Josepha Mendels führte ein für damalige Verhältnisse beispiellos unabhängiges Leben und setzte mit der Figur der Henriëtte allen frei denkenden, fühlenden und handelnden, ebenso verrückten wie lebensklugen Frauen ein Denkmal: Der jüdische Dichter Frans gibt sich 1943 auf der Flucht das Versprechen, jede Erinnerung an seine in den Niederlanden zurückgelassene Frau, seine zwei Kinder und seine Mutter in einen geheimen Winkel des Herzens zu schieben – und den Rest weit zu öffnen. Dann begegnet er im Londoner Hyde Park zufällig der ebenfalls exilierten Henriëtte, und sofort beginnt ihre exzentrische, freie, ehrliche, intensive Liebe, die ihr eigenes Ende kennt und deshalb die Kompromisse umso kompromissloser lebt. Dieser Liebesroman verzaubert durch seine zugleich poetische und humorvolle Sprache, die frei von jedem Pathos ist. Mendels zeigt uns den Sprung in einem altmodischen Emaille-Waschbecken und erzählt doch in Wahrheit vom Seelenzustand derer, die davor stehen. Das muss man erstmal können, sagt der geneigte Leser glücklich seufzend.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.10.2018Vom schattenhaften
Glück des Augenblicks
Die späte Wiederentdeckung der wunderbaren
Schriftstellerin Josepha Mendels
Man muss besonders naiv, besonders rücksichtslos oder besonders begabt im Verdrängen sein, wenn man so wie Frans Winter durch die schlimmsten Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts stolpert. Frans ist ein jüdischer Dichter, der vor Hitlers Expansions- und Vernichtungsdrang aus seiner Heimat, den Niederlanden, nach London flieht. Der Weg dahin: ein einziges Taumeln, das der Gutgläubige wie der tragikomische Held eines Ernst-Lubitsch-Films übersteht. Im Exil angekommen, scheint er die Verbindung zur Heimat für ein paar Jahre ganz zu kappen – ein Intermezzo in seinem Leben. An die in Eindhoven zurückgelassene Frau und die Kinder denkt er kaum, höchstens als an Menschen, die in der Zukunft auf ihn warten.
„Im Fernglas“ ist das Kommende immer schon sichtbar und wird in kleinen eingestreuten Kapiteln erzählt. Darin scheint das spätere Leben auf und verleiht so dem Jetzt eine Bedeutungslast, an der weniger Frans als wir Leser zu tragen haben. Für Frans ist die Gegenwart ein akuter Ausnahmezustand. Und der Mann kann nicht aus seiner Haut, er bleibt ein Liebender. Also liebt er im Exil die Schicksalsgenossin Henriëtje, die er im Londoner Hyde Park kennenlernt und mit der er eine bescheidene Unterkunft teilt.
Henriëtje füllt mehrere Leerstellen im Leben von Frans aus: die der Trösterin, Ehefrau, Liebhaberin. Die beiden geben sich Kosenamen und begehren sich umso mehr, als sie wissen, dass ihre gemeinsame Zeit an die Dauer des Krieges gebunden ist. Als Frans am Ende der Emigrationszeit die Nachricht vom Tod seiner Mutter erhält, lässt er zum ersten Mal in sein Bewusstsein dringen, dass die Zuhausegebliebenen in größter Gefahr lebten. Die Mutter ist 1943 in Theresienstadt umgekommen. Er habe den ganzen Krieg mit Jungsaugen gesehen, gibt Frans zu.
Josepha Mendels hat diesen traurigen Träumer, diesen Homme de Lettres und mehr noch à Femmes im Jahr 1948 erfunden oder vielleicht aus ihren Erfahrungen im Exil zusammengesetzt. Unter dem Titel „Du wusstest es doch“ ist der Roman in diesem Sommer zum ersten Mal auf Deutsch erschienen, in der Übersetzung von Marlene Müller-Haas, überhaupt ist dies das erste Buch der 1995 gestorbenen Autorin, das hier publiziert wird.
