Eine Odyssee durch Tel Aviv zur Zeit des zweiten Golfkriegs: Adam Lotem, General der israelischen Armee, ist auf der Suche nach den Bildern von Luca Signorelli und nach der geheimnisvollen Shulamit, der er in der Bibliothek der Universität begegnet und die sich ihm immer wieder entzieht. Mehr und mehr bedrängt ihn seine Vergangenheit, alles kreist um die entscheidende Begebenheit: wie vor Jahren während einer verdeckten Operation ein als arabischer Hirte getarnter Soldat durch seine Kameraden getötet wurde. In einer wahnwitzigen Aktion will Lotem die quälenden Erinnerungen auslöschen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.12.2005General Adams Sündenfall
Die große Verweigerung: Yitzhak Laors israelischer Zeitroman
Tel Aviv im Jahre 1990: Ariel Gold, Professor für die Geschichte des Volkes Israel, besorgt der Familie seiner Tochter Gasmasken "der besten Marke auf der Welt" angesichts des bevorstehenden Irak-Krieges. Sein sexbesessener Kollege Morris Holz, der seine Professur einem grotesken Mißverständnis verdankt, gerät bei einer nächtlichen Autofahrt an eine zwitterhafte Prostituierte. Adam Lotem, General der israelischen Armee, jagt der phantomhaften Shulamit nach, die er bei seinen Kunstgeschichtsstudien kennengelernt hat. Jonathan Eybeschitz weigert sich zu sprechen, bis seine Eltern ihm erlauben, sich freiwillig zu einer Eliteeinheit melden zu dürfen.
Man könnte diese Aufzählung nahezu endlos fortführen, bis man alle Figuren und Parallelhandlungen vorgestellt hätte, die Yitzhak Laor in seinem 2002 im hebräischen Original erschienenen Roman "Ecce homo" kunstvoll miteinander verbindet. Die komplexe Romanwelt steht für eine ebenso komplexe wie widersprüchliche Wirklichkeit, ohne daß es Laor im geringsten um so etwas wie eine naive Abbildhaftigkeit der Literatur ginge. Am Kunstcharakter der fiktionalen Welt lassen schon die mehrfachen Einschübe des Erzählers keinen Zweifel, der freilich die meiste Zeit den Leser mit dem von ihm verantworteten "Durcheinander" allein läßt: "Wir werden verfahren, wie Geschichtenerzähler zu allen Zeiten verfahren sind, werden Allgemeines mit Einzelheiten vermischen, werden manchmal auch zurückgehen, um die Dinge in ihrem Werden darzustellen, da wir kein Recht - und auch keine Lust - haben, Tatsachen zu übermitteln, wie sie wirklich sind, denn wie gefährlich ist die Realität, wenn sie nicht entsteht."
Gravitationszentrum des Buches ist der alternde General Adam Lotem. Um ihn herum gruppieren sich die meisten Figuren und Einzelgeschichten, wenngleich diese stets eine Tendenz zur Verselbständigung haben. Mit den Kriegstaten und Liebesaffären des Generals sind zudem die beiden wichtigsten thematischen Motive des Romans verknüpft, Militarismus und Sexualität. An drastischer Deutlichkeit mangelt es diesbezüglich nicht. Laor gibt die Führungsspitze des Landes, die Generalität, die Politiker, die Universitätsprofessoren, der Lächerlichkeit preis, stellt sie schonungslos bloß. Alt gewordene, in Obszönitäten schwelgende, unfähige Männer, die in zahllose Verbrechen verwickelt sind, stehen an der Spitze des Staates.
