Die Geschichte einer großen Liebe und eine unvergessliche Schilderung Russlands zu Beginn des 20. Jahrhunderts: 1917 begegnet der verträumte Kolja im vorrevolutionären St. Petersburg der bezaubernden Claire und verliebt sich in sie. Aber das Phantasiebild dieser Frau ist für ihn so viel wirklicher als die Realität, dass er ihr nicht zu folgen wagt, als die verheiratete Claire ihn eines Abends zu sich lädt. Nach der langen, sinnlosen Grausamkeit des Bürgerkriegs will er nun, Jahre später, Claire im Pariser Exil wiederfinden. Mit den Mitteln des modernen Erzählens erweckt Gaito Gasdanow die vergangene Welt seiner Jugend wieder zum Leben. Ein Abgesang auf die romantische Liebe, der bis heute ergreift und berührt.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Absolut hingerissen ist Andreas Isenschmid von diesem jetzt in deutscher Übersetzung wiederzuentdeckendem kleinen Roman des fast vergessenen russischen Autors Gaito Gasdanow, der 1926 erstmals im Pariser Exil erschien. Der Ich-Erzähler Kolja erzählt darin sein von seinem Leben, von seiner schmerzvoll erlebten Distanz seines Inneren zur Außenwelt und von einer leidenschaftlichen Liebesbeziehung, die über den Hauptteil des Romans aus der Erinnerung rekapituliert wird. Besonders intensives Glück bei der Lektüre empfindet der Rezensent bei den Passagen, in denen Kolja diese Trennung von innen und außen erlebt, die auch die erfahrungsgesättigsten sind, wie Isenschmid betont. Aber ebenfalls einen großen Reiz üben die Erzählungen aus dem vorrevolutionären Russland auf ihn aus, und mitunter will dem begeisterten Rezensenten dieser Roman in seiner kaleidoskopartigen Darstellungsweise scheinen wie ein "kubistisches Gemälde".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.02.2014Halb zog sie ihn, halb sank er hin
Große Liebe, spät erhört: Mit "Ein Abend bei Claire" wird die Wiederentdeckung des russischen Schriftstellers Gaito Gasdanow fortgesetzt.
Eigentlich ist die Geschichte bereits nach wenigen Seiten an ihr Ende gekommen: Der junge Kostja, ein Russe im französischen Exil, trifft in Paris die nur wenig ältere Claire. Seit der ersten Begegnung der beiden zehn Jahre zuvor im Russland der Revolutionszeit ist Kostja in Claire verliebt. Nun umarmt ihn die junge Frau unvermittelt, Kostja landet endlich in ihrem Bett, und während er später die Schlafende betrachtet, murmelt Claire zwischen zwei Träumen, Kostja solle nun endlich einschlafen, sonst werde er am nächsten Tag noch müde sein.
Kostja schläft aber nicht. Stattdessen holen ihn die Erinnerungen ein: an die in Russland verbrachte Kindheit und frühe Jugend, an den Bürgerkrieg, den er auf der Seite der Weißen mitgemacht hat, und an die Flucht nach Konstantinopel. Kostjas Geschichte ist geprägt vom Verlust der liebsten Angehörigen, bis von der einst fünfköpfigen Familie nur noch der Junge und seine Mutter übrig bleiben, deren Trauer um den Mann und die beiden Töchter sie geradezu versteinern lässt. Und von einer ganz eigenen Reaktion, die der Junge wach an sich beobachtet und später sezierend beschreibt: Kostja erweist sich buchstäblich als fortwährend aus der Zeit gefallen und führt eine Art asynchrones Leben.
"Bis ich den Sinn eines Ereignisses begriff, verging manchmal viel Zeit, und erst, wenn es meine Sinneswahrnehmung überhaupt nicht mehr beeinflusste, erlangte es die Bedeutung, die es hätte haben müssen, als es eintrat." Diese Verfasstheit, sagt Kostja aus der Rückschau, "war zuletzt der Grund für mein großes Unglück, die seelische Katastrophe, die sich bald nach meiner ersten Begegnung mit Claire ereignen sollte". Die nämlich lebt in jenen Jahren mit ihren Eltern und ihrer Schwester in Russland, heiratet dort sogar einen reichen Kaufmann und macht Kostja dennoch Avancen, die er nicht zu deuten weiß - jedenfalls nicht in dem Moment, in dem Claire ihre Signale gibt. Man geht kaum fehl, wenn man nahezu alles, was Kostja im Verlauf dieses Romans unternimmt, als Versuch wertet, diesen Zwiespalt von innerer und äußerer Existenz aufzulösen. Und sei es, indem er sehr jung und ohne eine große Neigung zu einer der beiden Parteien in den russischen Bürgerkrieg zieht.
