Ein Buch, zurück aus 70 Jahren Kriegsgefangenschaft. Heinrich Gerlachs großer Antikriegsroman: Direkt nach der Schlacht um Stalingrad im sowjetischen Kriegsgefangenenlager geschrieben, durch verschiedene Arbeitslager gerettet, aber letztendlich vom russischen Geheimdienst konfisziert - jetzt nach fast 70 Jahren erstmals veröffentlicht. Dieses Buch hat eine der außergewöhnlichsten Publikationsgeschichten seit je: Heinrich Gerlach, als deutscher Offizier in der Schlacht um Stalingrad schwer verwundet, begann in sowjetischer Gefangenschaft einen Roman zu schreiben, der das Grauen von Stalingrad, die Sinnlosigkeit des Krieges, vor allem aber die seelische Wandlung eines deutschen Soldaten unter dem Eindruck des Erlebten ungeschminkt darstellen sollte. Zudem war er im Herbst 1943 Gründungsmitglied des Bunds Deutscher Offiziere, der aus der Kriegsgefangenschaft heraus zur Beendigung des sinnlosen Kampfes aufrief.Gerlach rettete sein Manuskript durch viele Arbeitslager. 1949 aber entdeckte und beschlagnahmte der russische Geheimdienst den 600 Seiten starken Roman. Erst im Frühjahr 1950 war Gerlach wieder zurück in Deutschland - ohne den Roman. Sämtliche Versuche, ihn aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren, scheiterten - bis Gerlach auf eine ungewöhnliche Idee kam. Unter Hypnose konnte er Teile des Buches wieder erinnern. 1957, mehr als ein Jahrzehnt nach seiner Gefangennahme, erschien das Buch unter dem Titel Die verratene Armee - und wurde zum Millionenseller. Carsten Gansel ist nun in Moskauer Archiven ein sensationeller Fund gelungen: das von der Veröffentlichung stark abweichende Originalmanuskript von Gerlachs Durchbruch bei Stalingrad. Vom Herausgeber mit einem reichen dokumentarischen Anhang versehen, liegt es nach 70 Jahren hiermit zum ersten Mal gedruckt vor.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.03.2016Die Urfassung des Buchs der Katastrophe
Nach Stalingrad schrieb der Kriegsgefangene Heinrich Gerlach einen Roman über seine Erlebnisse. Damals konfiszierte die Rote Armee das Manuskript.
Von Lorenz Jäger
Dieses Buch ist eine Entdeckung. Nach siebzig Jahren hat es Carsten Gansel in einem russischen Archiv gefunden. Dem Autor Heinrich Gerlach, einem Gymnasiallehrer, war es in der Kriegsgefangenschaft von den sowjetischen Behörden abgenommen worden. Wieder in Deutschland, machte er sich an eine zweite Fassung. Und das ist eine Abenteuergeschichte für sich: Durch Hypnose wurde Gerlach dazu gebracht, sich auf die Einzelheiten seiner Darstellung zu besinnen.
Dieses Buch muss man lesen, wenn man sich einen Begriff von Stalingrad machen will. Nein, keinen Begriff, der nämlich findet sich nicht, das Geschehen fügt sich kaum zusammen, es sei denn in fast apokalyptischen Kategorien. Sagen wir also: Wer eine Ahnung davon bekommen will, was Stalingrad war, wie groß allein der Umfang des Kessels war, was die Einkesselung und schließliche Kapitulation der 6. Armee bedeutete, der muss es lesen. Von rund 300 000 Soldaten - die meisten waren Deutsche, aber auch Rumänen und Italiener kämpften dort - kehrten nach der Kriegsgefangenschaft rund 6000 in die Heimat zurück. Stalingrad war der Wendepunkt. So nahmen die Studenten der "Weißen Rose" die Schlacht wahr und mit ihnen ein großer Teil der Bevölkerung: Die Standesämter dokumentieren, dass danach die Beliebtheit des Vornamens "Adolf" schnell in den Keller ging.
Gerlach hatte als Nachrichtenoffizier ("I c") in Stalingrad gekämpft. Das unterscheidet seinen Roman von Theodor Pliviers "Stalingrad" (Berlin 1945). Plivier hatte im Moskauer Exil gelebt und auf Gespräche mit Wehrmachtssoldaten zurückgreifen können, es unterscheidet ihn aber auch von Alexander Kluges Dokumentarmontage "Schlachtbeschreibung" (erschienen 1964, auch dieses Buch muss man in der ersten Auflage lesen und nicht in der späteren Bearbeitung).
Stalingrad sollte nach Hitlers Kriegsplan genommen werden, um den sowjetischen Nachschub über die Wolga abzuschneiden und danach auf die kaukasischen Ölfelder marschieren zu können. Gerlachs eigene Teilnahme an den Kämpfen, am Martyrium der Eingekesselten und am bitteren Ende der 6. Armee bringt einen eigentümlichen Ton in das Buch, eigentlich überlagern sich zwei Tonlagen. Man erkennt die völlig klare Anti-Hitler-Haltung des Autors - und gleichzeitig eine den heutigen Lesern vielleicht kaum mehr verständliche Loyalität gegenüber den Kameraden. Ja, man glaubt, am Anfang der folgenden Schilderung die Sprache der Wehrmachtsberichte noch erkennen zu können, die erst am Ende des Satzes in die pure Verzweiflung mündet: "Es begann ein erbittertes Ringen um jedes Haus, jedes Kellerloch, um jede Mauer und um jeden Trümmerhaufen, ein Kämpfen Mann gegen Mann, das ungeheuerliche Opfer forderte und die Divisionen dahinschmelzen ließ wie Aprilschnee an der Sonne."
Im Rhythmus dieses einen Satzes findet man die ganze Rhetorik, das "Narrativ", wenn man so will, des Buches. Alles bewegt sich zwischen Glaube und Zweifel, anfangs gibt es noch Hoffnungen auf einen Heimaturlaub, später folgt der grausame Zerfall aller Illusionen. Deutlich wird eine gewisse Erinnerung an christliche Gehalte: "Über die heimatfremde Einöde ritten Kampf, Frost und Hunger als apokalyptisches Dreigespann und hielten immer reichere Ernte unter allem Lebendigen . . . Schädelstätte, Golgatha der Dreihunderttausend! Kreuz von Stalingrad!" Zu den bewegendsten Passagen gehört die Schilderung der Weihnachtsfeier im Kessel und darin das unvergessliche Porträt des evangelischen Pfarrers.
