»Letztlich war auch die NSU-Mordserie 20 Jahre später nur möglich, weil man sich schon 1980 geweigert hatte, aus dem rechten Terror Schlussfolgerungen zu ziehen.«
Am 19. Dezember 1980 wurden Shlomo Lewin, der ehemalige Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Nürnberg, und seine Lebensgefährtin Frida Poeschke in ihrem Haus in Erlangen erschossen. Statt den Spuren nachzugehen, die zur rechtsextremistischen »Wehrsportgruppe Hoffmann« führten, konzentrierten sich die Ermittler lange auf das Umfeld Lewins. Die genauen Umstände der Bluttat blieben ungeklärt. Kaum ein zeitgeschichtlich bedeutendes Ereignis wurde so aggressiv vergessen wie dieser antisemitische Doppelmord.
Uffa Jensen rekonstruiert die Tat und ihre Hintergründe. Er folgt den Verbindungen zur PLO, in deren Lager die Wehrsportgruppe ausgebildet wurde, beleuchtet die Rolle von deren Gründer, Karl-Heinz Hoffmann, und stellt das Attentat in Bezug zu den weiteren Anschlägen des Jahres 1980, in dem in der Bundesrepublik mehr Menschen durch (rechten) Terror ums Leben kamen als in jedem anderen Jahr. Dabei macht Jensen die Muster im Umgang mit Rechtsterrorismus sichtbar, die sich künftig mehrfach wiederholen sollten – eine bis heute anhaltende Geschichte aus Gewalt, Verharmlosung und Verdrängung.
Am 19. Dezember 1980 wurden Shlomo Lewin, der ehemalige Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Nürnberg, und seine Lebensgefährtin Frida Poeschke in ihrem Haus in Erlangen erschossen. Statt den Spuren nachzugehen, die zur rechtsextremistischen »Wehrsportgruppe Hoffmann« führten, konzentrierten sich die Ermittler lange auf das Umfeld Lewins. Die genauen Umstände der Bluttat blieben ungeklärt. Kaum ein zeitgeschichtlich bedeutendes Ereignis wurde so aggressiv vergessen wie dieser antisemitische Doppelmord.
Uffa Jensen rekonstruiert die Tat und ihre Hintergründe. Er folgt den Verbindungen zur PLO, in deren Lager die Wehrsportgruppe ausgebildet wurde, beleuchtet die Rolle von deren Gründer, Karl-Heinz Hoffmann, und stellt das Attentat in Bezug zu den weiteren Anschlägen des Jahres 1980, in dem in der Bundesrepublik mehr Menschen durch (rechten) Terror ums Leben kamen als in jedem anderen Jahr. Dabei macht Jensen die Muster im Umgang mit Rechtsterrorismus sichtbar, die sich künftig mehrfach wiederholen sollten – eine bis heute anhaltende Geschichte aus Gewalt, Verharmlosung und Verdrängung.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Für Rezensent Patrick Bahners geht Uffa Jensens Enthüllungsvorhaben nicht auf. In seinem Buch möchte der Historiker nach eigener Angabe die Geschichte des antisemitischen Doppelmordes an Shlomo Lewin, dem einstigen Vorsitzenden der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg, und seiner Frau 1980 als "Mentalitätsgeschichte" der BRD um 1980 erzählen und dabei zeigen, wie der Freisprache Karl-Heinz-Hoffmanns eine Kultur des Wegschauens vom Rechtsterrorismus zugrunde lag. Das überzeugt den Kritiker aber aus mehreren Gründen nicht. So sei etwa die Vernachlässigung der antisemitischen Motivation, die Jensen der Staatsanwaltschaft vorwerfe, aus der Quellenlage gar nicht stichhaltig abzuleiten, meint Bahners. Auch die antisemitischen Vorurteile der Tagespresse gegenüber Shlomo Lewin auf die Ermittlungen zu übertragen, hält der Kritiker für falsch. Und schließlich verfährt Jensen für Bahners generell zu nachlässig: aus Quellen werde nur spärlich zitiert, Interviews mit überlebenden Beteiligten gibt es nicht, und einzelne Themenabschnitte fallen deutlich zu oberflächlich aus, moniert Bahners. So handelt es sich für ihn bestenfalls um eine "historische Einordnung mit starken spekulativen Anteilen".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.12.2022Im Zweifel gegen die Ankläger