Mendels wurde 1902 in Groningen in eine jüdisch-orthodoxe Familie hineingeboren, ging als Journalistin nach Paris, emigrierte nach London, wo sie sich als Angestellte eines Nachrichtendienstes durch die Kriegszeit schlug. Danach kehrte sie zurück nach Frankreich, arbeitete in der Pressestelle der niederländischen Botschaft, bekam einen Sohn, schrieb Romane, die wenig erfolgreich waren. Erst in den achtziger Jahren wurde Josepha Mendels in den Niederlanden entdeckt, dank der feministischen Literaturwissenschaft. Nicht nur ihre Bücher wurden nun gebührend rezipiert, auch ihr selbstbewusstes und eigensinniges Leben erfuhr eine Würdigung. Es folgten Ehrungen, und in ihren letzten Lebensjahren kehrte Mendels zurück in ihre Heimat.
So wie ihr Held Frans 40 Jahre zuvor. Es gehört zu den anrührenden Szenen des Romans, wie Frans und Henriëtje nach zwei Jahren des verschatteten, aber doch berauschenden Glücks voneinander Abschied nehmen. Und zu den sonderbaren, denn erst, als er bei der Botschaft um die Papiere für seine Rückkehr in die Niederlande ersucht, wird Frans sich seiner selbst ganz bewusst und fremd zugleich. Ihm werden eine Herkunft und Identität aufgezwungen, die ihm bislang bedeutungslos vorgekommen waren. Man wolle nicht so viele „Israeliten“ zurücksenden, wird ihm von einem Botschaftsmitarbeiter beschieden. Die Propaganda der Nazis habe allzu gut gewirkt, in Holland sei der Antisemitismus verbreitet, man möchte ihn durch die Remigranten nicht weiter schüren.
„Jude! Du bist jetzt gebrandmarkt“, grübelt es in Frans. „Du wirst nirgends mehr hingehen können, ohne dass sie dich mit dieser Gattungsbezeichnung etikettieren. Du bist kein Dichter mehr, kein Regierungsbeamter, kein Mann, kein Liebhaber, kein Sohn, du bist ein jüdischer Dichter, ein jüdischer Regierungsbeamter, ein jüdischer Mann, ein jüdischer Liebhaber und, ob du es willst oder nicht, ein Sohn des alten Volkes. Ich, der für sich als einzig möglichen Weg die Freiheit gewählt hat, ich werde einer bestimmten Gruppe angehören müssen, bestimmte Gesetze befolgen müssen, dies ist einem Juden gerade noch erlaubt, jenes nicht mehr. Ich ein Jude?“ Josepha Mendels dürfte unter solchen Zuschreibungen ähnlich gelitten haben wie ihr Held.
In den Roman ist die Geschichte von Henriëtjes Schwester Mirjam eingebaut, als auch stilistisch herausfallende Binnenerzählung. Mirjam teilt mit ihrem jüdischen Mann den festen Glauben an die bürgerliche Welt, der sie ihr ganzes Selbstverständnis verdanken. Sie verstehen nichts von Politik und lassen sie nicht in ihre behütete Welt hineinregieren, bis es zu spät ist – wie es für viele Juden zu spät war, die weder ihren Feinden noch ihren Nachbarn das Ungeheuerliche zutrauten. Sie werden samt beider Söhne deportiert.
Es liegt in diesem in schönem Ton erzählten Roman eine Melancholie, die von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen rührt: dem Massenmord und der sich wie in einer Blase ereignenden Liebe, dem beharrlichen Alltag in London und dem Schweigen über die Zurückgelassenen in den besetzten Gebieten, Absurdität und Augenblicksglück.
Henriëtje, die im Roman zwar weniger Raum einnimmt als Frans, aber keineswegs blass erscheint, ist kaum eine Komplementärfigur zu ihrem Liebhaber, eher ein Spiegel. Sie nimmt sich – eben wie dieser dichtende Frauenheld – Freiheiten, die für die Zeit ungewöhnlich sind. Sie ist eine ganz modern Liebende, die ihre „Frauenrolle“ wie in Anführungszeichen begreift. Es ist, als hätte Josepha Mendels sich nicht nur in ihrer weiblichen Hauptfigur selbst porträtiert, sondern auch in Frans Winter: eine Mischung aus Entschlossenheit und Sensibilität, Stärke und Verwegenheit. Das sind die Pole eines ungewöhnlichen Lebens – und dieses lesenswerten Romans.
ULRICH RÜDENAUER
Ihm werden eine Herkunft und
eine Identität aufgezwungen,
die ihm bedeutungslos vorkamen
Josepha Mendels:
Du wusstest es doch.