In der Figur des Oberleutnants Breuer hat Gerlach sich selbst gezeichnet. Ihm und seinem Fahrer Lakosch begegnen wir im ersten Kapitel. Später wird sich Lakosch an "die Sache mit den Juden" erinnern. "Vor der getünchten Ziegelmauer drängten sich die Juden, klammerten sich aneinander fest und bildeten so eine unauflösliche Einheit abgründigen Leidens und eines schwarzen, stechenden Hasses, der aus den Urtiefen zu kommen schien." Sie müssen sich, so will es ein Unteroffizier, ihr eigenes Grab schaufeln. In letzter Sekunde erscheint ein anständiger Offizier, er kann der geplanten Mordaktion gerade noch ein Ende machen. Ein älterer Mann unter den Juden, dem man das linke Ohr abgeschnitten hat, nähert sich ihm nun: ",Auch ich, werter Cherr, begrieße serr von Cherzen neie deutsche Regierung!' Durch die Maske sklavischer Unterwerfung, die jahrhundertelange Knechtschaft aufgezwungen hatte, schimmerte ohnmächtiger Hass. Der Offizier wandte sich ab. ,Machen Sie, dass Sie fortkommen', sagte er barsch, ,und lassen Sie sich nicht wieder hier blicken!'"
Auf den Typus des deutschen Offiziers fällt kein genereller Verdacht. Wie man an anderer Stelle Feuer der Zerstörung sieht, wo Dörfer niedergebrannt werden, heißt es: "Der Oberst hat seinen Einheiten diesen sinnlosen Feuerzauber verboten. Er weiß um die zersetzende Wirkung eines durch Befehl gedeckten Vernichtungsrausches." Selbst eine wüste Landsknechtsnatur, ein Hauptmann, wird nicht völlig ohne Verständnis und Sympathie geschildert. Nur der schöne Harras, ein Fanatiker, der jede Propagandafloskel nachbetet und noch im Kessel auf Eleganz hält, entpuppt sich am Ende, im letzten, schauerlichen Elend, als erbärmlicher Wicht.
Die Zweifel fast aller am Sinn des Kampfes um Stalingrad, dann an Hitler und schließlich an der nationalsozialistischen Ideologie und Propaganda wachsen bei den Romanfiguren - aber sie wachsen nicht gleichmäßig und auch kaum so, wie man sie heute formulieren würde. Sie wachsen - in Soldaten. Auch Breuer sucht noch nach Rechtfertigungen, als ein Kamerad ihm das pseudoreligiöse Wesen des Nationalsozialismus darlegen will: ",Ich glaube, Sie überspitzen, Wiese', sagte er mit kühl überlegener Missbilligung. ,So schlimm ist das alles doch nicht! In einem mögen Sie vielleicht recht haben: Manches könnte besser sein. Es gibt wilde Männer, die über das Ziel hinausschießen. Das sind so die letzten Eierschalen aus der Kampfzeit, Ausnahmen, Einzelfälle . . .'"
Schließlich kommt auch er zu dem Gedanken, eine Kapitulation des Kessels könne geboten sein. "Selbst ein Blücher hat kapituliert! Bei Radkau hat er kapituliert, als ihm Brot und Munition ausging. Eine Kapitulation unter ehrenvollen Bedingungen, nach tapferem Kampf, das ist keine Schande . . . Das kann sogar Pflicht sein!"
Dies dämmert Breuer, als der Plan eines befehlswidrigen Ausbruchs aus dem Kessel schon nicht mehr realistisch war. Der Urheber dieses Plans war General Walther von Seydlitz gewesen, der sich aber gegen den zögernden und von Hitler "wie ein dummer Junge" behandelten Friedrich Paulus nicht durchsetzen konnte. Seydlitz hat einen Auftritt, bei dem er als Muster des hohen Militärs erscheint: "Er nahm die Feldmütze vom Kopf und strich sich mit der Hand über das weiße, an den Schläfen kurzgeschnittene Haar. Dann legte er seine Tarnjacke ab, die das Ritterkreuz mit dem Eichenlaub freigab. Seinem faltigen Gesicht nach mochte der General um die fünfzig herum sein, die straffe Reitergestalt, Ausdruck einer verpflichtenden Familientradition, ließ ihn jünger erscheinen."
Seydlitz gehört in der Kriegsgefangenschaft zum "Bund Deutscher Offiziere", der dem Nationalkomitee Freies Deutschland eingegliedert wurde. Auch Heinrich Gerlach schloss sich dieser Anti-Hitler-Gruppierung an. Seydlitz hatte weitreichende Pläne zur Aufstellung deutscher Einheiten, die unter dem Kommando der Roten Armee kämpfen sollten, und in Berlin hatte man durchaus Sorge angesichts eines solchen Schrittes; beim Eintritt nach Ostpreußen könnte eine deutsche Gegenregierung ausgerufen werden, die an die alte Waffenbrüderschaft gegen Napoleon hätte anknüpfen können. Aber das passte durchaus nicht in die sowjetischen Pläne, und nachdem der BDO seine Schuldigkeit getan hatte, wurde Seydlitz 1950 durch ein Militärgericht zum Tode, dann zu 25 Jahren "Besserungslager" verurteilt, er kam erst 1955 frei. 1996 hob die Moskauer Generalstaatsanwaltschaft das Urteil von 1950 auf.
Gerlach erging es ein wenig besser, aber auch er kam, nachdem der BDO nicht mehr gebraucht wurde, in neue Gefängnisse und Lager, erst 1950 konnte er in die Bundesrepublik zurückkehren. Wie Carsten Gansel in seinem nicht genug zu rühmenden Nachwort zu diesem Band erläutert (fast ist es ein zweiter kleiner Roman), gehört es zur merkwürdigen Wirkungsgeschichte von Gerlachs Manuskript, dass es zeitweise höchste Kreise der Sowjetunion beschäftigte.
Heinrich Gerlach: "Durchbruch bei Stalingrad". Roman.