Volkspsychologie im Namen der Mentalitätsgeschichte: Ein spekulatives Buch über den rechtsterroristischen Doppelmord von Erlangen
Am 30. Juni 1986 verkündete das Landgericht Nürnberg-Fürth das Urteil gegen Karl-Heinz Hoffmann, den Gründer der nach ihm benannten, 1980 verbotenen "Wehrsportgruppe". Wegen diverser Delikte, die insbesondere seine Behandlung der Mitglieder der Gruppe in einem in Kooperation mit der PLO unterhaltenen Lager im Libanon betrafen, wurde Hoffmann zu einer Haftstrafe von insgesamt neuneinhalb Jahren verurteilt; vom Vorwurf des Mordes an Shlomo Lewin und Frida Poeschke wurde er freigesprochen. Der frühere Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg und seine Lebensgefährtin, die Witwe eines Oberbürgermeisters von Erlangen, waren am frühen Abend des 19. Dezember 1980 in Poeschkes Haus in Erlangen erschossen worden. Nach Erkenntnis des Gerichts hatte Uwe Behrendt, der bei Hoffmann auf Schloss Ermreuth in der Nähe von Nürnberg wohnte, dem Anwesen von Hoffmanns mitangeklagter Lebensgefährtin Franziska Birkmann, die tödlichen Schüsse abgegeben. Behrendt war 1981 im Libanon zu Tode gekommen, angeblich durch Selbstmord. Die Anklage warf Hoffmann einen Doppelmord in mittelbarer Täterschaft vor: Er sei am Tatort nicht anwesend gewesen, habe aber den ihm hündisch ergebenen jüngeren Mann als Werkzeug benutzt.
Die Strafkammer sah die Theorie der Staatsanwaltschaft nach 168 Verhandlungstagen nicht als widerlegt an, aber ihr fehlte die für eine Verurteilung erforderliche Gewissheit. Sie sprach, wie der Vorsitzende Richter in der mündlichen Urteilsbegründung darlegte, Hoffmann "trotz erheblicher Bedenken" frei. "Ein Rest an Zweifeln ist nicht auszuräumen."
Der Historiker Uffa Jensen, stellvertretender Direktor des Zentrums für Antisemitismusforschung der TU Berlin, hat ein Buch verfasst, das anhand der ungesühnten Tat die "vergessene Geschichte des Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik" darstellen möchte. Jensen wirft dem Landgericht nicht ausdrücklich ein Fehlurteil vor, sondern stellt Gesichtspunkte zusammen, die ein anderes Resultat der Beweiswürdigung hätten tragen können. Sein eigentliches Interesse gilt unausgesprochenen Voraussetzungen des Urteils, Dispositionen, die erklären könnten, wie die Kammer ihre Zweifel und ihre Bedenken (anders gesagt: ihre Zweifel an den eigenen Zweifeln) zugunsten des Angeklagten austariert hat. Unbefriedigend ist das Urteil nicht nur, weil nie jemand für die Morde bestraft worden ist, sondern auch wegen der Unvollständigkeit der Tatsachenaufklärung. Der angenommene Täter war tot, und der wichtigste Zeuge für die Handlungen und Einlassungen Behrendts nach der Tat war Hoffmann, dem er sich angeblich nach der Rückkehr vom Tatort offenbart hatte.
Der Schütze hatte bei den Leichen eine Sonnenbrille zurückgelassen, die Franziska Birkmann gehörte, aber ihr erst im März 1981 zugeordnet wurde. Hoffmann konnte Behrendts Flucht in den Libanon organisieren und seine eigene Aussage vorbereiten. Die Ermittlungen zogen sich lange hin, ebenso später die Vorbereitung des Prozesses und dann der Prozess selbst. Zu lange? Das suggeriert Jensen.
Er geht von dem gedächtnisgeschichtlichen Befund aus, dass die Tat in der öffentlichen Erinnerung nicht so präsent sei, wie es für den ersten antisemitisch motivierten Mord in Nachkriegsdeutschland angemessen wäre. Der methodische Clou des Buches ist die Überlegung, das Vergessen der rechtsterroristischen Tat habe mit der Verschleppung ihrer Aufklärung begonnen. Die Ermittlungsfehler bedingten so gesehen die Pfadabhängigkeit eines Verhängniszusammenhangs des Wegschauens, der fortgesetzten Unterschätzung des Antisemitismus.
