen behandelt.
Norah zum Beispiel, die Heldin des ersten Kapitels, Mitte dreißig, Rechtsanwältin in Paris, Mutter einer Tochter, liiert mit einem Deutschen (der ebenfalls eine Tochter hat, und die beiden Mädchen verstehen sich fabelhaft), Norah hat einen senegalesischen Vater, den sie fürchtet, und eine französische (weiße) Mutter, die sie bedauert. Ihr Bruder Sony, der als Fünfjähriger vom Vater regelrecht entführt wurde, als dieser in seine afrikanische Heimat zurückkehrte, stolz auf den Sohn, nicht auf die Töchter; dieser unglückselige Sony sitzt in der Jetztzeit des Romans im überfüllten Gefängnis von Dakar, angeklagt, seine junge Stiefmutter getötet zu haben. Norah wird von ihrem Vater gerufen, um den Bruder zu verteidigen. Wichtiger als ihre Hautfarbe, diese zufällige Mischung aus Hell und Dunkel, ist die Frage, ob Norah sich der Tyrannei und dem Lügengespinst des Vaters wird entwinden können, ja ob sie stark genug ist, zur Wahrheit vorzustoßen: als Tochter, als Schwester, als Anwältin, als Mutter und – als Frau.
In der dritten und letzten Geschichte des Romans über Khady Demba steigt die Autorin die soziale Leiter am tiefsten hinab; wobei das Bild der Leiter buchstäblich schmerzt. Denn diese Khady Demba erlebt im dramatischen Schlussbild eine Katastrophe, als sie mit einer selbstgebastelten Leiter den magischen Grenzzaun – auf der Flucht in ein unbekanntes, vages Europa – zu überqueren versucht. Es ist bemerkenswert, wie Marie NDiaye die postkolonialen Härten in einem präzisen Mikro-Makro-Geflecht andeutet. Das Politische durchdringt das Gefühltgedachte ihrer Protagonistinnen und bleibt doch unbegriffen. Dieser schwierige, von der Autorin fulminant bewältigte Erzählansatz bewährt sich ganz besonders in der Abschlussgeschichte über Khadi Demba, das „arme Ding“.
Ein menschlich kälteres, tragischeres, gewalttätigeres Afrika ist kaum denkbar als jenes, in dem der kinderlos gebliebenen, von der Familie des Mannes verstoßenen, verletzten, betrogenen, beraubten, zur Prostitution gezwungenen, malträtierten jungen Witwe Khady Demba zu leben und zu sterben bestimmt ist. Stark ist sie, weil sie in der kindlich anmutenden Gewissheit ihrer schlichten, reinen Menschenwürde lebt, die sie im eigenen Namen – „das bin ich, Khady Demba“ – immer wieder beschwört. Wenn sie etwas „genießt“, wie „die milde Hitze des frühen Morgens“, dann aus sich selbst heraus. Aus ihrer, am Ende vergeblichen, Stärke.
Vor allem, vergessen wir nicht, dass die kristalline Sprache der Autorin das aufwühlende Innenleben ihrer außergewöhnlichen Heldinnen überhaupt erst sichtbar werden lässt. Ohne Frage ist Marie NDiaye eine der interessantesten und innovativsten literarischen Stimmen der Gegenwart. INA HARTWIG
MARIE NDIAYE: Drei starke Frauen. Roman. Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 342 Seiten, 22,90 Euro.
Für diesen Roman zwischen
Frankreich und Senegal erhielt
sie den begehrten „Prix Goncourt“
Die Engführung von
Analyse und Gefühl
ist erstaunlich
Marie NDiaye, Jahrgang 1967, lebt seit drei Jahren in Berlin, um dem Frankreich Nicolas Sarkozys zu entkommen.
Foto: Olivier Roller/Opale/StudioX
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Marie NDiaye ist eine der interessantesten Autorinnen der Gegenwart. Ihr Roman „Drei starke Frauen“ erscheint jetzt auf Deutsch
Ob der „Prix Goncourt“ im letzten Herbst für ihren Roman „Trois femmes puissantes“ ihr Leben verändert habe, will der Fernsehmoderator wissen, und Marie NDiayes knappes „Nein“ ist typisch für das scheue Selbstbewusstsein dieser Autorin, die seit drei Jahren mit Mann und Kindern in Berlin lebt, um dem Frankreich Sarkozys zu entkommen. Natürlich sei sie „zufrieden“ über diese hohe Auszeichnung, kommt sie dem Moderator entgegen, der gern eine vor Glück strahlende Autorin erleben möchte. Andererseits sei sie „keine Anfängerin“. Wie wahr; ihren ersten Roman veröffentlichte sie als Siebzehnjährige.