Roman. Aus dem
Niederländischen
von Marlene Müller-Haas. Verlag Klaus Wagenbach. Berlin 2018.
186 Seiten. 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Glück des Augenblicks
Die späte Wiederentdeckung der wunderbaren
Schriftstellerin Josepha Mendels
Man muss besonders naiv, besonders rücksichtslos oder besonders begabt im Verdrängen sein, wenn man so wie Frans Winter durch die schlimmsten Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts stolpert. Frans ist ein jüdischer Dichter, der vor Hitlers Expansions- und Vernichtungsdrang aus seiner Heimat, den Niederlanden, nach London flieht. Der Weg dahin: ein einziges Taumeln, das der Gutgläubige wie der tragikomische Held eines Ernst-Lubitsch-Films übersteht. Im Exil angekommen, scheint er die Verbindung zur Heimat für ein paar Jahre ganz zu kappen – ein Intermezzo in seinem Leben. An die in Eindhoven zurückgelassene Frau und die Kinder denkt er kaum, höchstens als an Menschen, die in der Zukunft auf ihn warten.
„Im Fernglas“ ist das Kommende immer schon sichtbar und wird in kleinen eingestreuten Kapiteln erzählt. Darin scheint das spätere Leben auf und verleiht so dem Jetzt eine Bedeutungslast, an der weniger Frans als wir Leser zu tragen haben. Für Frans ist die Gegenwart ein akuter Ausnahmezustand. Und der Mann kann nicht aus seiner Haut, er bleibt ein Liebender. Also liebt er im Exil die Schicksalsgenossin Henriëtje, die er im Londoner Hyde Park kennenlernt und mit der er eine bescheidene Unterkunft teilt.
Henriëtje füllt mehrere Leerstellen im Leben von Frans aus: die der Trösterin, Ehefrau, Liebhaberin. Die beiden geben sich Kosenamen und begehren sich umso mehr, als sie wissen, dass ihre gemeinsame Zeit an die Dauer des Krieges gebunden ist. Als Frans am Ende der Emigrationszeit die Nachricht vom Tod seiner Mutter erhält, lässt er zum ersten Mal in sein Bewusstsein dringen, dass die Zuhausegebliebenen in größter Gefahr lebten. Die Mutter ist 1943 in Theresienstadt umgekommen. Er habe den ganzen Krieg mit Jungsaugen gesehen, gibt Frans zu.
Josepha Mendels hat diesen traurigen Träumer, diesen Homme de Lettres und mehr noch à Femmes im Jahr 1948 erfunden oder vielleicht aus ihren Erfahrungen im Exil zusammengesetzt. Unter dem Titel „Du wusstest es doch“ ist der Roman in diesem Sommer zum ersten Mal auf Deutsch erschienen, in der Übersetzung von Marlene Müller-Haas, überhaupt ist dies das erste Buch der 1995 gestorbenen Autorin, das hier publiziert wird.
Mendels wurde 1902 in Groningen in eine jüdisch-orthodoxe Familie hineingeboren, ging als Journalistin nach Paris, emigrierte nach London, wo sie sich als Angestellte eines Nachrichtendienstes durch die Kriegszeit schlug. Danach kehrte sie zurück nach Frankreich, arbeitete in der Pressestelle der niederländischen Botschaft, bekam einen Sohn, schrieb Romane, die wenig erfolgreich waren. Erst in den achtziger Jahren wurde Josepha Mendels in den Niederlanden entdeckt, dank der feministischen Literaturwissenschaft. Nicht nur ihre Bücher wurden nun gebührend rezipiert, auch ihr selbstbewusstes und eigensinniges Leben erfuhr eine Würdigung. Es folgten Ehrungen, und in ihren letzten Lebensjahren kehrte Mendels zurück in ihre Heimat.
So wie ihr Held Frans 40 Jahre zuvor. Es gehört zu den anrührenden Szenen des Romans, wie Frans und Henriëtje nach zwei Jahren des verschatteten, aber doch berauschenden Glücks voneinander Abschied nehmen. Und zu den sonderbaren, denn erst, als er bei der Botschaft um die Papiere für seine Rückkehr in die Niederlande ersucht, wird Frans sich seiner selbst ganz bewusst und fremd zugleich. Ihm werden eine Herkunft und Identität aufgezwungen, die ihm bislang bedeutungslos vorgekommen waren. Man wolle nicht so viele „Israeliten“ zurücksenden, wird ihm von einem Botschaftsmitarbeiter beschieden. Die Propaganda der Nazis habe allzu gut gewirkt, in Holland sei der Antisemitismus verbreitet, man möchte ihn durch die Remigranten nicht weiter schüren.
