Berührend, unterhaltsam und provokant erzählt Du hast das Leben vor dir die Geschichte von Momo, einem Araberjungen ohne Eltern, und Madame Rosa, einer jüdischen Ex-Prostituierten in Paris. In dem aufregenden wie erdrückenden Lebenskampf in Belleville haben die beiden eigentlich keine Chance - aber Momo und Madame Rosa wissen sie zu nutzen. Für den Roman, längst ein französischer Klassiker, der nun in neuer Übersetzung vorliegt, erhielt Émile Ajar 1975 den Prix Goncourt. Was die Jury nicht wusste: Hinter dem Pseudonym verbarg sich Romain Gary, der damit - gegen die Regeln - zum zweiten Mal ausgezeichnet wurde.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2017Rassisten und Heilige
Romain Gary zählt in "Du hast das Leben vor dir" alle Vorurteile über Afrikaner, Araber, Juden auf: ein utopisches, zärtliches Buch
Madame Rosa nennt den kleinen Moses manchmal "einen dreckigen Kameltreiber", den kleinen Momo einmal "Araberarsch". Momo ist Moslem, Moses ist Jude und Madame Rosa niemals und immer rassistisch. Ihre Geschichte ist eine unendlich zärtliche, eine utopische: Romain Gary erzählt sie in "Du hast das Leben vor dir".
Aber eigentlich lässt er sie Momo erzählen. Am Anfang ist der zehn Jahre alt, das sagt die Madame. Sie ist eine alternde jüdische Exprostituierte, die Kinder betreut, auch Moses und Momo. Das Leben beschreibt Momo in einer Sprache, die schief ist, so aber das tiefste Unglück in einen Sound legt, der sich nie melodramatisch anhört: "Wir waren bei Madame Rosa fast alles Hurenkinder, und wenn die Mütter für ein paar Monate zum Ranschaffen in die Provinz gegangen sind, dann kamen sie vorher und hinterher nach ihren Kindern schauen." Die neue Übersetzung dieses alten Romans lässt den Jungen so reden, wie er so redet, Grammatik: egal. (Der Roman löste nach dem Tod von Romain Gary einen Skandal aus, doch dazu erst später.)
Nach Momo schaut niemand, seine Mutter wird er nie wiedersehen. Doch er hat die Madame, liebt sie über alles, und sie liebt ihn so sehr, dass sie ihm sein wahres Alter verschweigt: Momo ist vierzehn, doch Madame Rosa will nicht, dass er erwachsen wird, dass er sie verlässt. Die Geschichte spielt im Viertel der Fremden und Armen, in Belleville in Paris, in den siebziger Jahren, auch im Jetzt noch ein Ort des Gemeinsamen, aber niemals so utopisch wie in diesem Buch - obwohl Leben auch dort Überleben ist. Grausam, doch so, wie man es sich nur wünschen kann: Araber, Afrikaner, Juden und ein paar Franzosen leben zusammen, und das sehr gemeinsam, idyllisch. Jeder streitet mit jedem, jeder hilft jedem, kein Problem mit Religion, mit Kultur. Das liegt daran, dass die Menschen in Momos Belleville sich bewusst sind, unterschiedlich zu sein. Jeder weiß um seine Herkunft, ist darauf so stolz, dass er andere, die anders sind, nicht hassen muss. Doch diese Welt ist selbstverständlich nicht supersauber, nicht politisch korrekt, Vorurteile leben auch da, weil sie zum Leben gehören.
Einmal heult Moses, Madame Rosa will von Momo wissen, warum. "Ach Scheiße! Verdammt noch mal! Juden unter sich heulen immer, Madame Rosa, das müssten Sie doch wissen. Deswegen hat man ihnen sogar eine Mauer gebaut", antwortet er. Ein anderes Mal heult Momo, weil er wiederum wissen will, wer seine Mutter war, wo sie ist. Madame Rosa wird wütend, sagt, "dass alle Araber so sind, man reicht ihnen den kleinen Finger und sie schnappen gleich nach der ganzen Hand". Immer wieder werden Vorurteile über Juden, Franzosen, Afrikaner und Araber aufgesagt, von Momo, von der Madame, was stark ist, denn es ist gut, dass das bisschen Böse der Menschen gezeigt wird, weil es wahr ist, das bisschen Böse hat jeder in sich.