"Von Beginn an", behauptet Jensen, habe man "die Mordanklage auf Heimtücke und niedrige Beweggründe" gestützt, "ohne dass Antisemitismus hierbei eine Rolle" gespielt hätte. Diese Kritik an der Staatsanwaltschaft überzeugt nicht. Der Todesschütze hatte die Arglosigkeit der Opfer ausgenutzt. Insofern die Anklage das eindeutig erfüllte Mordmerkmal der Heimtücke herausstellte, spielte sie die Mordmotive nicht herunter. Das naheliegende Motiv des Antisemitismus sollte bei der Verknüpfung der Tat mit dem Täter seine Rolle spielen. So führte der Anklagevertreter am ersten Prozesstag aus: "Lewin wurde allein deshalb als Opfer ausgewählt, weil er als einer der Repräsentanten der jüdischen Mitbürger im Raum Nürnberg/Erlangen galt, der früher in führenden Positionen im Staat Israel tätig gewesen ist und sich öffentlich als entschiedener Gegner des angeschuldigten Hoffmann exponiert hat."
Nach Jensens Meinung hat die Strafkammer im schriftlichen Urteil, das "mit 1048 Seiten sehr umfangreich, detailliert und faktengesättigt" ausgefallen sei, den Antisemitismus zu kurz abgehandelt. Diese Einschätzung kann man schlecht nachvollziehen, weil Jensens eigener Darstellung des Verfahrens die Merkmale abgehen, die er der Urteilsbegründung bescheinigt. Gerade einmal achtzehn Seiten umfasst das Kapitel "Der Prozess". Abschnitte gleicher Länge referieren im Handbuchstil die Geschichte des Rechtsextremismus oder der PLO. Der Journalist Ulrich Chaussy hat der 2020 bei Aufbau erschienenen vierten Auflage seines investigativen Buches über den Massenmord auf dem Oktoberfest am 26. September 1980 einen Abschnitt über die Morde vom 19. Dezember 1980 hinzugefügt. Demgegenüber bietet Jensen als Fachhistoriker nichts wesentlich Neues.
Seine "historische Rekonstruktion des Erlanger Doppelmords" rekonstruiert nicht das Tatgeschehen und erst recht nicht das Prozessgeschehen mit den Werkzeugen geschichtswissenschaftlicher Quellenkritik. Eher handelt es sich um eine historische Einordnung mit starken spekulativen Anteilen. Nur summarisch hat Jensen die Prozessberichterstattung ausgewertet, äußerst knapp zitiert er aus den Akten. Er "möchte die Geschichte des Erlanger Doppelmords als eine Mentalitätsgeschichte der bundesrepublikanischen Gesellschaft um 1980 erzählen". Das ist ein kühnes Vorhaben; ein Stück Mentalitätsgeschichte wäre schon anspruchsvoll genug gewesen.
Jensen stellt eine Erklärung dafür in Aussicht, dass "1980 fast alle" die Ursache der Ermordung Lewins im angenommenen "zwielichtigen Charakter" des jüdischen Opfers gesucht hätten, aber diese Beschreibung des zu untersuchenden Problems ist eine Übertreibung, die durch die Darstellung nicht eingelöst wird. Frühe Mutmaßungen der Behörden über mögliche Tatmotive, die von der Lokalpresse kolportiert wurden, waren von antisemitischen Klischees durchsetzt, aber dass sie die Ermittlungen dauerhaft auf eine falsche Bahn gesetzt hätten, bleibt ein bloßer Verdacht.
Der Mentalitätshistoriker fragt, was die Ermittler am Tatort gesehen hätten. "Was spielt sich vor ihrem inneren Auge ab?" Wie will Jensen solche Fragen beantworten? Um Interviews mit überlebenden Beteiligten scheint er sich nicht bemüht zu haben. Kollektivpsychologische Vermutungen schließen die Lücke. Um 1980 hätten nichtjüdische Deutsche gerade erst begonnen, "sich in die jüdischen NS-Opfer einzufühlen". Konnten sie da "eines neuen jüdischen Opfers" wie Lewin "gedenken"? Dem Andenken Shlomo Lewins erweist die von der rhetorischen Frage nahegelegte pauschal verneinende Antwort keine Ehre: In den Reden gegen den Rechtsextremismus, mit denen er die Aufmerksamkeit seiner Mörder auf sich zog, stellte er es als selbstverständlich hin, dass eine Lektion aus dem Nationalsozialismus die mitbürgerliche Solidarität mit den Juden ist. PATRICK BAHNERS
Uffa Jensen:
"Ein antisemitischer
Doppelmord". Die vergessene Geschichte des Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 317 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Volkspsychologie im Namen der Mentalitätsgeschichte: Ein spekulatives Buch über den rechtsterroristischen Doppelmord von Erlangen
Am 30. Juni 1986 verkündete das Landgericht Nürnberg-Fürth das Urteil gegen Karl-Heinz Hoffmann, den Gründer der nach ihm benannten, 1980 verbotenen "Wehrsportgruppe". Wegen diverser Delikte, die insbesondere seine Behandlung der Mitglieder der Gruppe in einem in Kooperation mit der PLO unterhaltenen Lager im Libanon betrafen, wurde Hoffmann zu einer Haftstrafe von insgesamt neuneinhalb Jahren verurteilt; vom Vorwurf des Mordes an Shlomo Lewin und Frida Poeschke wurde er freigesprochen. Der frühere Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg und seine Lebensgefährtin, die Witwe eines Oberbürgermeisters von Erlangen, waren am frühen Abend des 19. Dezember 1980 in Poeschkes Haus in Erlangen erschossen worden. Nach Erkenntnis des Gerichts hatte Uwe Behrendt, der bei Hoffmann auf Schloss Ermreuth in der Nähe von Nürnberg wohnte, dem Anwesen von Hoffmanns mitangeklagter Lebensgefährtin Franziska Birkmann, die tödlichen Schüsse abgegeben. Behrendt war 1981 im Libanon zu Tode gekommen, angeblich durch Selbstmord. Die Anklage warf Hoffmann einen Doppelmord in mittelbarer Täterschaft vor: Er sei am Tatort nicht anwesend gewesen, habe aber den ihm hündisch ergebenen jüngeren Mann als Werkzeug benutzt.