„Jude! Du bist jetzt gebrandmarkt“, grübelt es in Frans. „Du wirst nirgends mehr hingehen können, ohne dass sie dich mit dieser Gattungsbezeichnung etikettieren. Du bist kein Dichter mehr, kein Regierungsbeamter, kein Mann, kein Liebhaber, kein Sohn, du bist ein jüdischer Dichter, ein jüdischer Regierungsbeamter, ein jüdischer Mann, ein jüdischer Liebhaber und, ob du es willst oder nicht, ein Sohn des alten Volkes. Ich, der für sich als einzig möglichen Weg die Freiheit gewählt hat, ich werde einer bestimmten Gruppe angehören müssen, bestimmte Gesetze befolgen müssen, dies ist einem Juden gerade noch erlaubt, jenes nicht mehr. Ich ein Jude?“ Josepha Mendels dürfte unter solchen Zuschreibungen ähnlich gelitten haben wie ihr Held.
In den Roman ist die Geschichte von Henriëtjes Schwester Mirjam eingebaut, als auch stilistisch herausfallende Binnenerzählung. Mirjam teilt mit ihrem jüdischen Mann den festen Glauben an die bürgerliche Welt, der sie ihr ganzes Selbstverständnis verdanken. Sie verstehen nichts von Politik und lassen sie nicht in ihre behütete Welt hineinregieren, bis es zu spät ist – wie es für viele Juden zu spät war, die weder ihren Feinden noch ihren Nachbarn das Ungeheuerliche zutrauten. Sie werden samt beider Söhne deportiert.
Es liegt in diesem in schönem Ton erzählten Roman eine Melancholie, die von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen rührt: dem Massenmord und der sich wie in einer Blase ereignenden Liebe, dem beharrlichen Alltag in London und dem Schweigen über die Zurückgelassenen in den besetzten Gebieten, Absurdität und Augenblicksglück.
Henriëtje, die im Roman zwar weniger Raum einnimmt als Frans, aber keineswegs blass erscheint, ist kaum eine Komplementärfigur zu ihrem Liebhaber, eher ein Spiegel. Sie nimmt sich – eben wie dieser dichtende Frauenheld – Freiheiten, die für die Zeit ungewöhnlich sind. Sie ist eine ganz modern Liebende, die ihre „Frauenrolle“ wie in Anführungszeichen begreift. Es ist, als hätte Josepha Mendels sich nicht nur in ihrer weiblichen Hauptfigur selbst porträtiert, sondern auch in Frans Winter: eine Mischung aus Entschlossenheit und Sensibilität, Stärke und Verwegenheit. Das sind die Pole eines ungewöhnlichen Lebens – und dieses lesenswerten Romans.
ULRICH RÜDENAUER
Ihm werden eine Herkunft und
eine Identität aufgezwungen,
die ihm bedeutungslos vorkamen
Josepha Mendels:
Du wusstest es doch.
Roman. Aus dem
Niederländischen
von Marlene Müller-Haas. Verlag Klaus Wagenbach. Berlin 2018.
186 Seiten. 20 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.02.2019Ein Flüchtling, der sich wie im Urlaub fühlt
Josepha Mendels hat mit "Du wusstest es doch" einen provozierenden Roman über jüdisches Exil im Zweiten Weltkrieg geschrieben
Arno Geiger hat im vergangenen Jahr einen Roman veröffentlicht, dessen Reiz darin bestand, den Zweiten Weltkrieg in ungewohnter Banalität des Guten darzustellen. Ihn also aus der Perspektive eines anständigen Teils der Zivilbevölkerung zu erzählen. Im Zentrum standen zwei junge Menschen jenseits der Front: die Reichsdeutsche Margot gemeinsam mit ihrem Säugling auf Erholung am Mondsee und der Wiener Soldat Veit, der dort eine Kriegsverletzung auskurieren soll. Wie bei jedem Kriegsbuch regierten auch in "Unter der Drachenwand" die Ereignisse an der Front das Geschehen - aber als Latenzerfahrung. Der Himmel verdüstert sich nach jedem Bombenabwurf, doch unter der Drachenwand gibt's Kinderjauchzen und Eierspeise. Geiger griff damit die Perspektive des umstrittenen Fernsehdreiteilers "Unsere Mütter, unsere Väter" aus dem Jahr 2013 auf.