Als vor eineinhalb Jahren bei Hanser der Roman "Das Phantom des Alexander Wolf" von Gaito Gasdanow erschien, war das eine Sensation. Der zuvor in Deutschland völlig unbekannte Autor erntete mit dem 1947 erstmals erschienenen raffinierten Erinnerungsroman begeisterte Kritiken, und die Tatsache, dass Gasdanow, der 1971 in München starb, insgesamt neun Romane und zahlreiche Novellen geschrieben hat, weckte hohe Erwartungen auf weitere Übersetzungen - vor allem hinsichtlich seines 1927 verfassten, 1930 erstmals publizierten Romans "Ein Abend bei Claire", der den literarischen Durchbruch des im französischen Exil lebenden Autors bedeutete.
Dieser Tage nun ist das Buch erstmals auf Deutsch erschienen. Wer sich einen zweiten Roman mit derart abgründiger äußerer Handlung wie "Das Phantom des Alexander Wolf" erhoffte, wird sich enttäuscht sehen. Wer aber der besonderen Erzählkunst des Autors und seiner Ergründung von Erinnerungen und Perspektiven verfallen ist, der findet auch in dem frühen Roman des damals vierundzwanzigjährigen Autors genügend Gründe, das Buch nicht mehr aus der Hand zu legen. Denn wie Gasdanow hier mit autobiographischen Elementen einen dezidiert realismusfernen Text schafft, in dem sich Erlebnis und Gedankenwelt aufs schönste gegenseitig durchdringen, ist meisterlich - etwa, wenn er im Fiebertraum seines diphtheriekranken Erzählers Erinnerungen an die jüngste Vergangenheit ebenso aufscheinen lässt wie surreale Momente, die das Erlebte verfremden.
Formal ist Gaito Gasdanow ganz der Perspektive seines Erzählers verpflichtet, wir sehen die Welt einzig aus Kostjas Augen, dies allerdings gebrochen in der Reflexion des mittlerweile um zehn Jahre älter gewordenen Exilanten. Es geht ihm um die Vermittlung zweier Zeitebenen, um die Frage, was sich zwischen der letzten Begegnung mit Claire in Russland und der ersten Wiederbegegnung in Paris verändert hat und wie sich der Abgrund zwischen den Zeiten überbrücken ließe. Lassen sich Vorzeichen aus der Vergangenheit gewinnen, worin besteht die Ursache für das asynchrone Erleben, und ist die unerwartete Liebesnacht mit Claire ein Korrektiv für die damals versäumte oder ist umgekehrt das eine die notwendige Folge des anderen?
Kostja also überlässt sich alldem, während Claire neben ihm schläft, erlebt aufs Neue die Zeit als Kadett und als Gymnasiast, den Tod des Vaters und die Scham, wenn er den Ansprüchen der Mutter nicht genügt. Er vergräbt sich wieder in seiner Lektüre, legt sich eine Maske für Mitschüler und Lehrer zu und hadert mit der "Unzuverlässigkeit meines eigenen Phantoms", weil er sich selbst zu verlieren droht.
In Gaitanows Novelle "Schwarze Schwäne" aus dem Jahr 1930, die im Dezemberheft der Zeitschrift "Sinn und Form" erstmals auf Deutsch erschienen ist, findet ein Protagonist für das umfassende Gefühl der Sinnlosigkeit nur den Ausweg des angekündigten Selbstmordes - das Einzige, was ihm etwas bedeutet, sind die australischen schwarzen Schwäne, sagt er dem Erzähler kurz vor seinem Tod. Und dass er "eigentlich nach Australien" reise.