Hrsg. von Carsten Gansel. Galiani Verlag, Berlin 2016. 704 S., geb., 34,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nach Stalingrad schrieb der Kriegsgefangene Heinrich Gerlach einen Roman über seine Erlebnisse. Damals konfiszierte die Rote Armee das Manuskript.
Von Lorenz Jäger
Dieses Buch ist eine Entdeckung. Nach siebzig Jahren hat es Carsten Gansel in einem russischen Archiv gefunden. Dem Autor Heinrich Gerlach, einem Gymnasiallehrer, war es in der Kriegsgefangenschaft von den sowjetischen Behörden abgenommen worden. Wieder in Deutschland, machte er sich an eine zweite Fassung. Und das ist eine Abenteuergeschichte für sich: Durch Hypnose wurde Gerlach dazu gebracht, sich auf die Einzelheiten seiner Darstellung zu besinnen.
Dieses Buch muss man lesen, wenn man sich einen Begriff von Stalingrad machen will. Nein, keinen Begriff, der nämlich findet sich nicht, das Geschehen fügt sich kaum zusammen, es sei denn in fast apokalyptischen Kategorien. Sagen wir also: Wer eine Ahnung davon bekommen will, was Stalingrad war, wie groß allein der Umfang des Kessels war, was die Einkesselung und schließliche Kapitulation der 6. Armee bedeutete, der muss es lesen. Von rund 300 000 Soldaten - die meisten waren Deutsche, aber auch Rumänen und Italiener kämpften dort - kehrten nach der Kriegsgefangenschaft rund 6000 in die Heimat zurück. Stalingrad war der Wendepunkt. So nahmen die Studenten der "Weißen Rose" die Schlacht wahr und mit ihnen ein großer Teil der Bevölkerung: Die Standesämter dokumentieren, dass danach die Beliebtheit des Vornamens "Adolf" schnell in den Keller ging.
Gerlach hatte als Nachrichtenoffizier ("I c") in Stalingrad gekämpft. Das unterscheidet seinen Roman von Theodor Pliviers "Stalingrad" (Berlin 1945). Plivier hatte im Moskauer Exil gelebt und auf Gespräche mit Wehrmachtssoldaten zurückgreifen können, es unterscheidet ihn aber auch von Alexander Kluges Dokumentarmontage "Schlachtbeschreibung" (erschienen 1964, auch dieses Buch muss man in der ersten Auflage lesen und nicht in der späteren Bearbeitung).
Stalingrad sollte nach Hitlers Kriegsplan genommen werden, um den sowjetischen Nachschub über die Wolga abzuschneiden und danach auf die kaukasischen Ölfelder marschieren zu können. Gerlachs eigene Teilnahme an den Kämpfen, am Martyrium der Eingekesselten und am bitteren Ende der 6. Armee bringt einen eigentümlichen Ton in das Buch, eigentlich überlagern sich zwei Tonlagen. Man erkennt die völlig klare Anti-Hitler-Haltung des Autors - und gleichzeitig eine den heutigen Lesern vielleicht kaum mehr verständliche Loyalität gegenüber den Kameraden. Ja, man glaubt, am Anfang der folgenden Schilderung die Sprache der Wehrmachtsberichte noch erkennen zu können, die erst am Ende des Satzes in die pure Verzweiflung mündet: "Es begann ein erbittertes Ringen um jedes Haus, jedes Kellerloch, um jede Mauer und um jeden Trümmerhaufen, ein Kämpfen Mann gegen Mann, das ungeheuerliche Opfer forderte und die Divisionen dahinschmelzen ließ wie Aprilschnee an der Sonne."
Im Rhythmus dieses einen Satzes findet man die ganze Rhetorik, das "Narrativ", wenn man so will, des Buches. Alles bewegt sich zwischen Glaube und Zweifel, anfangs gibt es noch Hoffnungen auf einen Heimaturlaub, später folgt der grausame Zerfall aller Illusionen. Deutlich wird eine gewisse Erinnerung an christliche Gehalte: "Über die heimatfremde Einöde ritten Kampf, Frost und Hunger als apokalyptisches Dreigespann und hielten immer reichere Ernte unter allem Lebendigen . . . Schädelstätte, Golgatha der Dreihunderttausend! Kreuz von Stalingrad!" Zu den bewegendsten Passagen gehört die Schilderung der Weihnachtsfeier im Kessel und darin das unvergessliche Porträt des evangelischen Pfarrers.
In der Figur des Oberleutnants Breuer hat Gerlach sich selbst gezeichnet. Ihm und seinem Fahrer Lakosch begegnen wir im ersten Kapitel. Später wird sich Lakosch an "die Sache mit den Juden" erinnern. "Vor der getünchten Ziegelmauer drängten sich die Juden, klammerten sich aneinander fest und bildeten so eine unauflösliche Einheit abgründigen Leidens und eines schwarzen, stechenden Hasses, der aus den Urtiefen zu kommen schien." Sie müssen sich, so will es ein Unteroffizier, ihr eigenes Grab schaufeln. In letzter Sekunde erscheint ein anständiger Offizier, er kann der geplanten Mordaktion gerade noch ein Ende machen. Ein älterer Mann unter den Juden, dem man das linke Ohr abgeschnitten hat, nähert sich ihm nun: ",Auch ich, werter Cherr, begrieße serr von Cherzen neie deutsche Regierung!' Durch die Maske sklavischer Unterwerfung, die jahrhundertelange Knechtschaft aufgezwungen hatte, schimmerte ohnmächtiger Hass. Der Offizier wandte sich ab. ,Machen Sie, dass Sie fortkommen', sagte er barsch, ,und lassen Sie sich nicht wieder hier blicken!'"
Auf den Typus des deutschen Offiziers fällt kein genereller Verdacht. Wie man an anderer Stelle Feuer der Zerstörung sieht, wo Dörfer niedergebrannt werden, heißt es: "Der Oberst hat seinen Einheiten diesen sinnlosen Feuerzauber verboten. Er weiß um die zersetzende Wirkung eines durch Befehl gedeckten Vernichtungsrausches." Selbst eine wüste Landsknechtsnatur, ein Hauptmann, wird nicht völlig ohne Verständnis und Sympathie geschildert. Nur der schöne Harras, ein Fanatiker, der jede Propagandafloskel nachbetet und noch im Kessel auf Eleganz hält, entpuppt sich am Ende, im letzten, schauerlichen Elend, als erbärmlicher Wicht.
