Josepha Mendels führte ein für damalige Verhältnisse beispiellos unabhängiges Leben und setzte mit der Figur der Henriëtte allen frei denkenden, fühlenden und handelnden, ebenso verrückten wie lebensklugen Frauen ein Denkmal.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.02.2019Ein Flüchtling, der sich wie im Urlaub fühlt
Josepha Mendels hat mit "Du wusstest es doch" einen provozierenden Roman über jüdisches Exil im Zweiten Weltkrieg geschrieben
Arno Geiger hat im vergangenen Jahr einen Roman veröffentlicht, dessen Reiz darin bestand, den Zweiten Weltkrieg in ungewohnter Banalität des Guten darzustellen. Ihn also aus der Perspektive eines anständigen Teils der Zivilbevölkerung zu erzählen. Im Zentrum standen zwei junge Menschen jenseits der Front: die Reichsdeutsche Margot gemeinsam mit ihrem Säugling auf Erholung am Mondsee und der Wiener Soldat Veit, der dort eine Kriegsverletzung auskurieren soll. Wie bei jedem Kriegsbuch regierten auch in "Unter der Drachenwand" die Ereignisse an der Front das Geschehen - aber als Latenzerfahrung. Der Himmel verdüstert sich nach jedem Bombenabwurf, doch unter der Drachenwand gibt's Kinderjauchzen und Eierspeise. Geiger griff damit die Perspektive des umstrittenen Fernsehdreiteilers "Unsere Mütter, unsere Väter" aus dem Jahr 2013 auf.
Der Wagenbach Verlag hat sich nun mit dem Roman "Du wusstest es doch" an die Übersetzung einer niederländischen Autorin gemacht, die schon 1948 in dieser Doppelbödigkeit über den Krieg schrieb. Dieser Weg war nicht nur nach Böll der deutschen Nachkriegsliteratur lange versperrt geblieben. Bei Josepha Mendels existieren Familienschicksale unumwunden neben der Ekstase des Augenblicks. Im Zentrum stehen der jüdische Dichter Frans Winter und seine Geliebte, die rebellische Henriëtje Bas. Beide sind den Deportationen in den besetzten Niederlanden entkommen und finden in London Unterschlupf und Arbeit. Sie begegnen sich im Hyde Park und werden Freunde, Geliebte, Komplizen. Gegen jede Konvention gelingt es ihnen sogar, unter einem Dach zu wohnen. Frans hat Frau und Kinder zurückgelassen, Henriëtje ihre Schwestern. Und dennoch bedeutet London für beide das Glück einer Liebe, die niemandem Rechenschaft schuldig ist und die von einer Zukunft nichts wissen will.
Einige der siebzehn Kapitel handeln von daheimgebliebenen Verwandten: von Frans' Mutter, die nach Theresienstadt verschleppt wurde, oder von der Ermordung von Henriëtjes Schwester, Schwager und Neffen. Josepha Mendels nimmt ihre Leser überall dorthin mit, wo wir schon zigfach durch die Literatur vermittelt gewesen sind. Durch die Pyrenäen, die Frans Winter mit einem Schlepper durchquert, an Bord eines Klippers mit Zielhafen London, in die Vernichtungslager der Deutschen. Doch schon in Madrid, wo Frans nach dem Pyrenäen-Abenteuer Zeit absitzt, denkt er über sich selbst: "Der Flüchtling hört zu, er fühlt sich wie im Urlaub."
Nach einem Umweg über ein Madrider Gefängnis gelangt Frans nach London und bildet mit Henriëtje ein Paar auf die denkbar unkomplizierteste Weise. Sie nennen einander Wichtel und Rädertier, Letzteres ein Vierzeller, der vor allem deswegen begeistert, weil das Männchen im Eheleben eine untergeordnete Rolle spielt. Männliche Rädertierchen werden nur kurz vom anderen Geschlecht geduldet. "Danach verschwinden sie endgültig von der Bildfläche."
Aber zunächst ist noch Schonzeit im Jagdrevier: "Als Gott Stille wollte, schuf er die Nacht. In dieser Stille haben Rädertier und Wichtel gegenseitig ihre Körper erkundet." Gleichzeitig greift Frans auch nach anderen Gelegenheiten: "Never tie your shoelaces in a cucumber field", empfiehlt er einer jungen Frau, die sich in der Subway zu weit nach unten bückt. Dass Henriëtje auch kein Kind von Traurigkeit ist, bringt das Rädertier allerdings in arge Seelennöte. Nicht umsonst wird Josepha Mendels als Ikone des Feminismus gefeiert. Ihm sei schon klar, dass sie ihn wieder verlassen werde, sagt Frans zu Henriëtje. Aber natürlich macht er ihr ungerechte Szenen. Einmal hat Henriëtje die Kühnheit, zu seinem Geburtstag sämtliche Flammen einzuladen. Das klingt nach den Lebensstilexperimenten der Zwanziger. Und natürlich nach denen der sexuellen Revolution. "Verheiratet, für die Dauer des Kriegs", so definiert Henriëtje ihren Beziehungsstatus. "Immerhin ist es das erste Mal, dass ich meine Unabhängigkeit aufgebe. Wahrscheinlich weil ich weiß, dass ich wieder allein sein werde, sobald Frieden ist."
