"Weil auch in diesen Zeiten irgendwer das Richtige tun muss, einfach, weil es richtig ist." April, 1945. Alle spüren, dass der Krieg und die fürchterliche Ideologie der Nationalsozialisten kurz vor dem Ende stehen. Doch in der Nacht vom 28. auf den 29. April 1945, drei Tage vor Hitlers Selbstmord, ereignet sich das dunkelste Kapitel der damals noch jungen Stadt Penzberg in Bayern. Denn während der einst von den Nazis abgesetzte Bürgermeister zurück ins Rathaus zieht, erlässt die Wehrmacht den Befehl, alle Widerständler sofort hinzurichten. Und zwischen allen Fronten stehen die Jugendlichen Marie, Schorch und Gustl.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.02.2021Wahn und Willkür
in letzter Minute
Kirsten Boies Novelle über die Penzberger Mordnacht
Zwei Menschen überlebten die Penzberger Mordnacht, der eine, weil der Strick riss, an dem er aufgehängt war, und er im Krankenhaus von den Ärzten versteckt wurde, als ihn die Häscher suchten. 16 Menschen wurden kurz vor Kriegsende umgebracht in der Nacht vom 28. auf den 29. April 1945 in der oberbayerischen Stadt Penzberg. Im Radio war von der „Freiheitsaktion Bayern“ verkündet worden, dass der Krieg beendet sei. Darauf übernahmen der ehemalige SPD-Bürgermeister Hans Rummer und seine Mitarbeiter wieder die Stadtregierung, um die Zerstörung des Ortes durch abziehende Wehrmachtssoldaten zu verhindern. In der Hoffnung, dass amerikanische Soldaten noch am Nachmittag Penzberg erreichen würden. Sie kamen erst einen Tag darauf. Einen Tag zu spät.
In Reaktion auf diese Aktivitäten setzten durchziehende Soldaten des 22. Werfer-Regiments, die unter dem Oberstleutnant Ohm auf dem Weg zur „Alpenfestung“ waren, Rummer und sieben seiner Mitarbeiter fest und erschossen sie. Weitere acht Menschen wurden von der „Werwolf“- Gruppe, angeführt von Hans Zöberlein, willkürlich aufgegriffen und erhängt. Weil sie als Widerständler galten, unter ihnen auch zwei Frauen, die ihre Männer nicht gehen lassen wollten.
Kirsten Boie stieß in dem Buch „Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945 – 1954“ (Rowohlt), – für das der Autor Harald Jähner mit dem Deutschen Buchpreis 2019 ausgezeichnet wurde, – auf einen Hinweis auf dieses „Endphasenverbrechen“ und begann weiter zu recherchieren. Denn obwohl bekannt als Kinderbuchautorin, ist sie eine politische Kämpferin auch über ihre Bücher hinaus. Ihr gesellschaftskritisches Engagement findet sich auch in realistischen Titeln für junge Erwachsene. In „Monis Jahr“ zum Beispiel beschreibt sie ihre Kindheitserinnerungen in den 50er-Jahren in Hamburg.
Der Prozess um die Mordnacht in Penzberg begann 1948 und endete mit Todesurteilen und langen Gefängnisstrafen, aber bis Ende der 50er-Jahre waren alle Verurteilten, weil sie ja auf Befehl gehandelt hätten, wieder frei. Kirsten Boie spürte, dass die Stadt der Mordopfer sehr zurückhaltend gedachte: „Mag sein, die Wunden sind bis heute, fünfundsiebzig Jahre danach, noch nicht alle verheilt. Auch nach der kleinen Gedächtnisausstellung im modernen Stadtmuseum muss man eine Weile suchen.“
Um die Erinnerungen wachzuhalten, schrieb Kirsten Boie die Ereignisse der Mordnacht in dem schmalen Band „Dunkelnacht“ als Novelle auf. Auch für eine Generation, die in einer Zeit aufwächst, in der durch Pegida und AfD wieder rechtes Gedankengut bis weit in die Mitte der Gesellschaft und ihre Alltagssprache vordringt und die Verbrechen der Nationalsozialisten vergessen werden. Sie erzählt von drei fiktiven Jugendlichen: Marie, Tochter des Metzgermeisters Reithofer, Schorsch, der in sie verliebt ist und als Sohn des Polizeimeisters Lahner noch an den „Endsieg“ glaubt, und dennoch zur Rettung eines Überlebenden beiträgt, und Gustl, fanatischer Hitleranhänger und Mitglied der „Werwölfe“, der Augenzeuge der Erhängungen wird und den Schock in Alkohol ertränkt.