Die Zweifel fast aller am Sinn des Kampfes um Stalingrad, dann an Hitler und schließlich an der nationalsozialistischen Ideologie und Propaganda wachsen bei den Romanfiguren - aber sie wachsen nicht gleichmäßig und auch kaum so, wie man sie heute formulieren würde. Sie wachsen - in Soldaten. Auch Breuer sucht noch nach Rechtfertigungen, als ein Kamerad ihm das pseudoreligiöse Wesen des Nationalsozialismus darlegen will: ",Ich glaube, Sie überspitzen, Wiese', sagte er mit kühl überlegener Missbilligung. ,So schlimm ist das alles doch nicht! In einem mögen Sie vielleicht recht haben: Manches könnte besser sein. Es gibt wilde Männer, die über das Ziel hinausschießen. Das sind so die letzten Eierschalen aus der Kampfzeit, Ausnahmen, Einzelfälle . . .'"
Schließlich kommt auch er zu dem Gedanken, eine Kapitulation des Kessels könne geboten sein. "Selbst ein Blücher hat kapituliert! Bei Radkau hat er kapituliert, als ihm Brot und Munition ausging. Eine Kapitulation unter ehrenvollen Bedingungen, nach tapferem Kampf, das ist keine Schande . . . Das kann sogar Pflicht sein!"
Dies dämmert Breuer, als der Plan eines befehlswidrigen Ausbruchs aus dem Kessel schon nicht mehr realistisch war. Der Urheber dieses Plans war General Walther von Seydlitz gewesen, der sich aber gegen den zögernden und von Hitler "wie ein dummer Junge" behandelten Friedrich Paulus nicht durchsetzen konnte. Seydlitz hat einen Auftritt, bei dem er als Muster des hohen Militärs erscheint: "Er nahm die Feldmütze vom Kopf und strich sich mit der Hand über das weiße, an den Schläfen kurzgeschnittene Haar. Dann legte er seine Tarnjacke ab, die das Ritterkreuz mit dem Eichenlaub freigab. Seinem faltigen Gesicht nach mochte der General um die fünfzig herum sein, die straffe Reitergestalt, Ausdruck einer verpflichtenden Familientradition, ließ ihn jünger erscheinen."
Seydlitz gehört in der Kriegsgefangenschaft zum "Bund Deutscher Offiziere", der dem Nationalkomitee Freies Deutschland eingegliedert wurde. Auch Heinrich Gerlach schloss sich dieser Anti-Hitler-Gruppierung an. Seydlitz hatte weitreichende Pläne zur Aufstellung deutscher Einheiten, die unter dem Kommando der Roten Armee kämpfen sollten, und in Berlin hatte man durchaus Sorge angesichts eines solchen Schrittes; beim Eintritt nach Ostpreußen könnte eine deutsche Gegenregierung ausgerufen werden, die an die alte Waffenbrüderschaft gegen Napoleon hätte anknüpfen können. Aber das passte durchaus nicht in die sowjetischen Pläne, und nachdem der BDO seine Schuldigkeit getan hatte, wurde Seydlitz 1950 durch ein Militärgericht zum Tode, dann zu 25 Jahren "Besserungslager" verurteilt, er kam erst 1955 frei. 1996 hob die Moskauer Generalstaatsanwaltschaft das Urteil von 1950 auf.
Gerlach erging es ein wenig besser, aber auch er kam, nachdem der BDO nicht mehr gebraucht wurde, in neue Gefängnisse und Lager, erst 1950 konnte er in die Bundesrepublik zurückkehren. Wie Carsten Gansel in seinem nicht genug zu rühmenden Nachwort zu diesem Band erläutert (fast ist es ein zweiter kleiner Roman), gehört es zur merkwürdigen Wirkungsgeschichte von Gerlachs Manuskript, dass es zeitweise höchste Kreise der Sowjetunion beschäftigte.
Heinrich Gerlach: "Durchbruch bei Stalingrad". Roman.
Hrsg. von Carsten Gansel. Galiani Verlag, Berlin 2016. 704 S., geb., 34,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.03.2016Teufel, ist das eine Kälte
Im sowjetischen Gefangenenlager beschlagnahmt, 1957 noch einmal geschrieben: Heinrich Gerlachs
Kriegsroman „Die verratene Armee“ erscheint nun in der Erstfassung: „Durchbruch bei Stalingrad“
VON ULRICH BARON
Nicht einmal Siegfried Lenzens im Nachlass entdeckter, erst vor Kurzem publizierte Roman „Der Überläufer“ hat so ein seltsames Schicksal wie der Roman Heinrich Gerlachs, der 1957 unter dem Titel „Die verratene Armee“ erschien und nun als „Durchbruch bei Stalingrad“ in einer ursprünglicheren Version vom Germanisten Carsten Gansel herausgegeben worden ist.
Sein Buch sei „1944/45, unter dem noch frischen Eindruck des Erlebten“ in sowjetischer Gefangenschaft entstanden, 1949 beschlagnahmt und zwischen 1951 und 1955 „ein zweites Mal geschrieben“ worden, verlautbarte der 1908 in Königsberg geborene Gerlach seinerzeit. Ab 1957 wurde es zum Bestseller, übersetzt, gelobt – und dann mehr oder weniger vergessen. Wer aber jemals nach verschollenen Werken gesucht hat, wird die Gefühle Gansels nachempfinden, als er am 14. Februar 2012 im Staatlichen Militärarchiv in Moskau die beschlagnahmte Urfassung vor sich liegen hatte.
Die Umstände ihrer Entstehung, Gerlachs Odyssee durch sowjetische Kriegsgefangenenlager, der Beschlagnahmung und seines Versuchs, dessen Inhalt zunächst mit Hilfe eines Hypnotiseurs und dann in einem jahrelangen Schreibprozess zu rekonstruieren, sind so abenteuerlich, dass das Nachwort des Herausgebers dadurch zu einem eigenen kleinen Roman angewachsen ist.