Die Strafkammer sah die Theorie der Staatsanwaltschaft nach 168 Verhandlungstagen nicht als widerlegt an, aber ihr fehlte die für eine Verurteilung erforderliche Gewissheit. Sie sprach, wie der Vorsitzende Richter in der mündlichen Urteilsbegründung darlegte, Hoffmann "trotz erheblicher Bedenken" frei. "Ein Rest an Zweifeln ist nicht auszuräumen."
Der Historiker Uffa Jensen, stellvertretender Direktor des Zentrums für Antisemitismusforschung der TU Berlin, hat ein Buch verfasst, das anhand der ungesühnten Tat die "vergessene Geschichte des Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik" darstellen möchte. Jensen wirft dem Landgericht nicht ausdrücklich ein Fehlurteil vor, sondern stellt Gesichtspunkte zusammen, die ein anderes Resultat der Beweiswürdigung hätten tragen können. Sein eigentliches Interesse gilt unausgesprochenen Voraussetzungen des Urteils, Dispositionen, die erklären könnten, wie die Kammer ihre Zweifel und ihre Bedenken (anders gesagt: ihre Zweifel an den eigenen Zweifeln) zugunsten des Angeklagten austariert hat. Unbefriedigend ist das Urteil nicht nur, weil nie jemand für die Morde bestraft worden ist, sondern auch wegen der Unvollständigkeit der Tatsachenaufklärung. Der angenommene Täter war tot, und der wichtigste Zeuge für die Handlungen und Einlassungen Behrendts nach der Tat war Hoffmann, dem er sich angeblich nach der Rückkehr vom Tatort offenbart hatte.
Der Schütze hatte bei den Leichen eine Sonnenbrille zurückgelassen, die Franziska Birkmann gehörte, aber ihr erst im März 1981 zugeordnet wurde. Hoffmann konnte Behrendts Flucht in den Libanon organisieren und seine eigene Aussage vorbereiten. Die Ermittlungen zogen sich lange hin, ebenso später die Vorbereitung des Prozesses und dann der Prozess selbst. Zu lange? Das suggeriert Jensen.
Er geht von dem gedächtnisgeschichtlichen Befund aus, dass die Tat in der öffentlichen Erinnerung nicht so präsent sei, wie es für den ersten antisemitisch motivierten Mord in Nachkriegsdeutschland angemessen wäre. Der methodische Clou des Buches ist die Überlegung, das Vergessen der rechtsterroristischen Tat habe mit der Verschleppung ihrer Aufklärung begonnen. Die Ermittlungsfehler bedingten so gesehen die Pfadabhängigkeit eines Verhängniszusammenhangs des Wegschauens, der fortgesetzten Unterschätzung des Antisemitismus.