Diese drei erleben als Beobachter und als Täter diesen Nachmittag und diese Nacht. Wie im Stundentakt die am Geschehen Beteiligten in kurzen Auftritten, in Monologen und Dialogen in einem Totentanz mitgerissen werden. Wie die Brutalität der Einzelnen ohne Kommentar der Autorin für eine verrohte, verängstigte Gesellschaft steht, in der besonders die Nazi-Funktionäre ihre Haut retten wollen. Und das Militär in Auflösung, das den Befehl des Münchner Gauleiters Paul Giesler zur gnadenlosen Exekution der Gefangenen erhält, eine Tat, die nur durch die Grausamkeit der „Werwölfe“ beim Jagen und Hängen ihrer Opfer noch übertroffen wird.
Kirsten Boie hat keine Dokumentation verfasst, obwohl sie Opfer und Täter mit ihren Namen aufführt und den Verlauf des Verbrechens realistisch schildert. Sie wollte keine Distanz schaffen, die das Verdrängen und Vergessen fördert. „Es ist mir schwer gefallen, einen Schlusspunkt zu setzen“, schreibt sie, „denn am 29. April war die Geschichte für Penzberg ja noch lange nicht zu Ende… Wie kann eine Stadt so weitermachen? Und wie konnte sie später die Freisprüche für die Täter ertragen?“
ROSWITHA BUDEUS-BUDDE
Das Gedenken in Penzberg
kommt der Schriftstellerin
sehr zurückhaltend vor
300 „Mahnblumen“ für die Stadt Penzberg: Zum 75. Gedenkjahr der Mordnacht erinnerten im vergangenen Jahr die roten Blüten des Künstlers Walter Kuhn an die Opfer des NS-Regimes.
Foto: Hartmut Pöstges
Kirsten Boie:
Dunkelnacht.
Oetinger-Verlag,
Hamburg 2021.
127 Seiten, 13 Euro.
E-Book: 8,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
in letzter Minute
Kirsten Boies Novelle über die Penzberger Mordnacht
Zwei Menschen überlebten die Penzberger Mordnacht, der eine, weil der Strick riss, an dem er aufgehängt war, und er im Krankenhaus von den Ärzten versteckt wurde, als ihn die Häscher suchten. 16 Menschen wurden kurz vor Kriegsende umgebracht in der Nacht vom 28. auf den 29. April 1945 in der oberbayerischen Stadt Penzberg. Im Radio war von der „Freiheitsaktion Bayern“ verkündet worden, dass der Krieg beendet sei. Darauf übernahmen der ehemalige SPD-Bürgermeister Hans Rummer und seine Mitarbeiter wieder die Stadtregierung, um die Zerstörung des Ortes durch abziehende Wehrmachtssoldaten zu verhindern. In der Hoffnung, dass amerikanische Soldaten noch am Nachmittag Penzberg erreichen würden. Sie kamen erst einen Tag darauf. Einen Tag zu spät.
In Reaktion auf diese Aktivitäten setzten durchziehende Soldaten des 22. Werfer-Regiments, die unter dem Oberstleutnant Ohm auf dem Weg zur „Alpenfestung“ waren, Rummer und sieben seiner Mitarbeiter fest und erschossen sie. Weitere acht Menschen wurden von der „Werwolf“- Gruppe, angeführt von Hans Zöberlein, willkürlich aufgegriffen und erhängt. Weil sie als Widerständler galten, unter ihnen auch zwei Frauen, die ihre Männer nicht gehen lassen wollten.
Kirsten Boie stieß in dem Buch „Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945 – 1954“ (Rowohlt), – für das der Autor Harald Jähner mit dem Deutschen Buchpreis 2019 ausgezeichnet wurde, – auf einen Hinweis auf dieses „Endphasenverbrechen“ und begann weiter zu recherchieren. Denn obwohl bekannt als Kinderbuchautorin, ist sie eine politische Kämpferin auch über ihre Bücher hinaus. Ihr gesellschaftskritisches Engagement findet sich auch in realistischen Titeln für junge Erwachsene. In „Monis Jahr“ zum Beispiel beschreibt sie ihre Kindheitserinnerungen in den 50er-Jahren in Hamburg.
