Moskau 1985: Die internationale Programmierer-Spartakiade hält die akademischen Eliten des Landes in Atem. Hier messen sich aufstrebende Mathematiker in den Techniken der Zukunft, die nur noch einen Tastendruck entfernt scheint. Doch die kubanische Nationalmannschaft ist kurz vor der Eröffnung des Wettbewerbs spurlos verschwunden - und ihre resolute Übersetzerin Mireya begibt sich auf eine atemlose Suche durch die fremde Hauptstadt, die wie elektrostatisch aufgeladen surrt und flimmert. Architekten und Agenten, dichtende Maschinen und sogar Stalins leibhaftiger Schatten treffen in dieser wilden und manchmal fantastischen Erzählung aufeinander: ein schillerndes Mosaik der Sowjetunion kurz vor der folgenreichen Vernetzung der Welt. Ein Roman so unberechenbar wie die Geschichte selbst.
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Farce der russischen Computernerd-Szene: Matthias Senkels Roman "Dunkle Zahlen"
Dieser Roman ist ein Unding. Ein Experiment an der Grenze des Erzählbaren. Sein Quellcode ist eine bestechende Frage: Wie könnte eine Poesie aussehen, die eine intelligente Maschine produziert?
Von William Gibsons "Neuromancer" bis zu "Westworld" und "Ready Player One" gilt die Künstliche Intelligenz in der Science-Fiction zuverlässig als das andere des menschlichen Geistes, als Endzeit-Gegenspieler. Was aber, wenn eine Maschine, einmal auf die poetische Spur gesetzt, tatsächlich zu dichten begönne, und zwar, wenn man die Idee ernst nimmt, letztlich für ihresgleichen? Dann könnten selbst formalistische Romantiker wohl einpacken, Menschen wie Ljudmila Petrowna, die in diesem Roman nur auftritt, um sagen zu können: "Manchmal, wenn ich ein gut geschriebenes Programm lese, denke ich, dass das unsere neue Lyrik ist! Die Kraft, mit der sich die Welt in ein paar wenigen Zeilen wie diesen hier verdichtet, ist doch reine Poesie."
Die dichtende Maschine müsste sich um Verdichtung nämlich gar nicht scheren, weil sie vom Joch der Effizienz ja gerade befreit wäre. Vielleicht hätte sie Lust, Codes so lange zu multiplizieren, bis sämtliche Daten der Welt neukonfiguriert wären. Für Hermeneuten im Ohrensessel wäre der Output natürlich völlig unprozessierbar, Maschinen aber - E-Reader gewissermaßen - könnten ihn entziffern und über kryptomathematische Scherze lachen. Wenn Maschinen für Maschinen dichten, könnte also so etwas entstehen wie das unvollendete, kombinatorische Poem "Dunkle Zahlen" der "digitalen Literaturmaschine GLM-3", das uns hier - wir schreiben das Jahr 2043 plus x - freilich nur in einer Übersetzung präsentiert wird: keineswegs aus dem Russischen, wie man auf den ersten Blick meinen könnte, sondern aus dem Maschinenpoetischen in schlichte Menschensprache. Es handelt sich also um eine Nachdichtung, die in ihrer gargantuesken Opulenz aber gerade noch erahnen lässt, wie assoziativ und umfassend die GLM-3 sich ihre eigene Provenienz zurechtphantasiert. Und wie lustig es dabei zugeht. Die meisten osteuropäischen Funktionäre und Programmierer, die der Erzählautomat als Arbeiter am Fortschritt präsentiert, taumeln nämlich ohne jeden Weitblick dahin, improvisieren, plagiieren und scheitern kläglich, fallen einander unentwegt in den Rücken und geben sich irgendwann, der Größe der eigenen Idee nicht gewachsen, mit dem Ungefähren zufrieden.
Matthias Senkel, einer der ambitionierteren jüngeren Literaten des Landes, der sich nicht einmal vom Literaturinstitut Leipzig zur neudeutschen Befindlichkeitsprosa hin verbiegen ließ, wagt sich hier also an die Königsdisziplin aller Romanautoren: das unlesbare Buch. Trotz der mit heller Spielfreude zelebrierten Unlesbarkeit - der Autor parodiert allein ein Dutzend Textsorten vom Wikipedia-Eintrag bis zum Videospiel - muss es sich letztlich natürlich doch lesen lassen. Das tut "Dunkle Zahlen" durchaus, nur prasselt statt einer klassischen Handlung eine wahre Flut an einander bedingenden, spiegelnden und aufhebenden Partialgeschichten auf uns ein, die sich von einer höchst grotesken sowjetrussischen Gegenerzählung zur heroischen Silicon-Valley-Saga potenzieren.