"Von Beginn an", behauptet Jensen, habe man "die Mordanklage auf Heimtücke und niedrige Beweggründe" gestützt, "ohne dass Antisemitismus hierbei eine Rolle" gespielt hätte. Diese Kritik an der Staatsanwaltschaft überzeugt nicht. Der Todesschütze hatte die Arglosigkeit der Opfer ausgenutzt. Insofern die Anklage das eindeutig erfüllte Mordmerkmal der Heimtücke herausstellte, spielte sie die Mordmotive nicht herunter. Das naheliegende Motiv des Antisemitismus sollte bei der Verknüpfung der Tat mit dem Täter seine Rolle spielen. So führte der Anklagevertreter am ersten Prozesstag aus: "Lewin wurde allein deshalb als Opfer ausgewählt, weil er als einer der Repräsentanten der jüdischen Mitbürger im Raum Nürnberg/Erlangen galt, der früher in führenden Positionen im Staat Israel tätig gewesen ist und sich öffentlich als entschiedener Gegner des angeschuldigten Hoffmann exponiert hat."
Nach Jensens Meinung hat die Strafkammer im schriftlichen Urteil, das "mit 1048 Seiten sehr umfangreich, detailliert und faktengesättigt" ausgefallen sei, den Antisemitismus zu kurz abgehandelt. Diese Einschätzung kann man schlecht nachvollziehen, weil Jensens eigener Darstellung des Verfahrens die Merkmale abgehen, die er der Urteilsbegründung bescheinigt. Gerade einmal achtzehn Seiten umfasst das Kapitel "Der Prozess". Abschnitte gleicher Länge referieren im Handbuchstil die Geschichte des Rechtsextremismus oder der PLO. Der Journalist Ulrich Chaussy hat der 2020 bei Aufbau erschienenen vierten Auflage seines investigativen Buches über den Massenmord auf dem Oktoberfest am 26. September 1980 einen Abschnitt über die Morde vom 19. Dezember 1980 hinzugefügt. Demgegenüber bietet Jensen als Fachhistoriker nichts wesentlich Neues.
Seine "historische Rekonstruktion des Erlanger Doppelmords" rekonstruiert nicht das Tatgeschehen und erst recht nicht das Prozessgeschehen mit den Werkzeugen geschichtswissenschaftlicher Quellenkritik. Eher handelt es sich um eine historische Einordnung mit starken spekulativen Anteilen. Nur summarisch hat Jensen die Prozessberichterstattung ausgewertet, äußerst knapp zitiert er aus den Akten. Er "möchte die Geschichte des Erlanger Doppelmords als eine Mentalitätsgeschichte der bundesrepublikanischen Gesellschaft um 1980 erzählen". Das ist ein kühnes Vorhaben; ein Stück Mentalitätsgeschichte wäre schon anspruchsvoll genug gewesen.
Jensen stellt eine Erklärung dafür in Aussicht, dass "1980 fast alle" die Ursache der Ermordung Lewins im angenommenen "zwielichtigen Charakter" des jüdischen Opfers gesucht hätten, aber diese Beschreibung des zu untersuchenden Problems ist eine Übertreibung, die durch die Darstellung nicht eingelöst wird. Frühe Mutmaßungen der Behörden über mögliche Tatmotive, die von der Lokalpresse kolportiert wurden, waren von antisemitischen Klischees durchsetzt, aber dass sie die Ermittlungen dauerhaft auf eine falsche Bahn gesetzt hätten, bleibt ein bloßer Verdacht.
Der Mentalitätshistoriker fragt, was die Ermittler am Tatort gesehen hätten. "Was spielt sich vor ihrem inneren Auge ab?" Wie will Jensen solche Fragen beantworten? Um Interviews mit überlebenden Beteiligten scheint er sich nicht bemüht zu haben. Kollektivpsychologische Vermutungen schließen die Lücke. Um 1980 hätten nichtjüdische Deutsche gerade erst begonnen, "sich in die jüdischen NS-Opfer einzufühlen". Konnten sie da "eines neuen jüdischen Opfers" wie Lewin "gedenken"? Dem Andenken Shlomo Lewins erweist die von der rhetorischen Frage nahegelegte pauschal verneinende Antwort keine Ehre: In den Reden gegen den Rechtsextremismus, mit denen er die Aufmerksamkeit seiner Mörder auf sich zog, stellte er es als selbstverständlich hin, dass eine Lektion aus dem Nationalsozialismus die mitbürgerliche Solidarität mit den Juden ist. PATRICK BAHNERS
Uffa Jensen:
"Ein antisemitischer
Doppelmord". Die vergessene Geschichte des Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 317 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Der Historiker Uffa Jensen ... geht der Tat und ihrer strukturell verschleppten Aufklärung nach. Wer dieses Buch aufschlägt, sieht traurige Kontinuitäten und lernt, auch mit Blick auf die 'Reichsbürger'-Szene heute: Der Weg von kruden Verschwörungstheorien zu Taten ist nicht weit.« WELT AM SONNTAG 20221218