Der Prozess um die Mordnacht in Penzberg begann 1948 und endete mit Todesurteilen und langen Gefängnisstrafen, aber bis Ende der 50er-Jahre waren alle Verurteilten, weil sie ja auf Befehl gehandelt hätten, wieder frei. Kirsten Boie spürte, dass die Stadt der Mordopfer sehr zurückhaltend gedachte: „Mag sein, die Wunden sind bis heute, fünfundsiebzig Jahre danach, noch nicht alle verheilt. Auch nach der kleinen Gedächtnisausstellung im modernen Stadtmuseum muss man eine Weile suchen.“
Um die Erinnerungen wachzuhalten, schrieb Kirsten Boie die Ereignisse der Mordnacht in dem schmalen Band „Dunkelnacht“ als Novelle auf. Auch für eine Generation, die in einer Zeit aufwächst, in der durch Pegida und AfD wieder rechtes Gedankengut bis weit in die Mitte der Gesellschaft und ihre Alltagssprache vordringt und die Verbrechen der Nationalsozialisten vergessen werden. Sie erzählt von drei fiktiven Jugendlichen: Marie, Tochter des Metzgermeisters Reithofer, Schorsch, der in sie verliebt ist und als Sohn des Polizeimeisters Lahner noch an den „Endsieg“ glaubt, und dennoch zur Rettung eines Überlebenden beiträgt, und Gustl, fanatischer Hitleranhänger und Mitglied der „Werwölfe“, der Augenzeuge der Erhängungen wird und den Schock in Alkohol ertränkt.
Diese drei erleben als Beobachter und als Täter diesen Nachmittag und diese Nacht. Wie im Stundentakt die am Geschehen Beteiligten in kurzen Auftritten, in Monologen und Dialogen in einem Totentanz mitgerissen werden. Wie die Brutalität der Einzelnen ohne Kommentar der Autorin für eine verrohte, verängstigte Gesellschaft steht, in der besonders die Nazi-Funktionäre ihre Haut retten wollen. Und das Militär in Auflösung, das den Befehl des Münchner Gauleiters Paul Giesler zur gnadenlosen Exekution der Gefangenen erhält, eine Tat, die nur durch die Grausamkeit der „Werwölfe“ beim Jagen und Hängen ihrer Opfer noch übertroffen wird.
Kirsten Boie hat keine Dokumentation verfasst, obwohl sie Opfer und Täter mit ihren Namen aufführt und den Verlauf des Verbrechens realistisch schildert. Sie wollte keine Distanz schaffen, die das Verdrängen und Vergessen fördert. „Es ist mir schwer gefallen, einen Schlusspunkt zu setzen“, schreibt sie, „denn am 29. April war die Geschichte für Penzberg ja noch lange nicht zu Ende… Wie kann eine Stadt so weitermachen? Und wie konnte sie später die Freisprüche für die Täter ertragen?“
ROSWITHA BUDEUS-BUDDE
Das Gedenken in Penzberg
kommt der Schriftstellerin
sehr zurückhaltend vor
300 „Mahnblumen“ für die Stadt Penzberg: Zum 75. Gedenkjahr der Mordnacht erinnerten im vergangenen Jahr die roten Blüten des Künstlers Walter Kuhn an die Opfer des NS-Regimes.
Foto: Hartmut Pöstges
Kirsten Boie:
Dunkelnacht.
Oetinger-Verlag,
Hamburg 2021.
127 Seiten, 13 Euro.
E-Book: 8,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Eva-Maria Magel ist begeistert von diesem Buch, das in "straffer Novellenform" von einem unsäglichen Verbrechen aus den letzten Kriegstagen in Deutschland erzählt. Sensibel und klug führt die Autorin nach Meinung der Kritikerin ihre drei Hauptfiguren, die durch jugendliche Liebe miteinander verbunden sind, durch das Geschehen, und zwar auf Opfer- und Täterseite. Sie erreicht durch bruchstückhaftes Sprechen, durch kleine Dialekteinschübe eine große Intimität und berührt durch ihre Figurenführung viele Fragen, die noch unter der "Erzähloberfläche" schlummern. Die Düsternis des Geschehens wäre kaum auszuhalten, meint die Kritikerin, gäbe es nicht doch Erleichterung durch jene, die in dieser Geschichte anders handeln, als es opportun wäre. "Ein großer Wurf", urteilt die total von diesem Buch überzeugte Kritikerin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.03.2021Das soll man verstehen
Ein großer Wurf: Kirsten Boie erzählt in "Dunkelnacht" von den mörderischen letzten Tagen des Kriegs
Wie um Himmels willen haben sie weiter zusammengelebt in dieser Stadt nach dem Ende des Krieges: die Witwen und die Waisen der Opfer - und die Frauen und Kinder der Täter?" Kirsten Boie stellt sie in ihrem Nachwort selbst, die Fragen, die einen umtreiben. Und dazu gehört unbedingt, dass man diese Fragen auf den ersten Blick gar nicht sieht. An vielen Orten nicht und auch nicht in Penzberg, in der Nähe des Starnberger Sees.