Entsprechend ätzend fallen seine Kommentare zu einzelnen historischen Ereignissen oder politischen Aktionen aus. Die Armee gilt als "verfettet, schlampig und arrogant", der Irak-Krieg als "der größte Bluff unserer Geschichte", und über Israel und die Palästinenser heißt es: "Was haben wir hier aufgebaut? Ein Leben auf ihrem Blut." Kein Wunder, daß Laor, von dem bisher nur der Roman "Steine, Gitter, Stimmen" in deutscher Übersetzung vorliegt, in seiner Heimat als einer der schärfsten Kritiker Israels sehr umstritten ist. Ihren Höhepunkt finden seine Invektiven in einem fäkalischen Gedicht, das der Kriegsdienstverweigerer Antebi während seiner Haft verfaßt haben soll: "Hätt ich einen so großen Schwanz wie die Überlandwasserleitung, würd ich auf die Armee pissen, / sie genau in dem Moment mit meiner gelblichen Flüssigkeit überfluten, da die Schießwut sie packt."
Allerdings weiß Laor sehr wohl zu differenzieren zwischen solch allgemeinen Anklagen und der Komplexität individueller Charaktere. Sein Romanpersonal läßt sich nicht in ein Schwarz-Weiß-Schema einordnen, sondern führt ein schillerndes Eigenleben, was nicht zuletzt der vielperspektivischen Anlage des Buches geschuldet ist. Wer etwa ist dieser Adam Lotem, der sich in seinen Frauengeschichten verliert und der schönen Shulamit verfallen ist? Ist er ein rücksichtsloser Egoist und brutaler Karrierist, "der große Stratege in Sachen Unterdrückung kommender palästinensischer Revolten", "der die Todesschwadronen eingeführt hat", oder ist er aufrichtig von Schuldgefühlen geplagt und versucht in einer letzten großen Aktion, sein Lebenswerk und damit den von ihm aufgebauten Gewaltapparat zu zerstören? Ist er am Ende nur zu feige zum Handeln, wenn er meint, daß sein Ausscheiden nichts an der "Maschinerie" ändert, die Gewaltspirale längst nicht mehr an bestimmte Personen gebunden ist, oder zeigt er damit nicht genau jene Einsicht in die Strukturen des Apparats, die der letztlich scheiternden Shulamit fehlt?
Die unvorhersehbaren Auswirkungen jeglichen noch so gut gemeinten Handelns muß er jedenfalls am eigenen Leib erfahren. Sein bester Freund Dudu verunglückt mit dem Helikopter, als er ihn statt zu einem Sexabenteuer zu seiner Frau zurückruft, und Jonathan, den er auf Bitten seiner Mutter vom Kampfeinsatz befreien möchte, begeht Selbstmord, als er von seiner Degradierung erfährt. Ähnlich doppelbödig, dialektisch geht es bei näherem Hinsehen fast durchgehend zu. In unerhört scharfer Form wird etwa die ständige Zitierung des Holocaust als Verabsolutierung des eigenen Leids, die für fremdes Leid blind mache, angegriffen, und doch gibt es zahlreiche Figuren in dem Roman, die vom Holocaust gezeichnet sind, die der persönlichen oder familiären Erinnerung nicht Herr werden. Immer wieder geht es um Familienschicksale, um Generationengeschichten, um sich überlagernde Erinnerungsbilder, seien es solche der Vertreibung, der Auslöschung oder des Exils.
Laor hat einen großartigen Roman über das gegenwärtige Israel, seine Zerrissenheit und Identitätssuche, seine nationalen Mythen und politischen Verfehlungen geschrieben. Die Lektüre fordert ein Höchstmaß an Konzentration, mutet dem Leser einiges zu. Eine Zumutung jedoch, die sich lohnt, denn einfacher ist die Wirklichkeit nicht zu haben.
THOMAS MEISSNER
Yitzhak Laor: "Ecce homo". Roman. Aus dem Hebräischen übersetzt von Markus Lemke. Unionsverlag, Zürich 2005. 603 S., geb., 24,90 [Euro].