Schon als der kriegsgefangene Oberleutnant und Leiter der Abteilung Aufklärung des 14. Panzerregiments seine Urfassung schrieb, hatte freilich ein Konkurrent die Nase vorn. Der im sowjetischen Exil lebende Theodor Plievier hatte bereits 1943/44 in einer Exil-Zeitschrift seinen auf der Grundlage von Gesprächen mit kriegsgefangenen Deutschen verfassten Reportageroman „Stalingrad“ veröffentlicht. Von 1945 an auch in vielen Buchausgaben, Rundfunksendungen und Übersetzungen verbreitet, gab Plieviers Werk Auskünfte über das Schicksal der 6. Armee, an deren Authentizität nicht zu zweifeln war. Mit „Moskau“ (1952) und „Berlin“ (1954) um Vor- und Nachgeschichte erweitert, war seine Trilogie hierzulande nicht nur die früheste, sondern auch die umfassendste literarische Darstellung des Krieges im Osten.
Im Jahre 1957 war der alte Anarchist Plievier schon seit zwei Jahren tot, aber Heinrich Gerlach war ihm während seiner Gefangenschaft begegnet und hat „Stalingrad“ seit 1943 zumindest in Auszügen gekannt. Und er scheint davon beeindruckt gewesen zu sein. „Wie Plievier“ habe auch er die epische Form aufgebrochen und seinem Roman eine „eschatologische Perspektive“ eingeschrieben, urteilt Gansel – in der Neufassung aber dann auch der „Diskurs der 1950er Jahre“.
Eher am Rande teilt Gansel mit, dass er „nach Abschluss der Arbeiten zur Edition“ habe feststellen müssen, dass der Historiker Jochen Hellbeck das beschlagnahmte Typoskript schon im Heft 1/2013 der Zeitschrift Contemporary European History beschrieben und interpretiert hatte. Während der Uwe-Johnson-Experte Gansel die Erinnerungsarbeit Heinrich Gerlachs auch als „Versuch einer psychischen Selbstheilung“ auffasst, bei dem „Anpassung und Selbstzensur keine Rolle“ spielten, konstatierte Hellbeck, zu dessen Forschungsschwerpunkten das autobiografische Schreiben unter Stalin gehört, einen starken Einfluss der sowjetischen Re-Edukation auf die Urfassung.
Und er fragt, ob jene Hypnose-Geschichte, die, beginnend mit einer Bildreportage der Illustrierten Quick vom August 1951, immer wieder nacherzählt wurde, bislang nicht falsch erzählt worden sei. Ging es womöglich nicht allein um die Reaktivierung von Erinnerungen, sondern auch um deren Reinigung von Ideologie und Ideologieverdacht? Immerhin beschreibt Gansel, wie Gerlach Mitglied im „Bund Deutscher Offiziere“ sowie Mitarbeiter der Zeitschrift Freies Deutschland wurde, die wie das „Nationalkomitee „Freies Deutschland“ gefangene und aktive deutsche Soldaten zum Widerstand gegen das NS-Regime motivieren sollten. In den frühen Jahren der Bundesrepublik hätte dieser Hintergrund eine Veröffentlichung ebenso behindert, wie es bei dem „Überläufer“-Roman von Siegfried Lenz der Fall war.
Trotz solcher Kontroversen sind sich beide Romanfassungen bis in viele Formulierungen hinein erstaunlich ähnlich. Doch akzentuiert die Urfassung Schuld und Gewissenskonflikte schärfer als die spätere Version, die allein schon durch den Titel „Die verratene Armee“ laut Gansel „das für die 1950er-Jahre Kennzeichnende soldatische Opfernarrativ zu installieren sucht“. Doch bevor deutsche Truppen im Sommer 1942 anrückten, war Stalingrad eine blühende Industriestadt mit knapp 500 000 Einwohnern. Nach der Rückeroberung zählte man in den Ruinen 7655 überlebende Bewohner, schreibt Jochen Hellbeck in seinem Band „Die Stalingrad Protokolle“, der 2012 bei S. Fischer erschien und eine Gegenperspektive nicht nur zu Heinrich Gerlachs Roman bietet.
Da Gerlach erst im November 1942 einsetzt, ist das zivile Leben bereits verschwunden. Nur eine „blasse Frau“ mit einem kleinen Jungen ist in dem Haus geblieben, wo ein Divisionsstab Quartier macht. Während die Deutschen bei Bratkartoffeln und Kulturfilmen auf eine winterliche Kampfpause hoffen, hat man der Russin ihren Platz zugewiesen: „Ihre Schlafstatt war unter den Hufen des Pferdes, das man ihnen gelassen hatte.“
Die Szene bleibt eine Marginalie in einem größeren Szenario, in dem aus Eroberern Opfer werden. Während die Ausgabe von 1957 mit einem Fluch von Gerlachs Alter Ego Oberleutnant Breuer – „Teufel, ist das eine Kälte“ – beginnt, setzte die Urfassung auf leerer Bühne ein: „In die Steppe zwischen Wolga und Don hatte der Winter seine Spähtrupps vorausgesandt.“ Die Natur erscheint personalisiert und durch das Bild der „Spähtrupps“ militarisiert. Im zweiten Satz folgt dem Vorstoß ein Rückzug: „Die ungewöhnliche Wärme der ersten Novembertage war um den 6. herum einem schneelosen Frost gewichen, der den Schlamm der endlosen Wege in Asphalt verwandelt hatte.“
Das ist ein Bild, das einen frösteln lässt, aber im dritten Satz kippt das Erhabene und Menetekelhafte ins Landsermäßige: „Auf dieser erfreulichen Glätte sprang munter ein kleiner grauer Kraftwagen dahin.“ Dann springt auch die Perspektive und zwar in den Fahrerraum: „Der Fahrer, der aus winterlicher Vermummung mit zwei pfiffigen Augen und einer geröteten Stupsnase in die Welt blickte, ließ dem kleinen Gefährt alle Freiheiten.“
Pfiffige Augen und Stupsnase täuschen nicht – der Gefreite Lakosch ist eine Art Schwejk für den Wehrmachtsgebrauch, der später zum Überläufer wird. In einer erinnerten Schlüsselszene war „der Kleine“ Zeuge geworden, wie ein deutscher Offizier eine Meute fanatisierter Landser daran hindert, gefangene Juden zu lynchen, deren Dank er dann aber schroff zurückwies. Völkermord wird hier verhindert, weil ein deutscher Offizier keine Disziplinlosigkeit duldet.