In der Not aber vergessen das Bisschen dann alle, zumindest in diesem großen, sanften, rauhen Roman. Madame Rosa wird krank, und die Nachbarschaft hilft. Da ist Madame Lola, ein Senegalese, ehemaliger Champion im Boxen, jetzt Transvestit, der auf dem Strich von Bois de Boulogne "ranschafft". Sie kocht und räumt auf. Und Doktor Katz kommt immer wieder vorbei. Da er sehr alt ist, müssen ihn die Gebrüder Zaoum wie ein Möbelstück rauf in den sechsten Stock tragen, und dann wieder runter. Auch Monsieur Waloumba besucht die Madame, tanzt da Stammestänze mit Freunden aus Kamerun, um sie zu heilen.
Das ist selbstverständlich gehüllt ins Klischee, wie vieles in diesem Roman: Madame Rosa hat Auschwitz überlebt und wird nachts noch immer von der Gestapo geholt, Monsieur Hamil, der Lehrer von Momo, ist Teppichhändler und zitiert den Koran, und Monsieur N'Da Amédée aus Niger, "der größte Zuhälter von allen Schwarzen in Paris", ist Analphabet. Trotzdem klingt das nie zu folkloristisch, was einerseits an der Sprache liegt, in der Momo erzählt, an diesem Ton des verrutschten Satzbaus, der verfehlten Worte. Andererseits verschwimmen alle Klischees, weil sich davor große Geschichten aufrichten, sie erzählen von Träumen, von Traumata, die jeder so hat. Und das ohne Schema. Madame Rosa zum Beispiel hat ein Porträt von "Monsieur Hitler unter dem Bett", erzählt Momo, "und wenn sie unglücklich war und nicht mehr wusste, welchen Heiligen verdammen, dann hat sie immer dieses Porträt hervorgekramt, schaute es an und sofort gings ihr besser, das war dann immerhin eine Sorge weniger."
Momo sorgt sich krankhaft um die kranke Madame, er spricht Jiddisch mit ihr, wenn sie das Französisch vergisst, betet ihr Schma Jisrael vor, wenn ihr die Verse entfallen. Obwohl er sich eigentlich nicht in Religion einmischen will, denn das bringt immer Ärger, das weiß er.
Momo heißt im wahren Leben Diego, er ist kein Araberjunge, aber genauso verwahrlost. Momos Geschichte ist die Geschichte des Sohns von Romain Gary und der Schauspielerin Jean Seberg. Als sie mit ihrer Ehe kämpften, der Scheidung und ihrem Leben, wuchs Diego bei der Haushälterin auf. Wie Momo lernte er die Sprache seiner Madame, doch es war kein Jiddisch, es war Spanisch. Das alles wurde aber erst später bekannt. Denn "Du hast das Leben vor dir" erschien 1975 unter dem Pseudonym Émile Ajar, und diesen erfundenen Schriftsteller spielte der Großcousin von Romain Gary, bekam sogar den Prix Goncourt.
1979 nahm sich Jean Seberg das Leben. 1980 Romain Gary. Er hinterließ eine Notiz, die seinen Selbstmord erklärte und doch nicht: "Keine Verbindung zu Jean Seberg. Liebhaber von gebrochenen Herzen werden freundlich gebeten, anderswo zu gucken." Ein literarisches Testament hinterließ Gary aber auch, in dem er zugab, Émile Ajar zu sein. So hat Gary es geschafft, als Einziger in der Geschichte den Prix Goncourt zweimal zu gewinnen, was die Regeln verbieten: 1956 als Romain Gary und 1975 als Émile Ajar.
Doch dieser kleine große Skandal ist nicht der Grund, "Du hast das Leben vor dir" zu lesen, wiederzulesen. Es ist die Utopie dieses Romans, die ihn im Jetzt zwingend macht. Sie zeigt, wie Zusammenleben, Gemeinsamleben so geht. In Momos Belleville schaffen es alle, obwohl sie keine Heiligen sind, sondern Zuhälter, Huren und ihre Kinder - und alle immer ein bisschen rassistisch. Sie wissen, was sie geprägt hat, sprechen offen über die Traumata, die Biographie. Deshalb klappt es. Vielleicht fehlt diesem Gemeinsamen der Wirklichkeitssinn. Vielleicht ist es einfach der Traum von einer Welt, in der Menschen ihre Unterschiede aussprechen, kennen und deshalb niemals zu Feinden werden können und müssen. Und so eine Welt sollte man heute umso heftiger träumen.