In "Ein Abend bei Claire" tauchen die Sehnsuchtstiere ebenfalls auf, im Atelier eines schüchternen Malers und auf einem Aquarell in Claires Zimmer, Todessymbole auch hier. Kostja aber glaubt unerschütterlich an ein glückliches Ende seiner Hinwendung zu Claire, im Krieg, auf der Flucht, im Exil. Und so könnte der Roman für Kostja zu keinem besseren Punkt abbrechen als äußerlich neben der schlafenden Claire, innerlich auf dem Schiff, das ihn nach Westen trägt, Richtung Paris. Beides fällt in eins. In diesem Moment, so stellt man sich vor, kann der Schlaf kommen.
TILMAN SPRECKELSEN
Gaito Gasdanow: "Ein Abend bei Claire". Roman.
Aus dem Russischen von Rosemarie Tietze. Carl Hanser Verlag, München 2014. 192 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Große Liebe, spät erhört: Mit "Ein Abend bei Claire" wird die Wiederentdeckung des russischen Schriftstellers Gaito Gasdanow fortgesetzt.
Eigentlich ist die Geschichte bereits nach wenigen Seiten an ihr Ende gekommen: Der junge Kostja, ein Russe im französischen Exil, trifft in Paris die nur wenig ältere Claire. Seit der ersten Begegnung der beiden zehn Jahre zuvor im Russland der Revolutionszeit ist Kostja in Claire verliebt. Nun umarmt ihn die junge Frau unvermittelt, Kostja landet endlich in ihrem Bett, und während er später die Schlafende betrachtet, murmelt Claire zwischen zwei Träumen, Kostja solle nun endlich einschlafen, sonst werde er am nächsten Tag noch müde sein.
Kostja schläft aber nicht. Stattdessen holen ihn die Erinnerungen ein: an die in Russland verbrachte Kindheit und frühe Jugend, an den Bürgerkrieg, den er auf der Seite der Weißen mitgemacht hat, und an die Flucht nach Konstantinopel. Kostjas Geschichte ist geprägt vom Verlust der liebsten Angehörigen, bis von der einst fünfköpfigen Familie nur noch der Junge und seine Mutter übrig bleiben, deren Trauer um den Mann und die beiden Töchter sie geradezu versteinern lässt. Und von einer ganz eigenen Reaktion, die der Junge wach an sich beobachtet und später sezierend beschreibt: Kostja erweist sich buchstäblich als fortwährend aus der Zeit gefallen und führt eine Art asynchrones Leben.
"Bis ich den Sinn eines Ereignisses begriff, verging manchmal viel Zeit, und erst, wenn es meine Sinneswahrnehmung überhaupt nicht mehr beeinflusste, erlangte es die Bedeutung, die es hätte haben müssen, als es eintrat." Diese Verfasstheit, sagt Kostja aus der Rückschau, "war zuletzt der Grund für mein großes Unglück, die seelische Katastrophe, die sich bald nach meiner ersten Begegnung mit Claire ereignen sollte". Die nämlich lebt in jenen Jahren mit ihren Eltern und ihrer Schwester in Russland, heiratet dort sogar einen reichen Kaufmann und macht Kostja dennoch Avancen, die er nicht zu deuten weiß - jedenfalls nicht in dem Moment, in dem Claire ihre Signale gibt. Man geht kaum fehl, wenn man nahezu alles, was Kostja im Verlauf dieses Romans unternimmt, als Versuch wertet, diesen Zwiespalt von innerer und äußerer Existenz aufzulösen. Und sei es, indem er sehr jung und ohne eine große Neigung zu einer der beiden Parteien in den russischen Bürgerkrieg zieht.
Als vor eineinhalb Jahren bei Hanser der Roman "Das Phantom des Alexander Wolf" von Gaito Gasdanow erschien, war das eine Sensation. Der zuvor in Deutschland völlig unbekannte Autor erntete mit dem 1947 erstmals erschienenen raffinierten Erinnerungsroman begeisterte Kritiken, und die Tatsache, dass Gasdanow, der 1971 in München starb, insgesamt neun Romane und zahlreiche Novellen geschrieben hat, weckte hohe Erwartungen auf weitere Übersetzungen - vor allem hinsichtlich seines 1927 verfassten, 1930 erstmals publizierten Romans "Ein Abend bei Claire", der den literarischen Durchbruch des im französischen Exil lebenden Autors bedeutete.