Ein hübsches Städtchen mit freundlichen Menschen, oberflächlich besehen ist das einzig Kuriose der kohlegefüllte Hunt an einem Kreisel zum Ortseingang, der als Denkmal daran erinnert, dass hier, in der oberbayerischen Idylle, bis 1966 Kohle gefördert worden ist. Und wer an der "Straße des 28. April 1945" vorbeikommt, der denkt sich allenfalls: Das wird der Tag gewesen sein, an dem die Penzberger, wie viele andere Bayern, die weißen Betttücher heraus- und die Hitlerbilder abgehängt haben, weil die Amerikaner kamen.
Dass es der schwärzeste Tag war, den Penzberg je erlebt hat, schwärzer, als Kohle sein kann, das weiß man nur, wenn man länger sucht. Nach dem Denkmal oder der Ausstellung im Stadtmuseum. Am 28. April 1945 hat sich die "Penzberger Mordnacht" ereignet, 16 Menschen, 14 Männer und zwei Frauen, eine davon hochschwanger, mussten sterben, erhängt, erschossen als "Verräter". Ein Regiment von Soldaten, deren Anführer an den Endsieg glaubten, und der Mob der nationalsozialistischen "Werwölfe" hat sie ermordet, weil zuvor der sozialdemokratische Altbürgermeister, wie viele andere, geglaubt hatte, der Krieg sei schon beendet. Ein tödlicher Irrtum, der in einer Mischung aus Fanatismus, Rachsucht, Denunziation und unterlassener Hilfeleistung dazu führte, dass sich die Täter in eine Art Blutrausch steigerten.
Das könne wieder passieren, hat vor einigen Jahren ein Zeitzeuge gesagt. Er war 14 Jahre alt, als sich die Mordnacht ereignete, eines von vielen der sogenannten Endphasenverbrechen. So alt ist auch Marie, eine der drei Jugendlichen, die miterleben, wie Freunde, Bekannte, Nachbarn ermordet werden. Ihr Vater bleibt durch einen Zufall verschont. Mit Marie, Schorsch und Gustl hat sich Kirsten Boie drei ganz und gar lebendige Figuren ausgedacht, um die "Penzberger Mordnacht", so lange sie her ist, gegenwärtig zu machen. Wie der Zeuge von einst sieht Boie Erinnerungen verblassen, das Interesse an der deutschen Geschichte ab- und die Verharmlosung, sogar Bewunderung für die Taten des Nationalsozialismus zunehmen.
Dagegen schreibt sie an. Mit "Dunkelnacht" ist ihr in einer straffen Novellenform ein großer Wurf gelungen. Ein fesselndes Stück Literatur, das Archiv-Recherche und Bericht mit Fiktion zu einer Novelle verwebt, die, wie man es sich wünscht, aber nicht immer bekommt in der Jugendliteratur, noch viel mehr Fragen, Schichten, Zusammenhänge hervorholt, als auf der Erzähloberfläche zu sehen ist. Dort wird chronologisch erzählt und im Grunde ruhig, aber doch in kurzen Kapiteln wie mit angehaltenem Atem, stets wie in einem Drama die beteiligten Personen vorangestellt.
Deren Konflikte treten rasch zutage: Schorsch, 15 Jahre alt, der Sohn des örtlichen Polizeimeisters, ist verliebt in Marie, der 16 Jahre alte Gustl ist es auch. Aber Gustl, dessen Eltern "Rote" gewesen sind, ist zu den "Werwölfen" gegangen, um mit Rache an den "Volksverrätern" die Schande der Eltern abzuwaschen. Ein Fanatiker, bis ihn die Grausamkeit seiner erwachsenen Kameraden spüren lässt, dass nichts solche Verbrechen rechtfertigen kann. "Was wird Marie zu ihm sagen, wenn Frieden ist?", fragt sich Gustl, die Antwort bleibt offen. Aber Marie, die Tochter des roten Metzgers, und Schorsch, der Sohn des regimetreuen Polizisten haben gesehen, wie der alte Bürgermeister und seine sieben Kollegen am Sportplatz erschossen worden sind. Mit Schorsch hetzt der Leser von Tat zu Tat. Mit der Erzählerstimme lauscht er feigen Ausreden, erkundet die niedrigsten Beweggründe, hört das Nazi-Vokabular, das klingt wie frisch aus Internet-Filterblasen geschöpft. Nichts davon ist plakativ oder grob, oft mehr angedeutet - und umso wirkungsvoller.