Marie NDiaye, 1967 als Tochter einer Französin und eines Senegalesen geboren, legt Wert darauf, „hundertprozent französisch“ zu sein. Der Vater war als Student nach Frankreich gekommen und verließ die Familie, als Marie noch sehr klein war; ihre Mutter, eine Lehrerin, zog sie und ihren Bruder allein auf, in der näheren Umgebung von Paris; von einer „Doppelkultur“ könne in ihrem Fall nicht die Rede sein. Und die Sprache Marie NDiayes knüpft tatsächlich sehr bewusst an die französische Literaturtradition an; eines ihrer Stücke, „Papa doit manger“ (2003), zählt zum Repertoire der Comédie française. Auf Deutsch liegen die Romane „Rosie Carpe“ und „Mein Herz in der Enge“ vor; die preisgekrönten „Drei starken Frauen“ in der Übersetzung Claudia Kalscheuers sollten nun den Durchbruch auch beim deutschen Publikum bringen. Verdient hätte sie es unbedingt.
Gerade weil die Mittelmäßigkeit des Lebens, die Ungerechtigkeit der Geburt, die Unausweichlichkeit der Herkunft durchaus Themen des überaus komplexen neuen Romans sind, mag es erstaunen, wenn als literarische Referenz ausgerechnet Madame de la Fayette genannt sei, die als Repräsentantin des klassischen Zeitalters am Hof Ludwigs des XIV. ihren berühmten Roman „La Princesse de Clève“ (1678) verfasste (unter Mithilfe des Moralisten La Rochefoucauld, heißt es). Die Lebenssituation von Marie NDiayes drei starken Frauen Norah, Fanta und Khady Demba – allesamt in Senegal verwurzelt – hat mit dem Konflikt der Prinzessin von Kleve, die sich unsterblich in einen Aristokraten verliebt und dennoch ihrem Mann über dessen Tod hinaus treu bleibt, wirklich nicht viel gemein. Und doch knüpft die Engführung von Analyse und Gefühl, die Marie NDiaye mit Brillanz und Expertise praktiziert, an die Technik des psychologischen Romans der La Fayette an. Es ist erstaunlich, im einen wie im anderen Fall, wie die Intensität des Gefühls beim Leser, bei der Leserin durch die anspruchsvolle, resümierende, einen hohen Grad an Einsicht voraussetzende Analyse freigesetzt wird.
Im zentralen und längsten des aus insgesamt drei mehr oder weniger eigenständigen Kapiteln bestehenden Romans wird aus der Perspektive des Ehemanns erzählt: Rudy Descas mit Namen, um die vierzig Jahre alt, einst Lehrer für Literatur an einem Gymnasium in Dakar, wo er seine Frau Fanta kennenlernt, eine Einheimische und Kollegin. Nachdem er von der Schule relegiert worden ist aufgrund eines mysteriösen Vorfalls, der im Lauf des Kapitels immer konturierter und dramatischer hervortritt, bringt er seine über alles geliebte Frau in die französische Provinz, in seine alte Heimat und damit in die Nähe seiner etwas spinnerten Mutter. Es herrscht, als das Romankapitel einsetzt, die schiere Verzweiflung, Entfremdung und Ödnis.
Der Abstieg des Lehrers Rudy Descas zum kleinen Angestellten eines Kücheneinrichtungsgeschäfts, der nur mit Müh und Not über der Armutsgrenze balanciert und sich selbst nicht mehr respektiert, ist bereits in vollem Gang, als das Paar und deren einziger Sohn Djibril nach Frankreich kommt. An einem Tag im Sommer, der den Erzählrahmen vorgibt, wird sich Rudy seiner selbst bewusst, erinnert er sich plötzlich an die dunkelsten Seiten seiner Geschichte, seines lange währenden Selbstbetrugs, konfrontiert er sich mit der Erinnerung an seinen Vater, einen Mörder, der einst ebenfalls in Senegal gearbeitet hat, wie Rudy zwanzig Jahre später auch. Rudy Descas lebt das alles wie in einem Film, oder wie in einer radikal beschleunigten Psychoanalyse, innerhalb weniger Stunden noch einmal durch. Trotz oder gerade wegen des Erschreckens über sich selbst handelt es sich um Seelenarbeit im emphatischen Sinne – sie endet mit einer Befreiung.