Dieser stilistisch unbefangene, fast kindfrauliche Roman hat aber noch mehr zu bieten als Reflexionen über die Liebe im Ausnahmezustand. Auch zum Judentum finden sich interessante Kapitel. Wie Frans einmal bemerkt, habe die "Judenfrage" für ihn bis 1940 gar nicht existiert. Plötzlich war er dann aber Jude, wurde als solcher verfolgt und soll vorerst nicht Teil einer Repatriierungsdelegation in die Niederlande sein. Man fürchtet, der nach wie vor grassierende Antisemitismus vertrage sich nicht mit der Rückkehr allzu vieler Landsleute jüdischer Herkunft. Später, heißt es, habe Frans im Laufe der Jahre ein "Klapp-Sinnesorgan" ausgebildet, mit dem er wachsam und argwöhnisch jedem Anzeichen von Antisemitismus in Zeitungen oder Zeitschriften, bei Zeitgenossen oder geschätzten Autoren wie Henry Miller nachspüre.
Eines Tages endet das Märchen von Frans und Henriëtje. Der Krieg ist vorbei. Der Weg zurück zur alten Familie oder zu dem, was von ihr geblieben ist, liegt vor den Exilanten wie eine Pflicht. Die Frage des Vergessenmüssens betrifft nun nicht mehr nur die kriegsbedingten Traumatisierungen der Liebenden, sondern auch ihr kriegsbedingtes Glück. Einmal noch, Jahre später, sieht Frans Henriëtje durch das Fenster eines Ladenlokals. "Aber als sie sich dem Fenster zuwendet, winkt ihm der Weg ins Vergessen." Dieser Roman, der auf leichten Füßen die ganz großen Themen des Exils und der Nachkriegszeit behandelt, wird länger auf der Bildfläche der relevanten Nachkriegsliteratur bleiben als ein weibliches Rädertierchen bei seinem Gatten.
KATHARINA TEUTSCH
Josepha Mendels: "Du wusstest es doch". Roman.
Aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas. Wagenbach Verlag, Berlin 2018. 192 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Josepha Mendels hat mit "Du wusstest es doch" einen provozierenden Roman über jüdisches Exil im Zweiten Weltkrieg geschrieben
Arno Geiger hat im vergangenen Jahr einen Roman veröffentlicht, dessen Reiz darin bestand, den Zweiten Weltkrieg in ungewohnter Banalität des Guten darzustellen. Ihn also aus der Perspektive eines anständigen Teils der Zivilbevölkerung zu erzählen. Im Zentrum standen zwei junge Menschen jenseits der Front: die Reichsdeutsche Margot gemeinsam mit ihrem Säugling auf Erholung am Mondsee und der Wiener Soldat Veit, der dort eine Kriegsverletzung auskurieren soll. Wie bei jedem Kriegsbuch regierten auch in "Unter der Drachenwand" die Ereignisse an der Front das Geschehen - aber als Latenzerfahrung. Der Himmel verdüstert sich nach jedem Bombenabwurf, doch unter der Drachenwand gibt's Kinderjauchzen und Eierspeise. Geiger griff damit die Perspektive des umstrittenen Fernsehdreiteilers "Unsere Mütter, unsere Väter" aus dem Jahr 2013 auf.
Der Wagenbach Verlag hat sich nun mit dem Roman "Du wusstest es doch" an die Übersetzung einer niederländischen Autorin gemacht, die schon 1948 in dieser Doppelbödigkeit über den Krieg schrieb. Dieser Weg war nicht nur nach Böll der deutschen Nachkriegsliteratur lange versperrt geblieben. Bei Josepha Mendels existieren Familienschicksale unumwunden neben der Ekstase des Augenblicks. Im Zentrum stehen der jüdische Dichter Frans Winter und seine Geliebte, die rebellische Henriëtje Bas. Beide sind den Deportationen in den besetzten Niederlanden entkommen und finden in London Unterschlupf und Arbeit. Sie begegnen sich im Hyde Park und werden Freunde, Geliebte, Komplizen. Gegen jede Konvention gelingt es ihnen sogar, unter einem Dach zu wohnen. Frans hat Frau und Kinder zurückgelassen, Henriëtje ihre Schwestern. Und dennoch bedeutet London für beide das Glück einer Liebe, die niemandem Rechenschaft schuldig ist und die von einer Zukunft nichts wissen will.
