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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Wolf Lotter über das Ringen um Authentizität
Dass die Pizza nordamerikanische Nachhilfe brauchte, um zum italienischen Nationalgericht zu werden, hat sich herumgesprochen. Auch Parmesan wurde erst in Wisconsin wiederentdeckt, bevor der Hartkäse die Küche des Ursprungslandes wieder bereichern konnte. Und die Soßen? Carbonara kommt ebenfalls aus den Vereinigten Staaten, Tomatensoße wurde lange Zeit in Italien als "salsa spagnola" geführt. Diese - für manchen unangenehmen - Fakten zur Kulinarik hat der Wirtschaftshistoriker Alberto Grandi gesammelt, bevor er ein Buch darüber schrieb und einen viel gehörten Podcast aufnahm.
Für den Wirtschaftsessayisten, Publizisten und Journalisten Wolf Lotter sind das willkommene Beispiele auf dem Weg zu Antworten auf die Frage, welche Rolle das Echte in einer Welt der Fälschungen künftig spielen wird. In einer Epoche, in der Volkswagen über länger zurückliegende Cyberattacken aus China berichten muss, in der exklusive Musikkonzerte den Wert von Edelsteinen annehmen und in der auf Tiktok das digitale Kulturgut eines Jahrhunderts millionenfach auseinandergenommen und wieder neu zusammengesetzt wird, kommt dem Echten eine zentrale Bedeutung zu. "Die Menschen haben die Konserven satt. Sie wollen Frischware", schreibt Lotter in seinem aktuellen Buch "Echt - Der Wert der Einzigartigkeit in einer Welt der Kopien".
Lotter hat sich einen Namen gemacht als Leitessayist des Wirtschaftsmagazins "Brand Eins", freier Autor deutscher und österreichischer Medien und Buchautor. Sein zentrales Thema ist das Nachdenken über die Transformation - allerdings nicht im heute geläufigen engeren Verständnis als Wandel zu einer ressourcenschonenderen Welt, sondern als eine Hinwendung der alten Industriewelt zu einer Wissensökonomie. Den Akteuren dieses Wandels, Managern, Politikern und Arbeitnehmern, wirft er vor, dass sie dessen Konsequenzen noch nicht ausreichend verinnerlicht haben. Dazu zählt auch ein mangelndes Verständnis über den zentralen Wert des Echten für Wohlstand und Innovation. Innovationsfeindlichkeit sei die Folge, Veränderungen würden von weiten Teilen der Gesellschaft abgelehnt, es habe sich "Neufeindlichkeit als kulturelles Prinzip" breitgemacht.
Lotter ist ein begnadeter Erzähler. Er hat eine starke Meinung und eine starke These, aber er ist nicht so einfallslos, sie dem Leser allzu früh aufzutischen. Elegant lenkt er durch Beispiele von Echtheit aus Antike, Renaissance, napoleonischem Zeitalter und dem heutigen globalisierten Konsumkapitalismus. Spielerisch greift er auf Kunst- und Filmgeschichte, Popmusik und Industrie zurück. Dabei sei das Zeitalter nach dem Zweiten Weltkrieg durch den Massenkonsum geprägt gewesen. "Nach wie vor leben wir aber in und für das Massenhafte, die Menge, die Quantität. Dabei ist, als Gesellschaft wie im globalen Konkurrenzkampf betrachtet, ein schnelles, gründliches Umschwenken auf Qualität, Originalität und Innovationsfähigkeit nötig."
Entwickelt Lotter anfangs mit historischen Bezügen eine Kulturgeschichte der Authentizität, zieht er die argumentativen Zügel später fester an. Deutsche Manager hätten leichtfertig den Kern ihrer Innovationskraft, das Bemühen um das Hochwertige und Echte, an chinesische Produktionsbetriebe weitergereicht und damit Pekings großen Plan unterstützt, übers Kopieren selbst wieder zum Schlüssel für das Echte zu gelangen. "Während hier um den falschen Fuffziger des vermeintlich echten 'Made in Germany' gefeilscht wird, breiten die Chinesen eine nachvollziehbare Qualitätsstrategie aus, die zur Wissensökonomie passt", schreibt er.
Im Verlauf seines Buchs bemüht sich der Autor, seine Leser aufzurütteln, ihnen Bewusstsein für die eigene Kritikfähigkeit einzuschärfen, das Echte vom Falschen wieder unterscheiden zu lernen. Künstlicher Intelligenz werde man nicht ausweichen können, aber es gebe keinen Grund, sich vor ihr zu fürchten. Offenheit für Technologien, Respekt vor den Schöpfern geistigen Eigentums gehöre dazu. Der Ansatz "Fake it till you make it" sei ein einfaches Mittel, in der Aufmerksamkeitsökonomie zu punkten. In der Wissensökonomie aber gelten seiner Auffassung nach andere Regeln. Deshalb müsse noch viel stärker ins Denken investiert werden, "ins Herauskriegen, damit danach das, was wir mit den Erkenntnissen anstellen, die Welt umso leichter und zugänglicher macht".
"Echt" springt mühelos zwischen den Disziplinen und folgt einer Erzählung, die das Bemühen um das Authentische zu einer zentralen Funktion des Wirtschaftens in einer Wissensgesellschaft beschreibt. Auf dem Weg lässt sich allerlei Bildungsgut aus mehr als 2000 Jahren Wirtschaftsgeschichte einsammeln. Eine Blaupause dafür, wie Unternehmen innovativ sein können, um im Wandel zu bestehen, ist das noch nicht. Aber es versucht, scheinbar voneinander getrennte Sphären der digitalisierten Globalisierung in einen Sinnzusammenhang zu bringen. Damit gelingt es Lotter, einige Charakteristika des KI-Tiktok-Taylor-Swift-Tesla-Zeitalters sauber herauszuarbeiten. PHILIPP KROHN
Wolf Lotter: Echt: Der Wert der Einzigartigkeit in einer Welt der Kopien, Econ, Berlin 2024, 224 Seiten, 23 Euro.
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