Und welche Rolle spielt die schöne Fanta dabei, die der Romantitel zur „starken Frau“ erklärt? Fanta, deren Gesicht schon lange kein Zeichen der Zuneigung, überhaupt der Gefühlsregung mehr gibt, Fanta, die ihren Sohn liebt, aber gegenüber ihrem Ehemann und der Umwelt lethargisch geworden ist, die in dem schäbigen Häuschen in der Provinz vor Unglück abzusterben droht, ohne Arbeit und ohne Stolz, eine Fremde, die ihr gutes Leben für immer verloren zu haben scheint; diese Fanta ist Auslöser und Adresse von Rudys Seelenarbeit.
Über Fantas spezifische Stärke ließe sich lange nachdenken. Sie, die ehemalige Lehrerin aus Dakar, ist die einzige Liebe von Rudy Descas, und doch hat er ihr Leben zerstört, indem er sie entwurzelt, indem er ihr falsche Versprechen gemacht hat. Und indem er sie an jenem Sommermorgen angeschrieen hat. Er hat ihr Worte ins Gesicht geschleudert, die er mehr als bedauert – die er selbst kaum glauben kann. Etwas, nein alles, sein ganzes psychisches Drama, ist über ihn gekommen. Warum dies passiert oder passieren muss, ahnt man am Ende des Kapitels, als Fanta ihre Nachbarin erstmals mit einem Lächeln grüßt.
Es ist bewundernswert, wie Marie NDiaye es schafft, uns die tiefen Wunden eines aus dem Gleis geratenen Durchschnittsfranzosen mit brisanten biographischen Verbindungen nach Afrika langsam, aber sicher fühlbar zu machen. Wie sie es schafft, dass wir mitzittern, ob dieser hochproblematische Rudy das Vertrauen seiner Frau Fanta wiedergewinnt. Das geschieht in einer raffinierten Mischung aus innerem Monolog, knappen Wortwechseln, atmosphärisch dichten Beschreibungen und jenes klaren klassischen Stils.
Die Lücken, die dabei bleiben beziehungsweise erst entstehen, sind das eigentliche Kunststück: Denn dem betont Expliziten in Marie NDiayes Sprachgestus steht in jeder der drei Geschichten ein Geheimnis gegenüber. Irgendetwas lässt sie die dunkle, quälende Geschichte ins Helle, Hoffnungsvolle umschlagen. Was genau das aber ist, scheint die Autorin nicht unbedingt ausschmücken zu wollen; während sie andererseits das Psychogramm der Familien, in die ihre Heldinnen eingebettet sind, mit gnadenloser Klarheit in den Blick nimmt.
„Ich bin ein weißer Neger“, hatte Jean Genet behauptet und wollte damit – Ende der fünziger Jahre – das finstere Herz des Rassismus treffen. Marie NDiaye ihrerseits geht mit der Frage der Hautfarbe fast schon provozierend diskret um. Nicht, dass die Hautfarbe der Protagonisten uns vorenthalten würde, aber sie wird sehr kunstvoll wie ein biographisches Detail unter anderen behandelt.
Norah zum Beispiel, die Heldin des ersten Kapitels, Mitte dreißig, Rechtsanwältin in Paris, Mutter einer Tochter, liiert mit einem Deutschen (der ebenfalls eine Tochter hat, und die beiden Mädchen verstehen sich fabelhaft), Norah hat einen senegalesischen Vater, den sie fürchtet, und eine französische (weiße) Mutter, die sie bedauert. Ihr Bruder Sony, der als Fünfjähriger vom Vater regelrecht entführt wurde, als dieser in seine afrikanische Heimat zurückkehrte, stolz auf den Sohn, nicht auf die Töchter; dieser unglückselige Sony sitzt in der Jetztzeit des Romans im überfüllten Gefängnis von Dakar, angeklagt, seine junge Stiefmutter getötet zu haben. Norah wird von ihrem Vater gerufen, um den Bruder zu verteidigen. Wichtiger als ihre Hautfarbe, diese zufällige Mischung aus Hell und Dunkel, ist die Frage, ob Norah sich der Tyrannei und dem Lügengespinst des Vaters wird entwinden können, ja ob sie stark genug ist, zur Wahrheit vorzustoßen: als Tochter, als Schwester, als Anwältin, als Mutter und – als Frau.
