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Auf der Flucht vor Rassenunruhen: Chuah Guat Eng führt mit "Echos der Stille" in die blutige Kolonialgeschichte Malaysias.
Ai Lians Tochter gehört zur Generation, die Dinge von der Stange kauft, um sie dann wegzuwerfen. Ihre Eltern unterdessen bewahren ihre wertvollsten Erinnerungen noch auf Papierfotos in einer Keksdose auf. Sie selbst steht irgendwo dazwischen, der Missing Link zwischen Vergangenheit und Zukunft, verzweifelt auf der Suche nach irgendeinem Narrativ, das ihrer Gegenwart einen Sinn verleiht.
Genau so ein Narrativ ist "Echos der Stille" und Ai Lian seine ausgesprochen kluge, selbstreflektierte Ich-Erzählerin. 1994 beschließt die gebürtige Malaysierin, englischsprachig aufgewachsene Nachkommin ethnischer Chinesen, ihrer inzwischen erwachsenen Tochter ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Eine Geschichte, die sie zurückführt zur Kautschukplantage im malaysischen Distrikt Ulu Banir, wo sich 1974 der brutale Mord an einer jungen Frau ereignet; gerade als sie sie mit ihrem Verlobten besucht, dem Erben Michael Templeton.
Über Bande geht es weiter zurück: Ein aus Erinnerungen zusammengesetztes Manuskript dreht die Zeit rückwärts bis in die Vierzigerjahre zu einem zweiten Mord auf der Plantage, diesmal an der Ehefrau des damals noch jungen Plantagenbesitzers Jonathan Templeton. "Im März 1970 verließ ich Malaysia als direkte Reaktion auf die Rassenunruhen vom Mai 1969." Mit diesem Satz beginnt "Echos der Stille", 1994 von Chuah Guat Eng als erster englischsprachiger Roman einer malaysischen Autorin ursprünglich im Selbstverlag herausgebracht.
Nach den Wahlen 1969 brachen, am Ende des Buches hilfreich von Zeittafel und Glossar umrissen, blutige Unruhen in Kuala Lumpur aus, die sich gegen die Malaysier chinesischer Herkunft richteten und politische Reformen nach sich zogen: Fortan wurden die ethnischen Malaysier bevorzugt. Für die übrige Bevölkerung tat sich ein bis heute nicht gefülltes kulturelles Vakuum auf, eine Phase existenzieller Unsicherheit.
Die Figur der Ai Lian spiegelt, wie sich solche historischen Ereignisse auf individuelle Lebensläufe auswirken. 1970 lernt sie im Studium in München einen englischen Plantagenerben kennen und kehrt mit ihm wenige Jahre später als Gast in ihr Heimatland zurück. Ihr Blick auf die Morde in Ulu Banir ist der einer Außenseiterin, überdurchschnittlich gut informiert zwar, aber dennoch. Die gefühlte Objektivität weicht irgendwann Sympathien und latenten Abneigungen, eigenen Vorurteilen, aber auch diese Prozesse denkt Ai Lian mit, nicht ohne gelegentliche Kostproben ihrer zersetzenden Ironie: "Er warf mir einen Seitenblick zu", beobachtet sie einmal den greisen Jonathan, eine altehrwürdig-gütige Kolonialherrenfigur. "Als wolle er sagen: Wen kümmert es, was der Arzt sagt, wissen Sie nicht, dass in Ulu Banir jeder tut, was ich sage? Und dann verlor er das Bewusstsein und sank zu Boden."
Immer mehr löst sich Ai Lian aus ihrer anfänglichen Starre, versucht den Morden auf die Spur zu kommen, und währenddessen verändert sich auch die Beziehung zu ihrem Verlobten, der wie jede Figur in "Echos der Stille" früher oder später zum Kreis der Verdächtigen zählt. Zunächst sind es nur winzige Misstöne, die das Ungleichgewicht in ihrem Verhältnis andeuten, ein geschenkter Armreif, den sie trägt, obwohl er ihr Handgelenk schmerzt. Später spricht sie von Masken, die sie in seiner Gegenwart trägt, obwohl sie ihr vorn und hinten nicht passen. Chuah Guat Eng ist eine Meisterin darin, solche grundverschiedenen Lebensrealitäten in kräftigen Farben zu skizzieren: vom erwachenden kulturellen Bewusstsein einer gebildeten ExilMalaysierin bis zur Panik am Vorabend der japanischen Invasion der Malaiischen Halbinsel 1941. Dazwischen Reißschwenks auf das Leben einer Schweinehirtin, auf den inneren Konflikt eines kleinen Angestellten, der in der Loyalität gegenüber den weißen Arbeitgebern die Chance auf eine bessere Zukunft sieht und doch abgestoßen ist ob der Selbstverständlichkeit, mit der sie auf seinem angestammten Land das Sagen haben.
So setzt sich ein Mosaik (post)kolonialer malaysischer Sensibilitäten im zwanzigsten Jahrhundert zusammen, das vielleicht am ehesten mit Werner Herzogs Konzept der "ekstatischen Wahrheit" zu erfassen ist: einer tieferen Schicht von Wahrheit, die sich nicht nur an Fakten aufhält, die vielmehr durch Stilisierung, Erfindung erreicht wird. Zentraler als die Wahrheitssuche scheint der Autorin ohnehin: überhaupt Worte zu finden.
Das titelgebende Motiv der Stille zieht sich als roter Faden durch ihr Werk: Als Kontrapunkt zum musikalischen Klang, als psychosomatisches Trauma, als zwischenmenschliche Unfähigkeit zu kommunizieren ("Iss mehr und sprich weniger, sagte meine Mutter."), als Instrument staatlicher Kontrolle. Dass Ai Lian diese Stille bricht, indem sie ohne Not zwei Morde neu aufrollt, erfüllt für sie auch eine therapeutische Funktion. Der Krimiplot als Aufarbeitung, als, so nennt es eine von Chuah Guat Engs Figuren, "Wachstumshilfe" für künftige Generationen. KATRIN DOERKSEN
Chuah Guat Eng: "Echos der Stille". Roman.
Aus dem Englischen von Michael Kleeberg.
Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2022.
464 S., geb., 28,- Euro.
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