Gegen Ende, am 30. Januar 1943, dem zehnten Jahrestag der „Machtübernahme“ gibt es eine Art Bilanz des Dritten Reichs und seiner Verbrechen, die auch die Popagandalügen zum Ostfeldzug zitiert: „Bestien . . . asiatische Horden . . . Kreuzzug gegen den Bolschewismus! . . . gehen über zur Bodenpolitik der Zukunft . . . Kommissarerlaß . . . Bestialität gleichermaßen Rechnung tragen!“
Doch wie sich am Romanschluss der Hitlergruß in Wutschrei und Anklage der Besiegten auf dem Schlachtfeld verwandelt, so heißt es am Ende dieses Sündenregisters ironisch: „Wir danken unserem Führer“. An allem war allein Adolf Hitler schuld, der in Stalingrad selbst seine eigenen Soldaten verraten hatte.
Nun muss der von Hellbeck unterstellte Einfluss der sowjetischen Re-Edukation ja nicht heißen, dass die Umerziehung geglückt wäre. Sowjetische Lagerleitungen hätten ihre Gefangenen, nicht nur verhört, sondern auch zum Schreiben von Zeitungen, Gedichten, ganzen Theaterstücken und Romanen über ihre Erfahrungen im Krieg gedrängt, liest man bei Hellbeck. Inmitten solcher Archivalien sei er auf das Manuskript Heinrich Gerlachs gestoßen.
Während Gansel es aus diesem Kontext herauslöst, erscheint Hellbecks Insistieren auf dem Kontext durchaus sinnvoll. Denn man kann Gerlachs zweimal geschriebenen Roman als ein doppeltes Palimpsest verstehen, dem sich neben den Erinnerungen und Reflexionen des Autors auch die widerstreitenden Ideologien der 1940er- und 1950er-Jahre sowie die Umstände seiner wiederholten Entstehung eingeschrieben haben.
Gerlach sei, berichtet Hellbeck, 1943 auf einen Tass-Artikel über die Moskauer Konferenz gestoßen, der vom Beschluss der Alliierten berichtet habe, Kriegsverbrecher unnachsichtig zu bestrafen. Aus Gerlachs Buch „Odyssee in Rot“ über seine Kriegsgefangenschaft zitiert er eine Passage, die zeigt, dass dies ein Schock für den Autor war, weil er Kriegsverbrechen nicht nur vom Hörensagen kannte. Das sei ein weiterer Anstoß zum Schreiben gewesen – und verstärkt den Verdacht, dass sich das Gewissen erst melden konnte, nachdem sich Sieger in Verlierer und Kriegs- in potenzielle Strafgefangene verwandelt sahen. Zur Klärung der damit angerissenen Fragen aber müsste man das Moskauer Original zu Rate ziehen, das voller Streichungen, Überschreibungen, Korrekturen steckt – und voller großflächigen Überklebungen von Passagen, welche die vorliegende, auf Fotografien beruhende und um eine lesbare Romanfassung bemühte Ausgabe nicht erschließen konnte.
Carsten Gansels Edition, die mit zahlreichen Dokumenten, Fotografien und Protokollen Einblick in die Archivsituation gibt, öffnet den Zugang in ein spannendes und aufschlussreiches Kapitel deutscher Kriegs- und Literaturgeschichte. Was die Gesamtwürdigung von Heinrich Gerlachs Roman und dessen Aussagekraft als historische Quelle angeht, ist sie eher ein neuer Anfang als ein Abschluss.
Der Frost hatte den Schlamm
der unendlichen Wege
in Asphalt verwandelt
Im Originalmanuskript
des Romans sind zahlreiche
Passagen überklebt
Der Mann, der seinen Stalingrad-Roman unter Hypnose rekonstruierte: Heinrich Gerlach in der „Frankfurter Illustrierten“ vom 15.3.1958.
Foto: Galiani Verlag
Heinrich Gerlach: Durchbruch bei Stalingrad. Roman. Herausgegeben, mit einem Nachwort und dokumentarischem Material versehen von Carsten
Gansel. Galiani Berlin
Verlag, Köln 2016. 693 Seiten, 34 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Im sowjetischen Gefangenenlager beschlagnahmt, 1957 noch einmal geschrieben: Heinrich Gerlachs
Kriegsroman „Die verratene Armee“ erscheint nun in der Erstfassung: „Durchbruch bei Stalingrad“
VON ULRICH BARON
Nicht einmal Siegfried Lenzens im Nachlass entdeckter, erst vor Kurzem publizierte Roman „Der Überläufer“ hat so ein seltsames Schicksal wie der Roman Heinrich Gerlachs, der 1957 unter dem Titel „Die verratene Armee“ erschien und nun als „Durchbruch bei Stalingrad“ in einer ursprünglicheren Version vom Germanisten Carsten Gansel herausgegeben worden ist.
Sein Buch sei „1944/45, unter dem noch frischen Eindruck des Erlebten“ in sowjetischer Gefangenschaft entstanden, 1949 beschlagnahmt und zwischen 1951 und 1955 „ein zweites Mal geschrieben“ worden, verlautbarte der 1908 in Königsberg geborene Gerlach seinerzeit. Ab 1957 wurde es zum Bestseller, übersetzt, gelobt – und dann mehr oder weniger vergessen. Wer aber jemals nach verschollenen Werken gesucht hat, wird die Gefühle Gansels nachempfinden, als er am 14. Februar 2012 im Staatlichen Militärarchiv in Moskau die beschlagnahmte Urfassung vor sich liegen hatte.
Die Umstände ihrer Entstehung, Gerlachs Odyssee durch sowjetische Kriegsgefangenenlager, der Beschlagnahmung und seines Versuchs, dessen Inhalt zunächst mit Hilfe eines Hypnotiseurs und dann in einem jahrelangen Schreibprozess zu rekonstruieren, sind so abenteuerlich, dass das Nachwort des Herausgebers dadurch zu einem eigenen kleinen Roman angewachsen ist.