Einige der siebzehn Kapitel handeln von daheimgebliebenen Verwandten: von Frans' Mutter, die nach Theresienstadt verschleppt wurde, oder von der Ermordung von Henriëtjes Schwester, Schwager und Neffen. Josepha Mendels nimmt ihre Leser überall dorthin mit, wo wir schon zigfach durch die Literatur vermittelt gewesen sind. Durch die Pyrenäen, die Frans Winter mit einem Schlepper durchquert, an Bord eines Klippers mit Zielhafen London, in die Vernichtungslager der Deutschen. Doch schon in Madrid, wo Frans nach dem Pyrenäen-Abenteuer Zeit absitzt, denkt er über sich selbst: "Der Flüchtling hört zu, er fühlt sich wie im Urlaub."
Nach einem Umweg über ein Madrider Gefängnis gelangt Frans nach London und bildet mit Henriëtje ein Paar auf die denkbar unkomplizierteste Weise. Sie nennen einander Wichtel und Rädertier, Letzteres ein Vierzeller, der vor allem deswegen begeistert, weil das Männchen im Eheleben eine untergeordnete Rolle spielt. Männliche Rädertierchen werden nur kurz vom anderen Geschlecht geduldet. "Danach verschwinden sie endgültig von der Bildfläche."
Aber zunächst ist noch Schonzeit im Jagdrevier: "Als Gott Stille wollte, schuf er die Nacht. In dieser Stille haben Rädertier und Wichtel gegenseitig ihre Körper erkundet." Gleichzeitig greift Frans auch nach anderen Gelegenheiten: "Never tie your shoelaces in a cucumber field", empfiehlt er einer jungen Frau, die sich in der Subway zu weit nach unten bückt. Dass Henriëtje auch kein Kind von Traurigkeit ist, bringt das Rädertier allerdings in arge Seelennöte. Nicht umsonst wird Josepha Mendels als Ikone des Feminismus gefeiert. Ihm sei schon klar, dass sie ihn wieder verlassen werde, sagt Frans zu Henriëtje. Aber natürlich macht er ihr ungerechte Szenen. Einmal hat Henriëtje die Kühnheit, zu seinem Geburtstag sämtliche Flammen einzuladen. Das klingt nach den Lebensstilexperimenten der Zwanziger. Und natürlich nach denen der sexuellen Revolution. "Verheiratet, für die Dauer des Kriegs", so definiert Henriëtje ihren Beziehungsstatus. "Immerhin ist es das erste Mal, dass ich meine Unabhängigkeit aufgebe. Wahrscheinlich weil ich weiß, dass ich wieder allein sein werde, sobald Frieden ist."
Dieser stilistisch unbefangene, fast kindfrauliche Roman hat aber noch mehr zu bieten als Reflexionen über die Liebe im Ausnahmezustand. Auch zum Judentum finden sich interessante Kapitel. Wie Frans einmal bemerkt, habe die "Judenfrage" für ihn bis 1940 gar nicht existiert. Plötzlich war er dann aber Jude, wurde als solcher verfolgt und soll vorerst nicht Teil einer Repatriierungsdelegation in die Niederlande sein. Man fürchtet, der nach wie vor grassierende Antisemitismus vertrage sich nicht mit der Rückkehr allzu vieler Landsleute jüdischer Herkunft. Später, heißt es, habe Frans im Laufe der Jahre ein "Klapp-Sinnesorgan" ausgebildet, mit dem er wachsam und argwöhnisch jedem Anzeichen von Antisemitismus in Zeitungen oder Zeitschriften, bei Zeitgenossen oder geschätzten Autoren wie Henry Miller nachspüre.
Eines Tages endet das Märchen von Frans und Henriëtje. Der Krieg ist vorbei. Der Weg zurück zur alten Familie oder zu dem, was von ihr geblieben ist, liegt vor den Exilanten wie eine Pflicht. Die Frage des Vergessenmüssens betrifft nun nicht mehr nur die kriegsbedingten Traumatisierungen der Liebenden, sondern auch ihr kriegsbedingtes Glück. Einmal noch, Jahre später, sieht Frans Henriëtje durch das Fenster eines Ladenlokals. "Aber als sie sich dem Fenster zuwendet, winkt ihm der Weg ins Vergessen." Dieser Roman, der auf leichten Füßen die ganz großen Themen des Exils und der Nachkriegszeit behandelt, wird länger auf der Bildfläche der relevanten Nachkriegsliteratur bleiben als ein weibliches Rädertierchen bei seinem Gatten.
KATHARINA TEUTSCH
Josepha Mendels: "Du wusstest es doch". Roman.
Aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas. Wagenbach Verlag, Berlin 2018. 192 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main