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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Wer fragt, lebt noch: Günther Rühle legt ein berührend erinnerungsstarkes Tagebuch vor
Seine eigene Todesanzeige hat er schon entworfen. Oben rechts in der Ecke soll der alte Seneca-Satz stehen: "Alle Dinge sind fremdes Gut, nur die Zeit gehört uns." Das passt zu einem, dessen Körper und Geist kein Alter zu kennen schien. Noch bis vor Kurzem sah man den weit über neunzigjährigen Günther Rühle im Zuschauerraum großer Theater sitzen. Für beiläufigen Small Talk war ihm die Zeit immer zu schade, Rühle wollte stets etwas Interessantes wissen, etwas Wichtiges besprechen. Aber was heißt hier "wollte"? Er will. Siebenundneunzig ist er inzwischen. Nun veröffentlicht er ein neues Buch.
Nein, nicht den von vielen sehnsüchtig erwarteten dritten Band seiner Theatergeschichte; die Arbeit daran musste Rühle wegen einer sich verschärfenden Sehschwäche einstellen und an Hermann Beil, ehemals Dramaturg von Claus Peymann, abgeben. Stattdessen hat er ein Tagebuch geschrieben, das die erlebte Zeit eines halben Jahres, vom September 2020 bis April 2021, in Worte fasst. Es trägt den lakonischen, sogar leicht süffisanten Titel "Ein alter Mann wird älter".
Am Rand des Lebens angekommen, "stillgelegt" und "veraltert", beginnt der Journalist und Theaterhistoriker auf sein Leben zurückzuschauen. "Sich selbst auf die Spur zu kommen", wie er es nennt. Nicht melancholisch, nicht lamentierend, sondern anekdotenreich und pointensicher. Dem alten "Rühleschen Leistungsprinzip" folgend, mit Disziplin und Drang nach vorn, hält er jeden Tag einige Gedanken fest. Die Assoziation und der Rückblick, die Erinnerung und die Kurzreflexion nutzt er abwechslungsreich als Formen seines Memoire.
Es ist vom privaten Rühle heute die Rede, vom alternden, erblindenden Mann, der die Welt bald nur noch wie hinter Milchglas wahrnimmt und sich von einer "Zauberbrille" zur nächsten fiebert, um zwischendurch die Stationen seines eigenen Verfalls kühl wie in einem Logbuch festzuhalten. Der die beschwerlichen Gänge ins Badezimmer zählt und die Tage bis zu seinem hundertsten Geburtstag - am 18. Januar 2021 sind es noch 1258. Und der sich über seine Unfähigkeit ärgert, neue technischen Geräte zu bedienen.
Aber vor allem berichtet Rühle von dem, was er in seinem langen Leben gesehen und an Erfahrungen gesammelt hat. Von der Kindheit in der großväterlichen Bäckerei, dem Grauen der letzten Kriegsjahre, den ersten Anfängen als Journalist. Dabei liegt der Schwerpunkt von Anfang an auf dem Theater. Von 1960 bis 1985 ist Rühle Redakteur im Feuilleton der F.A.Z., von 1974 an dessen Leiter. Der damalige Herausgeber Karl Korn schaffte in dem Blatt Platz für ein liberales Feuilleton, und schnell gerät der junge Rühle zwischen die Fronten: Der Kampf um Brecht etwa, dessen Werk er entschieden verteidigt, bringt ihm im Haus den Ruf eines Linken ein.
Zu Rühles schmerzlichsten Erinnerungen zählt die Amtsenthebung durch den neuen Herausgeber Joachim Fest - der ihn zwar zum Ressortchef ernannte, aber eben gleichzeitig auch zum Verzicht auf sein Liebstes, die Theaterkritik, zwang. Auch ein offener Empörungsbrief von über zwanzig Theatergrößen konnte den leidenschaftlichen Theaterkritiker damals nicht trösten. Die Einschätzung seines Nachfolgers Georg Hensel (auf dessen Beliebtheit er nie neidisch gewesen sei, wie er heute angibt) zu einer "Medea"-Inszenierung hält er nicht aus und veröffentlicht am Tag darauf eine Gegenkritik - fortan darf er nur noch in auflagenschwachen Branchenblättern über sein geliebtes Theater schreiben.