Dieser Tage nun ist das Buch erstmals auf Deutsch erschienen. Wer sich einen zweiten Roman mit derart abgründiger äußerer Handlung wie "Das Phantom des Alexander Wolf" erhoffte, wird sich enttäuscht sehen. Wer aber der besonderen Erzählkunst des Autors und seiner Ergründung von Erinnerungen und Perspektiven verfallen ist, der findet auch in dem frühen Roman des damals vierundzwanzigjährigen Autors genügend Gründe, das Buch nicht mehr aus der Hand zu legen. Denn wie Gasdanow hier mit autobiographischen Elementen einen dezidiert realismusfernen Text schafft, in dem sich Erlebnis und Gedankenwelt aufs schönste gegenseitig durchdringen, ist meisterlich - etwa, wenn er im Fiebertraum seines diphtheriekranken Erzählers Erinnerungen an die jüngste Vergangenheit ebenso aufscheinen lässt wie surreale Momente, die das Erlebte verfremden.
Formal ist Gaito Gasdanow ganz der Perspektive seines Erzählers verpflichtet, wir sehen die Welt einzig aus Kostjas Augen, dies allerdings gebrochen in der Reflexion des mittlerweile um zehn Jahre älter gewordenen Exilanten. Es geht ihm um die Vermittlung zweier Zeitebenen, um die Frage, was sich zwischen der letzten Begegnung mit Claire in Russland und der ersten Wiederbegegnung in Paris verändert hat und wie sich der Abgrund zwischen den Zeiten überbrücken ließe. Lassen sich Vorzeichen aus der Vergangenheit gewinnen, worin besteht die Ursache für das asynchrone Erleben, und ist die unerwartete Liebesnacht mit Claire ein Korrektiv für die damals versäumte oder ist umgekehrt das eine die notwendige Folge des anderen?
Kostja also überlässt sich alldem, während Claire neben ihm schläft, erlebt aufs Neue die Zeit als Kadett und als Gymnasiast, den Tod des Vaters und die Scham, wenn er den Ansprüchen der Mutter nicht genügt. Er vergräbt sich wieder in seiner Lektüre, legt sich eine Maske für Mitschüler und Lehrer zu und hadert mit der "Unzuverlässigkeit meines eigenen Phantoms", weil er sich selbst zu verlieren droht.
In Gaitanows Novelle "Schwarze Schwäne" aus dem Jahr 1930, die im Dezemberheft der Zeitschrift "Sinn und Form" erstmals auf Deutsch erschienen ist, findet ein Protagonist für das umfassende Gefühl der Sinnlosigkeit nur den Ausweg des angekündigten Selbstmordes - das Einzige, was ihm etwas bedeutet, sind die australischen schwarzen Schwäne, sagt er dem Erzähler kurz vor seinem Tod. Und dass er "eigentlich nach Australien" reise.
In "Ein Abend bei Claire" tauchen die Sehnsuchtstiere ebenfalls auf, im Atelier eines schüchternen Malers und auf einem Aquarell in Claires Zimmer, Todessymbole auch hier. Kostja aber glaubt unerschütterlich an ein glückliches Ende seiner Hinwendung zu Claire, im Krieg, auf der Flucht, im Exil. Und so könnte der Roman für Kostja zu keinem besseren Punkt abbrechen als äußerlich neben der schlafenden Claire, innerlich auf dem Schiff, das ihn nach Westen trägt, Richtung Paris. Beides fällt in eins. In diesem Moment, so stellt man sich vor, kann der Schlaf kommen.
TILMAN SPRECKELSEN
Gaito Gasdanow: "Ein Abend bei Claire". Roman.
Aus dem Russischen von Rosemarie Tietze. Carl Hanser Verlag, München 2014. 192 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Große Liebe, spät erhört: Mit 'Ein Abend bei Claire' wird die Wiederentdeckung des russischen Schriftstellers Gaito Gasdanow fortgesetzt." Tilman Spreckelsen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.02.14
"Dank der großartigen Übersetzerin Rosemarie Tietze spürt man auch auf Deutsch Gasdanows Talent, den richtigen Ton zu treffen." Carmen Eller, Literaturen, März 2014
"Dank der großartigen Übersetzerin Rosemarie Tietze spürt man auch auf Deutsch Gasdanows Talent, den richtigen Ton zu treffen." Carmen Eller, Literaturen, März 2014