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Die große Verweigerung: Yitzhak Laors israelischer Zeitroman
Tel Aviv im Jahre 1990: Ariel Gold, Professor für die Geschichte des Volkes Israel, besorgt der Familie seiner Tochter Gasmasken "der besten Marke auf der Welt" angesichts des bevorstehenden Irak-Krieges. Sein sexbesessener Kollege Morris Holz, der seine Professur einem grotesken Mißverständnis verdankt, gerät bei einer nächtlichen Autofahrt an eine zwitterhafte Prostituierte. Adam Lotem, General der israelischen Armee, jagt der phantomhaften Shulamit nach, die er bei seinen Kunstgeschichtsstudien kennengelernt hat. Jonathan Eybeschitz weigert sich zu sprechen, bis seine Eltern ihm erlauben, sich freiwillig zu einer Eliteeinheit melden zu dürfen.
Man könnte diese Aufzählung nahezu endlos fortführen, bis man alle Figuren und Parallelhandlungen vorgestellt hätte, die Yitzhak Laor in seinem 2002 im hebräischen Original erschienenen Roman "Ecce homo" kunstvoll miteinander verbindet. Die komplexe Romanwelt steht für eine ebenso komplexe wie widersprüchliche Wirklichkeit, ohne daß es Laor im geringsten um so etwas wie eine naive Abbildhaftigkeit der Literatur ginge. Am Kunstcharakter der fiktionalen Welt lassen schon die mehrfachen Einschübe des Erzählers keinen Zweifel, der freilich die meiste Zeit den Leser mit dem von ihm verantworteten "Durcheinander" allein läßt: "Wir werden verfahren, wie Geschichtenerzähler zu allen Zeiten verfahren sind, werden Allgemeines mit Einzelheiten vermischen, werden manchmal auch zurückgehen, um die Dinge in ihrem Werden darzustellen, da wir kein Recht - und auch keine Lust - haben, Tatsachen zu übermitteln, wie sie wirklich sind, denn wie gefährlich ist die Realität, wenn sie nicht entsteht."
Gravitationszentrum des Buches ist der alternde General Adam Lotem. Um ihn herum gruppieren sich die meisten Figuren und Einzelgeschichten, wenngleich diese stets eine Tendenz zur Verselbständigung haben. Mit den Kriegstaten und Liebesaffären des Generals sind zudem die beiden wichtigsten thematischen Motive des Romans verknüpft, Militarismus und Sexualität. An drastischer Deutlichkeit mangelt es diesbezüglich nicht. Laor gibt die Führungsspitze des Landes, die Generalität, die Politiker, die Universitätsprofessoren, der Lächerlichkeit preis, stellt sie schonungslos bloß. Alt gewordene, in Obszönitäten schwelgende, unfähige Männer, die in zahllose Verbrechen verwickelt sind, stehen an der Spitze des Staates.
Entsprechend ätzend fallen seine Kommentare zu einzelnen historischen Ereignissen oder politischen Aktionen aus. Die Armee gilt als "verfettet, schlampig und arrogant", der Irak-Krieg als "der größte Bluff unserer Geschichte", und über Israel und die Palästinenser heißt es: "Was haben wir hier aufgebaut? Ein Leben auf ihrem Blut." Kein Wunder, daß Laor, von dem bisher nur der Roman "Steine, Gitter, Stimmen" in deutscher Übersetzung vorliegt, in seiner Heimat als einer der schärfsten Kritiker Israels sehr umstritten ist. Ihren Höhepunkt finden seine Invektiven in einem fäkalischen Gedicht, das der Kriegsdienstverweigerer Antebi während seiner Haft verfaßt haben soll: "Hätt ich einen so großen Schwanz wie die Überlandwasserleitung, würd ich auf die Armee pissen, / sie genau in dem Moment mit meiner gelblichen Flüssigkeit überfluten, da die Schießwut sie packt."