ANNA PRIZKAU
Romain Gary: "Du hast das Leben vor dir". Roman. Übersetzt von Christoph Roeber. Rotpunktverlag, 248 Seiten, 24 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Romain Gary zählt in "Du hast das Leben vor dir" alle Vorurteile über Afrikaner, Araber, Juden auf: ein utopisches, zärtliches Buch
Madame Rosa nennt den kleinen Moses manchmal "einen dreckigen Kameltreiber", den kleinen Momo einmal "Araberarsch". Momo ist Moslem, Moses ist Jude und Madame Rosa niemals und immer rassistisch. Ihre Geschichte ist eine unendlich zärtliche, eine utopische: Romain Gary erzählt sie in "Du hast das Leben vor dir".
Aber eigentlich lässt er sie Momo erzählen. Am Anfang ist der zehn Jahre alt, das sagt die Madame. Sie ist eine alternde jüdische Exprostituierte, die Kinder betreut, auch Moses und Momo. Das Leben beschreibt Momo in einer Sprache, die schief ist, so aber das tiefste Unglück in einen Sound legt, der sich nie melodramatisch anhört: "Wir waren bei Madame Rosa fast alles Hurenkinder, und wenn die Mütter für ein paar Monate zum Ranschaffen in die Provinz gegangen sind, dann kamen sie vorher und hinterher nach ihren Kindern schauen." Die neue Übersetzung dieses alten Romans lässt den Jungen so reden, wie er so redet, Grammatik: egal. (Der Roman löste nach dem Tod von Romain Gary einen Skandal aus, doch dazu erst später.)
Nach Momo schaut niemand, seine Mutter wird er nie wiedersehen. Doch er hat die Madame, liebt sie über alles, und sie liebt ihn so sehr, dass sie ihm sein wahres Alter verschweigt: Momo ist vierzehn, doch Madame Rosa will nicht, dass er erwachsen wird, dass er sie verlässt. Die Geschichte spielt im Viertel der Fremden und Armen, in Belleville in Paris, in den siebziger Jahren, auch im Jetzt noch ein Ort des Gemeinsamen, aber niemals so utopisch wie in diesem Buch - obwohl Leben auch dort Überleben ist. Grausam, doch so, wie man es sich nur wünschen kann: Araber, Afrikaner, Juden und ein paar Franzosen leben zusammen, und das sehr gemeinsam, idyllisch. Jeder streitet mit jedem, jeder hilft jedem, kein Problem mit Religion, mit Kultur. Das liegt daran, dass die Menschen in Momos Belleville sich bewusst sind, unterschiedlich zu sein. Jeder weiß um seine Herkunft, ist darauf so stolz, dass er andere, die anders sind, nicht hassen muss. Doch diese Welt ist selbstverständlich nicht supersauber, nicht politisch korrekt, Vorurteile leben auch da, weil sie zum Leben gehören.
Einmal heult Moses, Madame Rosa will von Momo wissen, warum. "Ach Scheiße! Verdammt noch mal! Juden unter sich heulen immer, Madame Rosa, das müssten Sie doch wissen. Deswegen hat man ihnen sogar eine Mauer gebaut", antwortet er. Ein anderes Mal heult Momo, weil er wiederum wissen will, wer seine Mutter war, wo sie ist. Madame Rosa wird wütend, sagt, "dass alle Araber so sind, man reicht ihnen den kleinen Finger und sie schnappen gleich nach der ganzen Hand". Immer wieder werden Vorurteile über Juden, Franzosen, Afrikaner und Araber aufgesagt, von Momo, von der Madame, was stark ist, denn es ist gut, dass das bisschen Böse der Menschen gezeigt wird, weil es wahr ist, das bisschen Böse hat jeder in sich.
In der Not aber vergessen das Bisschen dann alle, zumindest in diesem großen, sanften, rauhen Roman. Madame Rosa wird krank, und die Nachbarschaft hilft. Da ist Madame Lola, ein Senegalese, ehemaliger Champion im Boxen, jetzt Transvestit, der auf dem Strich von Bois de Boulogne "ranschafft". Sie kocht und räumt auf. Und Doktor Katz kommt immer wieder vorbei. Da er sehr alt ist, müssen ihn die Gebrüder Zaoum wie ein Möbelstück rauf in den sechsten Stock tragen, und dann wieder runter. Auch Monsieur Waloumba besucht die Madame, tanzt da Stammestänze mit Freunden aus Kamerun, um sie zu heilen.