Boie hat sich für eine beinahe traditionelle "allwissende" Erzählweise entschieden und zeigt doch eine Stimme, deren Allwissenheit scheitern muss an jener Frage, wie das denn kommen konnte: dass ganz normale Leute zu "Werwölfen", zu Mördern an ihren Nachbarn wurden. Und wie in aller Welt man denn danach weitermachen könne? Zumal nach langen Prozessen die Täter nur wenige Jahre später wieder auf freiem Fuß waren. "Sechzehn Ermordete und kein einziger Mörder. Das soll man verstehen", schreibt Boie im Nachwort.
Auch ihre Erzählerstimme drückt sich nicht davor, diese Fassungslosigkeit zu zeigen, in kurzen Sätzen, in Auslassungen, in Szenen, die nah herangezoomt werden. Mit all den Zwischentönen, den Originalnamen und Schauplätzen, Parolen und Begriffen des Nationalsozialismus, sogar dem angedeuteten umgangssprachlich-bayerischen Reden, das Nähe erzeugt, ergäbe "Dunkelnacht" ein in allen Schattierungen schwarzgraues Bild, wären da nicht die Lichtblicke. Leute, die das Richtige tun, auch in solchen Zeiten. Wie Schorsch, der zum Retter wird und lernt: "Die Angst bleibt nicht immer der Sieger."
EVA-MARIA MAGEL
Kirsten Boie: "Dunkelnacht". Novelle.
Oetinger Verlag, Hamburg 2021. 112 S., geb., 13,- [Euro]. Ab 15 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein großer Wurf: Kirsten Boie erzählt in "Dunkelnacht" von den mörderischen letzten Tagen des Kriegs
Wie um Himmels willen haben sie weiter zusammengelebt in dieser Stadt nach dem Ende des Krieges: die Witwen und die Waisen der Opfer - und die Frauen und Kinder der Täter?" Kirsten Boie stellt sie in ihrem Nachwort selbst, die Fragen, die einen umtreiben. Und dazu gehört unbedingt, dass man diese Fragen auf den ersten Blick gar nicht sieht. An vielen Orten nicht und auch nicht in Penzberg, in der Nähe des Starnberger Sees.
Ein hübsches Städtchen mit freundlichen Menschen, oberflächlich besehen ist das einzig Kuriose der kohlegefüllte Hunt an einem Kreisel zum Ortseingang, der als Denkmal daran erinnert, dass hier, in der oberbayerischen Idylle, bis 1966 Kohle gefördert worden ist. Und wer an der "Straße des 28. April 1945" vorbeikommt, der denkt sich allenfalls: Das wird der Tag gewesen sein, an dem die Penzberger, wie viele andere Bayern, die weißen Betttücher heraus- und die Hitlerbilder abgehängt haben, weil die Amerikaner kamen.
Dass es der schwärzeste Tag war, den Penzberg je erlebt hat, schwärzer, als Kohle sein kann, das weiß man nur, wenn man länger sucht. Nach dem Denkmal oder der Ausstellung im Stadtmuseum. Am 28. April 1945 hat sich die "Penzberger Mordnacht" ereignet, 16 Menschen, 14 Männer und zwei Frauen, eine davon hochschwanger, mussten sterben, erhängt, erschossen als "Verräter". Ein Regiment von Soldaten, deren Anführer an den Endsieg glaubten, und der Mob der nationalsozialistischen "Werwölfe" hat sie ermordet, weil zuvor der sozialdemokratische Altbürgermeister, wie viele andere, geglaubt hatte, der Krieg sei schon beendet. Ein tödlicher Irrtum, der in einer Mischung aus Fanatismus, Rachsucht, Denunziation und unterlassener Hilfeleistung dazu führte, dass sich die Täter in eine Art Blutrausch steigerten.