Wer sich dem Roman - unverschreckt durch die einleitende Rahmung - tapfer auf klassische Lesart nähern möchte, wird ihn vom Hotel Kosmos her lesen, denn hier findet im Sommer 1985 die zweite Internationale Spartakiade junger Programmierer statt. Mehrere, aber bei weitem nicht alle der frei durch das bestens recherchierte Buch flottierenden Personen lassen sich hier anbinden. Da sind etwa die mächtige, für die Bespitzelung der aus dem gesamten Ostblock stammenden Gastmannschaften zuständige KGB-Mitarbeiterin Jewhenija Swetljatschenko und ihr Geliebter Dmitri Sowakow, Vorsitzender des Spartakiadekomitees. Beider Vorgeschichte lässt sich aus vielen Einzelszenen zumindest lückenhaft rekonstruieren: Dmitri hatte als Architekt das Interesse hoher Kader geweckt, als er eine Art mechanische Stadt entwarf, dann aber die innere Verwandtschaft von Stadt- und Schaltplänen entdeckt. Oberst Swetljatschenko hatte ihre Karriere ebenfalls auf die neuen Maschinen gebaut, war unter anderem zuständig für ein Datenbanken-Projekt, das die Urheber regimefeindlicher Witze identifizieren sollte, aber so wenig funktionierte wie fast alles hier.
Eine mit beiden verbundene Zentralfigur ist der zum Cheftrainer der sowjetischen Auswahl aufsteigende Programmierer Leonid Ptuschkowa, ein Wunderkind, dessen an Alan Turing heranreichende Fähigkeiten hier märchenhaft über einen zaubernden Hecht erklärt werden. Leonids Freund Foma wiederum ist Puschkin-Verehrer und Privattüftler, um dessen endlich einmal vielversprechende Rechenmaschine mit harten Bandagen gekämpft wird. Schließlich gibt es noch die kubanische Übersetzerin Mireya, die sich, eng überwacht, auf die Suche nach der komplett verschwundenen Mannschaft ihres Landes macht. Schließlich ist es an Mireya, mit dem kubanischen Programmcode beim Wettbewerb anzutreten, aber bevor es dazu kommt, lösen sich ihre Konturen in einen Albtraum auf. Das mag unstrukturiert klingen, aber im Buch geht es noch weit verwirrender zu.
Unzählige Digressionen, sei es zu realen Personen wie den Computerpionier Sergei Lebedew, sei es zu wilden Einfällen wie jenem Straflager in Form eines Humancomputers, unterminieren mit postmoderner Chuzpe jede narrative Geradlinigkeit. Einige Schlenker wachsen sich aus. So wird angedeutet, der sowjetische Geheimdienst kommuniziere über Videospiele, weshalb sich ein belgischer Agent über viele Kapitel auf die Suche nach dem Dekodierschlüssel macht. Dabei verliert er sich zunehmend zwischen Agententhriller-Anspielungen: "Womöglich wäre dies ja der Einsatz, bei dem er endlich die Fiktion einholte." Man hätte freilich schon an den vielen Hinweisen auf "Lebenspunkte" merken können, dass wir uns längst im Inneren eines Videospiels befinden. Je näher wir an die nahe Zukunft kommen, desto ungreifbarer wird die Handlung. Variationen tauchen auf, das Museum schluckt die Tat. Was Jewhenija für ihren Code feststellt, gilt für das Maschinenpoem insgesamt: "Das modifizierte Simulationsprogramm (außerordentlich präzise bis zum ersten Halbjahr 1985) warf für die kommenden Monate und Jahre bizarr anmutende Werte aus."
Diesen verschlungenen Erzählbogen über das verschwundene System der Sowjetunion laufen zu lassen ist ein kluger Schachzug, denn so kann sich das Maschinen-Mensch-Verhältnis ein weiteres Mal verkehren. Anders als bei IBM und Apple taucht nämlich im Inneren der Rechner, als würde man eine Matroschkapuppe öffnen, wieder die Poesie auf. Dazu dient eine ins neunzehnte Jahrhundert zurückgreifende Ursprungslegende, die den bereits aus Senkels Roman "Frühe Vögel" bekannten fiktiven Dichter Teterevkin herbeizitiert. Dieser soll, beeinflusst von Charles Babbage, ein mittels automatischer Poesie alles Sein umfassendes Gedicht geplant haben. Die Software für den poetischen Automaten ging diesem also voraus. Damit wird im Land von Puschkin und Gogol eine konkurrierende, schöngeistige Lesart der Digitalisierung möglich. So ist auch die letzte Volte zu verstehen, eine Erinnerung an den im Kräfteringen untergegangenen Versuch der Sowjetunion, einen im Ternärcode arbeitenden Rechner zu entwickeln. Hegel-Dialektik statt Kalter Krieg in der Prozessorseele, die dunkle dritte Zahl: So konnte man keine Rechenwettbewerbe gewinnen, aber eine (wie alles hier verschwundene) dichtende Maschine bauen, dem Golem eine Seele einhauchen. Poesie braucht das Ungefähre.
OLIVER JUNGEN
Matthias Senkel: "Dunkle Zahlen". Roman.
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2018. 488 S., geb., 24,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
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