Schon als der kriegsgefangene Oberleutnant und Leiter der Abteilung Aufklärung des 14. Panzerregiments seine Urfassung schrieb, hatte freilich ein Konkurrent die Nase vorn. Der im sowjetischen Exil lebende Theodor Plievier hatte bereits 1943/44 in einer Exil-Zeitschrift seinen auf der Grundlage von Gesprächen mit kriegsgefangenen Deutschen verfassten Reportageroman „Stalingrad“ veröffentlicht. Von 1945 an auch in vielen Buchausgaben, Rundfunksendungen und Übersetzungen verbreitet, gab Plieviers Werk Auskünfte über das Schicksal der 6. Armee, an deren Authentizität nicht zu zweifeln war. Mit „Moskau“ (1952) und „Berlin“ (1954) um Vor- und Nachgeschichte erweitert, war seine Trilogie hierzulande nicht nur die früheste, sondern auch die umfassendste literarische Darstellung des Krieges im Osten.
Im Jahre 1957 war der alte Anarchist Plievier schon seit zwei Jahren tot, aber Heinrich Gerlach war ihm während seiner Gefangenschaft begegnet und hat „Stalingrad“ seit 1943 zumindest in Auszügen gekannt. Und er scheint davon beeindruckt gewesen zu sein. „Wie Plievier“ habe auch er die epische Form aufgebrochen und seinem Roman eine „eschatologische Perspektive“ eingeschrieben, urteilt Gansel – in der Neufassung aber dann auch der „Diskurs der 1950er Jahre“.
Eher am Rande teilt Gansel mit, dass er „nach Abschluss der Arbeiten zur Edition“ habe feststellen müssen, dass der Historiker Jochen Hellbeck das beschlagnahmte Typoskript schon im Heft 1/2013 der Zeitschrift Contemporary European History beschrieben und interpretiert hatte. Während der Uwe-Johnson-Experte Gansel die Erinnerungsarbeit Heinrich Gerlachs auch als „Versuch einer psychischen Selbstheilung“ auffasst, bei dem „Anpassung und Selbstzensur keine Rolle“ spielten, konstatierte Hellbeck, zu dessen Forschungsschwerpunkten das autobiografische Schreiben unter Stalin gehört, einen starken Einfluss der sowjetischen Re-Edukation auf die Urfassung.
Und er fragt, ob jene Hypnose-Geschichte, die, beginnend mit einer Bildreportage der Illustrierten Quick vom August 1951, immer wieder nacherzählt wurde, bislang nicht falsch erzählt worden sei. Ging es womöglich nicht allein um die Reaktivierung von Erinnerungen, sondern auch um deren Reinigung von Ideologie und Ideologieverdacht? Immerhin beschreibt Gansel, wie Gerlach Mitglied im „Bund Deutscher Offiziere“ sowie Mitarbeiter der Zeitschrift Freies Deutschland wurde, die wie das „Nationalkomitee „Freies Deutschland“ gefangene und aktive deutsche Soldaten zum Widerstand gegen das NS-Regime motivieren sollten. In den frühen Jahren der Bundesrepublik hätte dieser Hintergrund eine Veröffentlichung ebenso behindert, wie es bei dem „Überläufer“-Roman von Siegfried Lenz der Fall war.
Trotz solcher Kontroversen sind sich beide Romanfassungen bis in viele Formulierungen hinein erstaunlich ähnlich. Doch akzentuiert die Urfassung Schuld und Gewissenskonflikte schärfer als die spätere Version, die allein schon durch den Titel „Die verratene Armee“ laut Gansel „das für die 1950er-Jahre Kennzeichnende soldatische Opfernarrativ zu installieren sucht“. Doch bevor deutsche Truppen im Sommer 1942 anrückten, war Stalingrad eine blühende Industriestadt mit knapp 500 000 Einwohnern. Nach der Rückeroberung zählte man in den Ruinen 7655 überlebende Bewohner, schreibt Jochen Hellbeck in seinem Band „Die Stalingrad Protokolle“, der 2012 bei S. Fischer erschien und eine Gegenperspektive nicht nur zu Heinrich Gerlachs Roman bietet.
Da Gerlach erst im November 1942 einsetzt, ist das zivile Leben bereits verschwunden. Nur eine „blasse Frau“ mit einem kleinen Jungen ist in dem Haus geblieben, wo ein Divisionsstab Quartier macht. Während die Deutschen bei Bratkartoffeln und Kulturfilmen auf eine winterliche Kampfpause hoffen, hat man der Russin ihren Platz zugewiesen: „Ihre Schlafstatt war unter den Hufen des Pferdes, das man ihnen gelassen hatte.“
Die Szene bleibt eine Marginalie in einem größeren Szenario, in dem aus Eroberern Opfer werden. Während die Ausgabe von 1957 mit einem Fluch von Gerlachs Alter Ego Oberleutnant Breuer – „Teufel, ist das eine Kälte“ – beginnt, setzte die Urfassung auf leerer Bühne ein: „In die Steppe zwischen Wolga und Don hatte der Winter seine Spähtrupps vorausgesandt.“ Die Natur erscheint personalisiert und durch das Bild der „Spähtrupps“ militarisiert. Im zweiten Satz folgt dem Vorstoß ein Rückzug: „Die ungewöhnliche Wärme der ersten Novembertage war um den 6. herum einem schneelosen Frost gewichen, der den Schlamm der endlosen Wege in Asphalt verwandelt hatte.“
Das ist ein Bild, das einen frösteln lässt, aber im dritten Satz kippt das Erhabene und Menetekelhafte ins Landsermäßige: „Auf dieser erfreulichen Glätte sprang munter ein kleiner grauer Kraftwagen dahin.“ Dann springt auch die Perspektive und zwar in den Fahrerraum: „Der Fahrer, der aus winterlicher Vermummung mit zwei pfiffigen Augen und einer geröteten Stupsnase in die Welt blickte, ließ dem kleinen Gefährt alle Freiheiten.“
Pfiffige Augen und Stupsnase täuschen nicht – der Gefreite Lakosch ist eine Art Schwejk für den Wehrmachtsgebrauch, der später zum Überläufer wird. In einer erinnerten Schlüsselszene war „der Kleine“ Zeuge geworden, wie ein deutscher Offizier eine Meute fanatisierter Landser daran hindert, gefangene Juden zu lynchen, deren Dank er dann aber schroff zurückwies. Völkermord wird hier verhindert, weil ein deutscher Offizier keine Disziplinlosigkeit duldet.