Das ist selbstverständlich gehüllt ins Klischee, wie vieles in diesem Roman: Madame Rosa hat Auschwitz überlebt und wird nachts noch immer von der Gestapo geholt, Monsieur Hamil, der Lehrer von Momo, ist Teppichhändler und zitiert den Koran, und Monsieur N'Da Amédée aus Niger, "der größte Zuhälter von allen Schwarzen in Paris", ist Analphabet. Trotzdem klingt das nie zu folkloristisch, was einerseits an der Sprache liegt, in der Momo erzählt, an diesem Ton des verrutschten Satzbaus, der verfehlten Worte. Andererseits verschwimmen alle Klischees, weil sich davor große Geschichten aufrichten, sie erzählen von Träumen, von Traumata, die jeder so hat. Und das ohne Schema. Madame Rosa zum Beispiel hat ein Porträt von "Monsieur Hitler unter dem Bett", erzählt Momo, "und wenn sie unglücklich war und nicht mehr wusste, welchen Heiligen verdammen, dann hat sie immer dieses Porträt hervorgekramt, schaute es an und sofort gings ihr besser, das war dann immerhin eine Sorge weniger."
Momo sorgt sich krankhaft um die kranke Madame, er spricht Jiddisch mit ihr, wenn sie das Französisch vergisst, betet ihr Schma Jisrael vor, wenn ihr die Verse entfallen. Obwohl er sich eigentlich nicht in Religion einmischen will, denn das bringt immer Ärger, das weiß er.
Momo heißt im wahren Leben Diego, er ist kein Araberjunge, aber genauso verwahrlost. Momos Geschichte ist die Geschichte des Sohns von Romain Gary und der Schauspielerin Jean Seberg. Als sie mit ihrer Ehe kämpften, der Scheidung und ihrem Leben, wuchs Diego bei der Haushälterin auf. Wie Momo lernte er die Sprache seiner Madame, doch es war kein Jiddisch, es war Spanisch. Das alles wurde aber erst später bekannt. Denn "Du hast das Leben vor dir" erschien 1975 unter dem Pseudonym Émile Ajar, und diesen erfundenen Schriftsteller spielte der Großcousin von Romain Gary, bekam sogar den Prix Goncourt.
1979 nahm sich Jean Seberg das Leben. 1980 Romain Gary. Er hinterließ eine Notiz, die seinen Selbstmord erklärte und doch nicht: "Keine Verbindung zu Jean Seberg. Liebhaber von gebrochenen Herzen werden freundlich gebeten, anderswo zu gucken." Ein literarisches Testament hinterließ Gary aber auch, in dem er zugab, Émile Ajar zu sein. So hat Gary es geschafft, als Einziger in der Geschichte den Prix Goncourt zweimal zu gewinnen, was die Regeln verbieten: 1956 als Romain Gary und 1975 als Émile Ajar.
Doch dieser kleine große Skandal ist nicht der Grund, "Du hast das Leben vor dir" zu lesen, wiederzulesen. Es ist die Utopie dieses Romans, die ihn im Jetzt zwingend macht. Sie zeigt, wie Zusammenleben, Gemeinsamleben so geht. In Momos Belleville schaffen es alle, obwohl sie keine Heiligen sind, sondern Zuhälter, Huren und ihre Kinder - und alle immer ein bisschen rassistisch. Sie wissen, was sie geprägt hat, sprechen offen über die Traumata, die Biographie. Deshalb klappt es. Vielleicht fehlt diesem Gemeinsamen der Wirklichkeitssinn. Vielleicht ist es einfach der Traum von einer Welt, in der Menschen ihre Unterschiede aussprechen, kennen und deshalb niemals zu Feinden werden können und müssen. Und so eine Welt sollte man heute umso heftiger träumen.
ANNA PRIZKAU
Romain Gary: "Du hast das Leben vor dir". Roman. Übersetzt von Christoph Roeber. Rotpunktverlag, 248 Seiten, 24 Euro
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Perlentaucher-Notiz zur FAS-Rezension
So "zärtlich" wie in Romain Garys nun in einer vorzüglichen Neuübersetzung vorliegendem Roman "Du hast das Leben vor dir" hat Rezensentin Anna Prizkau noch nie von Vorurteilen gegenüber Afrikaner, Araber, Juden und Franzosen gelesen. In der Geschichte um den kleinen arabischen Waisenjungen Momo, der bei der Ex-Prostituierten und Holocaust-Überlebenden Madame Rosa aufwächst, blickt die Kritikerin in das Pariser Viertel Belleville in den siebziger Jahren, erlebt die Armut, aber auch das gesellige und idyllische Zusammenleben der verschiedenen Religionen und Kulturen miteinander und begegnet zahlreichen kuriosen Figuren. Großartig, wie Gary die Geschichte politisch inkorrekt, aber ganz ohne Folklore aus der kindlichen Perspektive des kleinen Momo erzählt, schwärmt die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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