Das könne wieder passieren, hat vor einigen Jahren ein Zeitzeuge gesagt. Er war 14 Jahre alt, als sich die Mordnacht ereignete, eines von vielen der sogenannten Endphasenverbrechen. So alt ist auch Marie, eine der drei Jugendlichen, die miterleben, wie Freunde, Bekannte, Nachbarn ermordet werden. Ihr Vater bleibt durch einen Zufall verschont. Mit Marie, Schorsch und Gustl hat sich Kirsten Boie drei ganz und gar lebendige Figuren ausgedacht, um die "Penzberger Mordnacht", so lange sie her ist, gegenwärtig zu machen. Wie der Zeuge von einst sieht Boie Erinnerungen verblassen, das Interesse an der deutschen Geschichte ab- und die Verharmlosung, sogar Bewunderung für die Taten des Nationalsozialismus zunehmen.
Dagegen schreibt sie an. Mit "Dunkelnacht" ist ihr in einer straffen Novellenform ein großer Wurf gelungen. Ein fesselndes Stück Literatur, das Archiv-Recherche und Bericht mit Fiktion zu einer Novelle verwebt, die, wie man es sich wünscht, aber nicht immer bekommt in der Jugendliteratur, noch viel mehr Fragen, Schichten, Zusammenhänge hervorholt, als auf der Erzähloberfläche zu sehen ist. Dort wird chronologisch erzählt und im Grunde ruhig, aber doch in kurzen Kapiteln wie mit angehaltenem Atem, stets wie in einem Drama die beteiligten Personen vorangestellt.
Deren Konflikte treten rasch zutage: Schorsch, 15 Jahre alt, der Sohn des örtlichen Polizeimeisters, ist verliebt in Marie, der 16 Jahre alte Gustl ist es auch. Aber Gustl, dessen Eltern "Rote" gewesen sind, ist zu den "Werwölfen" gegangen, um mit Rache an den "Volksverrätern" die Schande der Eltern abzuwaschen. Ein Fanatiker, bis ihn die Grausamkeit seiner erwachsenen Kameraden spüren lässt, dass nichts solche Verbrechen rechtfertigen kann. "Was wird Marie zu ihm sagen, wenn Frieden ist?", fragt sich Gustl, die Antwort bleibt offen. Aber Marie, die Tochter des roten Metzgers, und Schorsch, der Sohn des regimetreuen Polizisten haben gesehen, wie der alte Bürgermeister und seine sieben Kollegen am Sportplatz erschossen worden sind. Mit Schorsch hetzt der Leser von Tat zu Tat. Mit der Erzählerstimme lauscht er feigen Ausreden, erkundet die niedrigsten Beweggründe, hört das Nazi-Vokabular, das klingt wie frisch aus Internet-Filterblasen geschöpft. Nichts davon ist plakativ oder grob, oft mehr angedeutet - und umso wirkungsvoller.
Boie hat sich für eine beinahe traditionelle "allwissende" Erzählweise entschieden und zeigt doch eine Stimme, deren Allwissenheit scheitern muss an jener Frage, wie das denn kommen konnte: dass ganz normale Leute zu "Werwölfen", zu Mördern an ihren Nachbarn wurden. Und wie in aller Welt man denn danach weitermachen könne? Zumal nach langen Prozessen die Täter nur wenige Jahre später wieder auf freiem Fuß waren. "Sechzehn Ermordete und kein einziger Mörder. Das soll man verstehen", schreibt Boie im Nachwort.
Auch ihre Erzählerstimme drückt sich nicht davor, diese Fassungslosigkeit zu zeigen, in kurzen Sätzen, in Auslassungen, in Szenen, die nah herangezoomt werden. Mit all den Zwischentönen, den Originalnamen und Schauplätzen, Parolen und Begriffen des Nationalsozialismus, sogar dem angedeuteten umgangssprachlich-bayerischen Reden, das Nähe erzeugt, ergäbe "Dunkelnacht" ein in allen Schattierungen schwarzgraues Bild, wären da nicht die Lichtblicke. Leute, die das Richtige tun, auch in solchen Zeiten. Wie Schorsch, der zum Retter wird und lernt: "Die Angst bleibt nicht immer der Sieger."
EVA-MARIA MAGEL
Kirsten Boie: "Dunkelnacht". Novelle.
Oetinger Verlag, Hamburg 2021. 112 S., geb., 13,- [Euro]. Ab 15 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Boie stellt wichtige Fragen und sucht mit ihren jungen Helden nach Antworten." Andrea Kachelrieß, Stuttgarter Nachrichten, 18.02.2021
"Kirsten Boie ist es gelungen, den Opfern von Penzberg ein Mahnmal zu setzen und zeigt, wie wichtig Erinnerung ist - gerade für die Gegenwart!" Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendliteratur, 01.03.2021