Gegen Ende, am 30. Januar 1943, dem zehnten Jahrestag der „Machtübernahme“ gibt es eine Art Bilanz des Dritten Reichs und seiner Verbrechen, die auch die Popagandalügen zum Ostfeldzug zitiert: „Bestien . . . asiatische Horden . . . Kreuzzug gegen den Bolschewismus! . . . gehen über zur Bodenpolitik der Zukunft . . . Kommissarerlaß . . . Bestialität gleichermaßen Rechnung tragen!“
Doch wie sich am Romanschluss der Hitlergruß in Wutschrei und Anklage der Besiegten auf dem Schlachtfeld verwandelt, so heißt es am Ende dieses Sündenregisters ironisch: „Wir danken unserem Führer“. An allem war allein Adolf Hitler schuld, der in Stalingrad selbst seine eigenen Soldaten verraten hatte.
Nun muss der von Hellbeck unterstellte Einfluss der sowjetischen Re-Edukation ja nicht heißen, dass die Umerziehung geglückt wäre. Sowjetische Lagerleitungen hätten ihre Gefangenen, nicht nur verhört, sondern auch zum Schreiben von Zeitungen, Gedichten, ganzen Theaterstücken und Romanen über ihre Erfahrungen im Krieg gedrängt, liest man bei Hellbeck. Inmitten solcher Archivalien sei er auf das Manuskript Heinrich Gerlachs gestoßen.
Während Gansel es aus diesem Kontext herauslöst, erscheint Hellbecks Insistieren auf dem Kontext durchaus sinnvoll. Denn man kann Gerlachs zweimal geschriebenen Roman als ein doppeltes Palimpsest verstehen, dem sich neben den Erinnerungen und Reflexionen des Autors auch die widerstreitenden Ideologien der 1940er- und 1950er-Jahre sowie die Umstände seiner wiederholten Entstehung eingeschrieben haben.
Gerlach sei, berichtet Hellbeck, 1943 auf einen Tass-Artikel über die Moskauer Konferenz gestoßen, der vom Beschluss der Alliierten berichtet habe, Kriegsverbrecher unnachsichtig zu bestrafen. Aus Gerlachs Buch „Odyssee in Rot“ über seine Kriegsgefangenschaft zitiert er eine Passage, die zeigt, dass dies ein Schock für den Autor war, weil er Kriegsverbrechen nicht nur vom Hörensagen kannte. Das sei ein weiterer Anstoß zum Schreiben gewesen – und verstärkt den Verdacht, dass sich das Gewissen erst melden konnte, nachdem sich Sieger in Verlierer und Kriegs- in potenzielle Strafgefangene verwandelt sahen. Zur Klärung der damit angerissenen Fragen aber müsste man das Moskauer Original zu Rate ziehen, das voller Streichungen, Überschreibungen, Korrekturen steckt – und voller großflächigen Überklebungen von Passagen, welche die vorliegende, auf Fotografien beruhende und um eine lesbare Romanfassung bemühte Ausgabe nicht erschließen konnte.
Carsten Gansels Edition, die mit zahlreichen Dokumenten, Fotografien und Protokollen Einblick in die Archivsituation gibt, öffnet den Zugang in ein spannendes und aufschlussreiches Kapitel deutscher Kriegs- und Literaturgeschichte. Was die Gesamtwürdigung von Heinrich Gerlachs Roman und dessen Aussagekraft als historische Quelle angeht, ist sie eher ein neuer Anfang als ein Abschluss.
Der Frost hatte den Schlamm
der unendlichen Wege
in Asphalt verwandelt
Im Originalmanuskript
des Romans sind zahlreiche
Passagen überklebt
Der Mann, der seinen Stalingrad-Roman unter Hypnose rekonstruierte: Heinrich Gerlach in der „Frankfurter Illustrierten“ vom 15.3.1958.
Foto: Galiani Verlag
Heinrich Gerlach: Durchbruch bei Stalingrad. Roman. Herausgegeben, mit einem Nachwort und dokumentarischem Material versehen von Carsten
Gansel. Galiani Berlin
Verlag, Köln 2016. 693 Seiten, 34 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Allein die Vorgeschichte dieses Buches ist ein Roman für sich, versichert Rezensent Ulrich Baron: Im Jahre 1957 unter dem Titel "Die verratene Armee" erstmals veröffentlicht, hatte Heinrich Gerlach bereits 1944/45 die hier vorliegende, vom Germanisten Carsten Gansel entdeckte Erstfassung mit dem Titel "Durchbruch bei Stalingrad" geschrieben, die allerdings im sowjetischen Gefangenenlager beschlagnahmt wurde, informiert der Kritiker. Die Unterschiede zwischen der Urfassung und dem von Gerlach rekonstruierten Nachfolger erachtet der Rezensent als erstaunlich gering, auch wenn Schuld und Gewissenskonflikte zunächst schärfer betont wurden und sich die verschiedenen Ideologien der 1940er und 1950er Jahren in den beiden Fassungen durchaus bemerkbar machen. In jedem Fall liest Baron gebannt diesen im November 1942 einsetzenden Roman, der Gerlachs Erfahrungen in Stalingrad schildert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Es ist die wahrscheinlich ungewöhnlichste Entstehungsgeschichte eines Romans, von der man je gehört hat. (...) Heinrich Gerlach hat in sowjetischer Gefangenschaft einen Roman über das Grauen und die Sinnlosigkeit von Stalingrad geschrieben, einen Anti-Kriegs-Roman. (...) Gerlach schreibt keinen Offiziersroman, sondern dokumentiert - das macht ihn so besonders - das Leben und Empfinden der Soldaten aller Ränge. Und er dokumentiert auch Kriegsverbrechen der Deutschen Wehrmacht. Hannes Heer hat anlässlich der Wehrmachtsausstellung einmal bemerkt, dass "kein Roman erzähle, was in den besetzten Gebieten im Osten und Südosten am Verbrechen begangen worden" ist. Hier ist er. Jetzt können wir ihn alle lesen. Julia Encke FAS 20160306