In der dritten und letzten Geschichte des Romans über Khady Demba steigt die Autorin die soziale Leiter am tiefsten hinab; wobei das Bild der Leiter buchstäblich schmerzt. Denn diese Khady Demba erlebt im dramatischen Schlussbild eine Katastrophe, als sie mit einer selbstgebastelten Leiter den magischen Grenzzaun – auf der Flucht in ein unbekanntes, vages Europa – zu überqueren versucht. Es ist bemerkenswert, wie Marie NDiaye die postkolonialen Härten in einem präzisen Mikro-Makro-Geflecht andeutet. Das Politische durchdringt das Gefühltgedachte ihrer Protagonistinnen und bleibt doch unbegriffen. Dieser schwierige, von der Autorin fulminant bewältigte Erzählansatz bewährt sich ganz besonders in der Abschlussgeschichte über Khadi Demba, das „arme Ding“.
Ein menschlich kälteres, tragischeres, gewalttätigeres Afrika ist kaum denkbar als jenes, in dem der kinderlos gebliebenen, von der Familie des Mannes verstoßenen, verletzten, betrogenen, beraubten, zur Prostitution gezwungenen, malträtierten jungen Witwe Khady Demba zu leben und zu sterben bestimmt ist. Stark ist sie, weil sie in der kindlich anmutenden Gewissheit ihrer schlichten, reinen Menschenwürde lebt, die sie im eigenen Namen – „das bin ich, Khady Demba“ – immer wieder beschwört. Wenn sie etwas „genießt“, wie „die milde Hitze des frühen Morgens“, dann aus sich selbst heraus. Aus ihrer, am Ende vergeblichen, Stärke.
Vor allem, vergessen wir nicht, dass die kristalline Sprache der Autorin das aufwühlende Innenleben ihrer außergewöhnlichen Heldinnen überhaupt erst sichtbar werden lässt. Ohne Frage ist Marie NDiaye eine der interessantesten und innovativsten literarischen Stimmen der Gegenwart. INA HARTWIG
MARIE NDIAYE: Drei starke Frauen. Roman. Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 342 Seiten, 22,90 Euro.
Für diesen Roman zwischen
Frankreich und Senegal erhielt
sie den begehrten „Prix Goncourt“
Die Engführung von
Analyse und Gefühl
ist erstaunlich
Marie NDiaye, Jahrgang 1967, lebt seit drei Jahren in Berlin, um dem Frankreich Nicolas Sarkozys zu entkommen.
Foto: Olivier Roller/Opale/StudioX
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Gleich drei mitreißende Geschichten hat Rezensentin Ina Hartwig in Marie N'Diayes neuem "brillantem" Roman gelesen. Mit viel psychoanalytischem Einfühlungsvermögen und atmosphärisch dichten Beschreibungen schildere die Autorin die Schicksale ihrer Protagonisten: da gibt es Rudy Descas, der vom Lehrer in Dakar zum Küchenangestellten in der französischen Provinz absteigt und sein ganzes psychisches Drama an seiner Frau Fanta auslässt - die wiederum alles lethargisch erträgt, schließlich aber doch ihr Lächeln zurückgewinnt. Oder Nora, die Pariser Anwältin, die von ihrem Vater nach Dakar gerufen wird, um den Stiefbruder aus dem Gefängnis zu holen. Und nicht zuletzt Khady Demba, auf der untersten Stufe der sozialen Leiter: verstoßen, betrogen, beraubt und zur Prostitution gezwungen, steht sie für ein tragisches, gewalttätiges Afrika. Eine faszinierende Engführung von Analyse und Gefühl sei N'Diaye gelungen, mit ihrer "kristallinen Sprache" lasse sie das aufwühlende Innenleben nicht nur sichtbar, sondern in seiner Intensität auch nachfühlbar werden. Damit sei N'Diaye eine der interessantesten und innovatisten literarischen Stimmen der Gegenwart, freut sich die begeisterte Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Marie NDiaye ist eine Meisterin der Schilderung körperlicher Missempfindungen ... In ihren drei moralischen Erzählungen vermischt sie diese familiären Urkonflikte geschickt mit dem gegenwärtigen Verhältnis von Erster und Dritter Welt. Das ist vielleicht kein Geniestreich, aber höchst respektabel.« Katrin Hillgruber Der Tagesspiegel 20100717
»Drei Geschichten, die ins Herz der Gegenwart und Afrikas treffen, wie es sie selten gibt. Getragen von kraftvoller Poesie und starken Frauen«