Der Wagenbach Verlag hat sich nun mit dem Roman "Du wusstest es doch" an die Übersetzung einer niederländischen Autorin gemacht, die schon 1948 in dieser Doppelbödigkeit über den Krieg schrieb. Dieser Weg war nicht nur nach Böll der deutschen Nachkriegsliteratur lange versperrt geblieben. Bei Josepha Mendels existieren Familienschicksale unumwunden neben der Ekstase des Augenblicks. Im Zentrum stehen der jüdische Dichter Frans Winter und seine Geliebte, die rebellische Henriëtje Bas. Beide sind den Deportationen in den besetzten Niederlanden entkommen und finden in London Unterschlupf und Arbeit. Sie begegnen sich im Hyde Park und werden Freunde, Geliebte, Komplizen. Gegen jede Konvention gelingt es ihnen sogar, unter einem Dach zu wohnen. Frans hat Frau und Kinder zurückgelassen, Henriëtje ihre Schwestern. Und dennoch bedeutet London für beide das Glück einer Liebe, die niemandem Rechenschaft schuldig ist und die von einer Zukunft nichts wissen will.
Einige der siebzehn Kapitel handeln von daheimgebliebenen Verwandten: von Frans' Mutter, die nach Theresienstadt verschleppt wurde, oder von der Ermordung von Henriëtjes Schwester, Schwager und Neffen. Josepha Mendels nimmt ihre Leser überall dorthin mit, wo wir schon zigfach durch die Literatur vermittelt gewesen sind. Durch die Pyrenäen, die Frans Winter mit einem Schlepper durchquert, an Bord eines Klippers mit Zielhafen London, in die Vernichtungslager der Deutschen. Doch schon in Madrid, wo Frans nach dem Pyrenäen-Abenteuer Zeit absitzt, denkt er über sich selbst: "Der Flüchtling hört zu, er fühlt sich wie im Urlaub."
Nach einem Umweg über ein Madrider Gefängnis gelangt Frans nach London und bildet mit Henriëtje ein Paar auf die denkbar unkomplizierteste Weise. Sie nennen einander Wichtel und Rädertier, Letzteres ein Vierzeller, der vor allem deswegen begeistert, weil das Männchen im Eheleben eine untergeordnete Rolle spielt. Männliche Rädertierchen werden nur kurz vom anderen Geschlecht geduldet. "Danach verschwinden sie endgültig von der Bildfläche."
Aber zunächst ist noch Schonzeit im Jagdrevier: "Als Gott Stille wollte, schuf er die Nacht. In dieser Stille haben Rädertier und Wichtel gegenseitig ihre Körper erkundet." Gleichzeitig greift Frans auch nach anderen Gelegenheiten: "Never tie your shoelaces in a cucumber field", empfiehlt er einer jungen Frau, die sich in der Subway zu weit nach unten bückt. Dass Henriëtje auch kein Kind von Traurigkeit ist, bringt das Rädertier allerdings in arge Seelennöte. Nicht umsonst wird Josepha Mendels als Ikone des Feminismus gefeiert. Ihm sei schon klar, dass sie ihn wieder verlassen werde, sagt Frans zu Henriëtje. Aber natürlich macht er ihr ungerechte Szenen. Einmal hat Henriëtje die Kühnheit, zu seinem Geburtstag sämtliche Flammen einzuladen. Das klingt nach den Lebensstilexperimenten der Zwanziger. Und natürlich nach denen der sexuellen Revolution. "Verheiratet, für die Dauer des Kriegs", so definiert Henriëtje ihren Beziehungsstatus. "Immerhin ist es das erste Mal, dass ich meine Unabhängigkeit aufgebe. Wahrscheinlich weil ich weiß, dass ich wieder allein sein werde, sobald Frieden ist."