Allerdings weiß Laor sehr wohl zu differenzieren zwischen solch allgemeinen Anklagen und der Komplexität individueller Charaktere. Sein Romanpersonal läßt sich nicht in ein Schwarz-Weiß-Schema einordnen, sondern führt ein schillerndes Eigenleben, was nicht zuletzt der vielperspektivischen Anlage des Buches geschuldet ist. Wer etwa ist dieser Adam Lotem, der sich in seinen Frauengeschichten verliert und der schönen Shulamit verfallen ist? Ist er ein rücksichtsloser Egoist und brutaler Karrierist, "der große Stratege in Sachen Unterdrückung kommender palästinensischer Revolten", "der die Todesschwadronen eingeführt hat", oder ist er aufrichtig von Schuldgefühlen geplagt und versucht in einer letzten großen Aktion, sein Lebenswerk und damit den von ihm aufgebauten Gewaltapparat zu zerstören? Ist er am Ende nur zu feige zum Handeln, wenn er meint, daß sein Ausscheiden nichts an der "Maschinerie" ändert, die Gewaltspirale längst nicht mehr an bestimmte Personen gebunden ist, oder zeigt er damit nicht genau jene Einsicht in die Strukturen des Apparats, die der letztlich scheiternden Shulamit fehlt?
Die unvorhersehbaren Auswirkungen jeglichen noch so gut gemeinten Handelns muß er jedenfalls am eigenen Leib erfahren. Sein bester Freund Dudu verunglückt mit dem Helikopter, als er ihn statt zu einem Sexabenteuer zu seiner Frau zurückruft, und Jonathan, den er auf Bitten seiner Mutter vom Kampfeinsatz befreien möchte, begeht Selbstmord, als er von seiner Degradierung erfährt. Ähnlich doppelbödig, dialektisch geht es bei näherem Hinsehen fast durchgehend zu. In unerhört scharfer Form wird etwa die ständige Zitierung des Holocaust als Verabsolutierung des eigenen Leids, die für fremdes Leid blind mache, angegriffen, und doch gibt es zahlreiche Figuren in dem Roman, die vom Holocaust gezeichnet sind, die der persönlichen oder familiären Erinnerung nicht Herr werden. Immer wieder geht es um Familienschicksale, um Generationengeschichten, um sich überlagernde Erinnerungsbilder, seien es solche der Vertreibung, der Auslöschung oder des Exils.
Laor hat einen großartigen Roman über das gegenwärtige Israel, seine Zerrissenheit und Identitätssuche, seine nationalen Mythen und politischen Verfehlungen geschrieben. Die Lektüre fordert ein Höchstmaß an Konzentration, mutet dem Leser einiges zu. Eine Zumutung jedoch, die sich lohnt, denn einfacher ist die Wirklichkeit nicht zu haben.
THOMAS MEISSNER
Yitzhak Laor: "Ecce homo". Roman. Aus dem Hebräischen übersetzt von Markus Lemke. Unionsverlag, Zürich 2005. 603 S., geb., 24,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Der Titel der deutschen Ausgabe sei unglücklich gewählt, beginnt Rezensent Carsten Hueck, verweist er doch mehr auf das Neue Testament und die Leidensgeschichte Jesu statt auf die Thora und den Stammvater Adam, wie der israelische Autor es beabsichtigt hat. Man müsse also das "Ecce homo" unter dem Gesichtspunkt der repräsentativen "Stellvertreterschaft" des Einzelnen für die Gattung verstehen. Der für seine ätzende Kritik bekannte und postmodern geschulte Autor montiere Israel "ohne Rücksicht auf bürgerliche Geschmacksnerven zum Panorama menschlichen Leidens". Der Autor erzähle aus einer karrierebetonten Männerwelt, deren Personal kein Mitleid erregt. Die "eigentliche Obszönität" aber ist für den Rezensenten der "Verlust von Würde, die Bedeutungslosigkeit allen Tuns", die eine Auflösung der "Körper und Herzen ankündigt". Ein Schlachtfeld auf sechshundert Seiten ist dieses Buch, konstatiert der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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