Aus Trotz - oder dem Bewusstsein seines Könnens - lässt er sich Mitte der Achtzigerjahre von der Frankfurter Politik dazu überreden, die Intendanz des Schauspiels zu übernehmen. Rühle wechselt also die Fronten und gerät ins Kreuzfeuer ehemaliger Kollegen. In seine fünfjährige Leitungszeit fällt der Theaterskandal um das als antisemitisch verschriene Fassbinder-Stück "Der Müll, die Stadt und der Tod", aber auch die Entdeckung Einar Schleefs und Martin Wuttkes. Später kommt es zur folgenreichen Begegnung mit Alfred Kerr, in dem Rühle einen Seelenverwandten entdeckt und zu dessen Andenken er gewaltige Forschungsarbeiten leistet.
Nach intensiven Erfahrungen mit Theorie und Praxis bricht Rühle in die schon von Karl Korn empfohlene Selbständigkeit auf und wird bald zum wichtigsten Theaterhistoriker Deutschlands. Ohne Professur, ohne Assistenten schreibt er die Geschichte des dramatischen Geschehens in Deutschland von 1887 bis in die Gegenwart.
Den dritten Band kann er nun nicht mehr fertigstellen - und in vielen Halb- und Nebensätzen nimmt er Abschied von seinem Lebenswerk, identifiziert sich mit dem Historiker Theodor Mommsen, der seine "Römische Geschichte" auch unvollendet ließ, und zählt auf, wen er alles nicht mehr erwähnen können wird. Denn auf ihn und seine Erinnerung haben sich viele, die er überlebt hat, heimlich verlassen. Sein Arbeitsethos und seinen Schaffensdrang begründet Rühle kurz und klar: "Weil ich der letzte Zeuge bin für damals."
Die Erinnerungen werden wirrer im Alter, und auch die Albträume nehmen zu. Immer wieder verfolgt ihn die Szene, wie ihm, dem flakhelfenden Hitlerjungen, ein Obergefreiter im Morgengrauen die befohlene Exekution eines Deserteurs abnimmt. Anders als Rühles schwächelnder Körper ist sein Kopf noch immer in Bewegung: Er erinnert sich an den Auftritt von Bernhard Minetti als Faust, das picklige Gesicht des jungen Thomas Bernhard, seinen zufälligen Nachruf auf Thomas Mann. Als Journalist hat Rühle am geistigen Wiederaufbau der deutschen Öffentlichkeit mitgewirkt und durch seine Besprechungen die Landschaft des deutschen Theaters neu vermessen. Ein guter Kritiker, so resümiert er heute, brauche nicht viel mehr als "Stichwörter und die Gnade der Einfühlung". Als Forscher dagegen sehe man nicht "nur Aufführungen, sondern geistige Vorgänge, die auf das Theater übergreifen".
Günther Rühle: der Bäckersjunge aus Gießen, der nach dem Krieg eine Dissertation über Gryphius verfasste und bald schon zum Anwalt für die Erneuerung des Theaters aufstieg, ohne dabei je den Wert der Chroniken zu vergessen. Siebzig Jahre lang hat er geschrieben "zigtausend Sätze von mindestens 900 Kilometern Länge". Jetzt ist er am Ende der Vorstellung angekommen. Aber die Leute klatschen noch immer, rufen bravo und da capo - also muss er noch einmal nach vorne, auf die Bühne, zum Verbeugen. "Wer fragt, lebt noch", heißt es einmal in diesem Tagebuch. Im Mai 2022 soll zumindest der Rumpf des dritten Bandes erscheinen. Es gibt viele, die darauf warten, dann mit ihm anzustoßen. SIMON STRAUSS
Günther Rühle:
"Ein alter Mann wird älter". Ein merkwürdiges
Tagebuch.
Hrsg. von Gerhard Ahrens. Alexander Verlag, Berlin 2021. 232 S., Abb., geb., 22,90 Euro.
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