Dieser stilistisch unbefangene, fast kindfrauliche Roman hat aber noch mehr zu bieten als Reflexionen über die Liebe im Ausnahmezustand. Auch zum Judentum finden sich interessante Kapitel. Wie Frans einmal bemerkt, habe die "Judenfrage" für ihn bis 1940 gar nicht existiert. Plötzlich war er dann aber Jude, wurde als solcher verfolgt und soll vorerst nicht Teil einer Repatriierungsdelegation in die Niederlande sein. Man fürchtet, der nach wie vor grassierende Antisemitismus vertrage sich nicht mit der Rückkehr allzu vieler Landsleute jüdischer Herkunft. Später, heißt es, habe Frans im Laufe der Jahre ein "Klapp-Sinnesorgan" ausgebildet, mit dem er wachsam und argwöhnisch jedem Anzeichen von Antisemitismus in Zeitungen oder Zeitschriften, bei Zeitgenossen oder geschätzten Autoren wie Henry Miller nachspüre.
Eines Tages endet das Märchen von Frans und Henriëtje. Der Krieg ist vorbei. Der Weg zurück zur alten Familie oder zu dem, was von ihr geblieben ist, liegt vor den Exilanten wie eine Pflicht. Die Frage des Vergessenmüssens betrifft nun nicht mehr nur die kriegsbedingten Traumatisierungen der Liebenden, sondern auch ihr kriegsbedingtes Glück. Einmal noch, Jahre später, sieht Frans Henriëtje durch das Fenster eines Ladenlokals. "Aber als sie sich dem Fenster zuwendet, winkt ihm der Weg ins Vergessen." Dieser Roman, der auf leichten Füßen die ganz großen Themen des Exils und der Nachkriegszeit behandelt, wird länger auf der Bildfläche der relevanten Nachkriegsliteratur bleiben als ein weibliches Rädertierchen bei seinem Gatten.
KATHARINA TEUTSCH
Josepha Mendels: "Du wusstest es doch". Roman.
Aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas. Wagenbach Verlag, Berlin 2018. 192 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Josepha Mendels hat mit "Du wusstest es doch" einen provozierenden Roman über jüdisches Exil im Zweiten Weltkrieg geschrieben
Arno Geiger hat im vergangenen Jahr einen Roman veröffentlicht, dessen Reiz darin bestand, den Zweiten Weltkrieg in ungewohnter Banalität des Guten darzustellen. Ihn also aus der Perspektive eines anständigen Teils der Zivilbevölkerung zu erzählen. Im Zentrum standen zwei junge Menschen jenseits der Front: die Reichsdeutsche Margot gemeinsam mit ihrem Säugling auf Erholung am Mondsee und der Wiener Soldat Veit, der dort eine Kriegsverletzung auskurieren soll. Wie bei jedem Kriegsbuch regierten auch in "Unter der Drachenwand" die Ereignisse an der Front das Geschehen - aber als Latenzerfahrung. Der Himmel verdüstert sich nach jedem Bombenabwurf, doch unter der Drachenwand gibt's Kinderjauchzen und Eierspeise. Geiger griff damit die Perspektive des umstrittenen Fernsehdreiteilers "Unsere Mütter, unsere Väter" aus dem Jahr 2013 auf.
Der Wagenbach Verlag hat sich nun mit dem Roman "Du wusstest es doch" an die Übersetzung einer niederländischen Autorin gemacht, die schon 1948 in dieser Doppelbödigkeit über den Krieg schrieb. Dieser Weg war nicht nur nach Böll der deutschen Nachkriegsliteratur lange versperrt geblieben. Bei Josepha Mendels existieren Familienschicksale unumwunden neben der Ekstase des Augenblicks. Im Zentrum stehen der jüdische Dichter Frans Winter und seine Geliebte, die rebellische Henriëtje Bas. Beide sind den Deportationen in den besetzten Niederlanden entkommen und finden in London Unterschlupf und Arbeit. Sie begegnen sich im Hyde Park und werden Freunde, Geliebte, Komplizen. Gegen jede Konvention gelingt es ihnen sogar, unter einem Dach zu wohnen. Frans hat Frau und Kinder zurückgelassen, Henriëtje ihre Schwestern. Und dennoch bedeutet London für beide das Glück einer Liebe, die niemandem Rechenschaft schuldig ist und die von einer Zukunft nichts wissen will.
