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Subtiles Buch, brutale Sprache: Endlich ist der sibirische Autor Andrej Gelassimow auch auf Deutsch zu entdecken
Das Wort "Durst", dessen bloße Aussprache uns Deutsche schon im Rachen kratzt, hat im Russischen einen feuchten Klang: "Zhazhda". Zwei offene Vokale und davor zwei weiche, stimmhafte Zischlaute wie in "Gelee", "Gitanes" oder "Jeanne" - kein Wunder, dass das Trinkverhalten der Russen seit Jahrhunderten suchtartige Züge trägt. "Zhazhda", "Durst", heißt das zweite von mittlerweile sieben Büchern des sibirischen Prosaikers, Philologen und Theaterregisseurs Andrej Gelassimow, darunter so verheißungsvolle Titel wie "Fox Mulder sieht aus wie ein Schwein". Sogar eine russische Gesamtausgabe gibt es bereits von Gelassimow. Umso erstaunlicher, dass, außer einer kurzen Erzählung, bislang noch keines seiner Werke auf Deutsch zugänglich war. Dies ändert endlich Dorothea Trottenberg mit ihrer stilsicheren Übersetzung von "Durst".
Der Durst, an dem der Protagonist dieses Kurzromans leidet, wird den gängigen Erwartungen an Russisches gerecht. Denn er ist grenzenlos, er ist kollektiv, und er wird methodisch mit Wodka gelöscht: "Es passte einfach nicht der ganze Wodka in den Kühlschrank. Zuerst habe ich versucht, ihn zu stellen, dann legte ich eine Flasche auf die andere. Sie lagen da drin wie durchsichtige Fische." So beginnt die Geschichte des Tschetschenien-Veteranen Kostja. Er hat einen Raketenangriff überlebt, mit derart verbranntem Gesicht, dass er nur noch zum Kinderschreck taugt, buchstäblich: Ist das Nachbarskind nicht artig, droht man ihm mit Kostja. Väterliche Zuwendung erfuhr Kostja selbst nur vom Schuldirektor, einem Alkoholiker, der immerhin sein zeichnerisches Talent entdeckte. Das Militär bot ihm eine Gelegenheit, dem verhassten Stiefvater zu entrinnen. Die Überlebenden des Raketenangriffs treffen sich nun regelmäßig zu Besäufnissen, bis einer von ihnen abhandenkommt. Die gemeinsame Fahndung nach dem Vermissten führt Kostja zufällig in die Arme seines leiblichen Vaters - eine kathartische Begegnung. Es gelingt Kostja, sein Trauma in Bilder zu bannen und schließlich sein verlorenes Gesicht zu zeichnen.
Man hat "Durst", die Suche nach dem verlorenen Kameraden, die eine Reise zur Selbstfindung wird, mit einem Roadmovie verglichen. An einen Film erinnert der Text in der Tat. Rasant geschnittene Zeitsprünge zwischen Kostjas Gegenwart, Kindheit und Kriegserlebnissen lassen den Leser gezielt immer wieder im Unklaren, wo er sich gerade befindet. Raffiniert montiert Gelassimow die verschiedenen Zeitebenen so zum Gesamtbild eines traumatisierten Menschen in einem traumatisierten Land. Kostja, der Vaterlose; Kostja, der Trinker; Kostja, der sich nach dem Tschetschenien-Krieg nicht mehr ins Gesicht sehen kann: wie in einem Klappspiegel reflektiert Gelassimow hier drei düstere Facetten Russlands. Unmenschlicher Militärdienst und Alkoholmissbrauch haben den männlichen Teil der Gesellschaft brutalisiert, eine Verrohung, die in Gelassimows oft vulgärer Diktion ihr getreues Abbild findet. Zugleich ist ein unstillbarer Durst nach Vaterfiguren entstanden, die Beständigkeit bieten, statt sich ins Wodkadelirium zu entziehen (zweifellos ein Grund für Wladimir Putins unheimliche Popularität unter Jugendlichen). Kostja ist die Kurzform von Konstantin, dem Beständigen. "Ein sehr schöner Name", findet Kostjas Schuldirektor, der ihm das Zeichnen beibringt. "Bist du ein beständiger Mensch, Konstantin? Oder heißt du nur so?" Am Schluss, als Kostja den Blick ins eigene, entstellte Gesicht riskiert und es auf Papier festgehalten hat, kommt eine hintersinnige Konstante des Textes noch einmal zum Vorschein. Wieder soll Kostja von der Nachbarin als Kinderschreck eingesetzt werden. Aber er löst keine Angst mehr aus. Gelassimow hat das Kunststück vollbracht, in brutaler Sprache ein höchst subtiles Buch zu schreiben.
URS HEFTRICH
Andrej Gelassimow: "Durst".
Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 113 S., br., 12,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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