Einige der siebzehn Kapitel handeln von daheimgebliebenen Verwandten: von Frans' Mutter, die nach Theresienstadt verschleppt wurde, oder von der Ermordung von Henriëtjes Schwester, Schwager und Neffen. Josepha Mendels nimmt ihre Leser überall dorthin mit, wo wir schon zigfach durch die Literatur vermittelt gewesen sind. Durch die Pyrenäen, die Frans Winter mit einem Schlepper durchquert, an Bord eines Klippers mit Zielhafen London, in die Vernichtungslager der Deutschen. Doch schon in Madrid, wo Frans nach dem Pyrenäen-Abenteuer Zeit absitzt, denkt er über sich selbst: "Der Flüchtling hört zu, er fühlt sich wie im Urlaub."
Nach einem Umweg über ein Madrider Gefängnis gelangt Frans nach London und bildet mit Henriëtje ein Paar auf die denkbar unkomplizierteste Weise. Sie nennen einander Wichtel und Rädertier, Letzteres ein Vierzeller, der vor allem deswegen begeistert, weil das Männchen im Eheleben eine untergeordnete Rolle spielt. Männliche Rädertierchen werden nur kurz vom anderen Geschlecht geduldet. "Danach verschwinden sie endgültig von der Bildfläche."
Aber zunächst ist noch Schonzeit im Jagdrevier: "Als Gott Stille wollte, schuf er die Nacht. In dieser Stille haben Rädertier und Wichtel gegenseitig ihre Körper erkundet." Gleichzeitig greift Frans auch nach anderen Gelegenheiten: "Never tie your shoelaces in a cucumber field", empfiehlt er einer jungen Frau, die sich in der Subway zu weit nach unten bückt. Dass Henriëtje auch kein Kind von Traurigkeit ist, bringt das Rädertier allerdings in arge Seelennöte. Nicht umsonst wird Josepha Mendels als Ikone des Feminismus gefeiert. Ihm sei schon klar, dass sie ihn wieder verlassen werde, sagt Frans zu Henriëtje. Aber natürlich macht er ihr ungerechte Szenen. Einmal hat Henriëtje die Kühnheit, zu seinem Geburtstag sämtliche Flammen einzuladen. Das klingt nach den Lebensstilexperimenten der Zwanziger. Und natürlich nach denen der sexuellen Revolution. "Verheiratet, für die Dauer des Kriegs", so definiert Henriëtje ihren Beziehungsstatus. "Immerhin ist es das erste Mal, dass ich meine Unabhängigkeit aufgebe. Wahrscheinlich weil ich weiß, dass ich wieder allein sein werde, sobald Frieden ist."
Dieser stilistisch unbefangene, fast kindfrauliche Roman hat aber noch mehr zu bieten als Reflexionen über die Liebe im Ausnahmezustand. Auch zum Judentum finden sich interessante Kapitel. Wie Frans einmal bemerkt, habe die "Judenfrage" für ihn bis 1940 gar nicht existiert. Plötzlich war er dann aber Jude, wurde als solcher verfolgt und soll vorerst nicht Teil einer Repatriierungsdelegation in die Niederlande sein. Man fürchtet, der nach wie vor grassierende Antisemitismus vertrage sich nicht mit der Rückkehr allzu vieler Landsleute jüdischer Herkunft. Später, heißt es, habe Frans im Laufe der Jahre ein "Klapp-Sinnesorgan" ausgebildet, mit dem er wachsam und argwöhnisch jedem Anzeichen von Antisemitismus in Zeitungen oder Zeitschriften, bei Zeitgenossen oder geschätzten Autoren wie Henry Miller nachspüre.
Eines Tages endet das Märchen von Frans und Henriëtje. Der Krieg ist vorbei. Der Weg zurück zur alten Familie oder zu dem, was von ihr geblieben ist, liegt vor den Exilanten wie eine Pflicht. Die Frage des Vergessenmüssens betrifft nun nicht mehr nur die kriegsbedingten Traumatisierungen der Liebenden, sondern auch ihr kriegsbedingtes Glück. Einmal noch, Jahre später, sieht Frans Henriëtje durch das Fenster eines Ladenlokals. "Aber als sie sich dem Fenster zuwendet, winkt ihm der Weg ins Vergessen." Dieser Roman, der auf leichten Füßen die ganz großen Themen des Exils und der Nachkriegszeit behandelt, wird länger auf der Bildfläche der relevanten Nachkriegsliteratur bleiben als ein weibliches Rädertierchen bei seinem Gatten.
KATHARINA TEUTSCH
Josepha Mendels: "Du wusstest es doch". Roman.
Aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas. Wagenbach Verlag, Berlin 2018. 192 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main