Vietnam war Schauplatz zweier Kriege, die zu den längsten und opferreichsten der Geschichte zählen. Éric Vuillard, der die Leser immer wieder mit seinen brillanten Rhapsodien über blitzlichtartig beleuchtete Episoden der Weltgeschichte fesselt, gelingt es auch in dieser neuerlichen Inszenierung, Geschichte unmittelbar fassbar zu machen. Mit wütender Präzision schildert er, wie zwei der größten Mächte der Welt in einer kolossalen Umkehrung der Geschichte gegen ein kleines Volk in ungeheuer verlustreichen Kriegen verlieren. Er erzählt von dem siegreichen Kampf des Unterlegenen und dem Aufstand eines von Kolonialmächten ausgebeuteten und geschundenen Volks. Er lässt das gewaltige Geflecht aus wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen sichtbar werden und erweckt eine ganze Galerie schillernder Figuren zum Leben: Kautschukpflanzer, französische Generäle, ihre Ehefrauen, Politiker, Bankiers. Ein ehrenhafter Abgang ist eine zutiefst beunruhigende menschliche Komödie, die ständig aufs Neue aufgeführt zu werden scheint.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.03.2023Hätte so gewesen
sein können
Wenn der Geschichten- und Geschichte-Erfinder
Éric Vuillard von Frankreichs Kolonialkrieg in Vietnam
erzählt, passt das in ein französisches linkes Weltbild
Auf der Seite 105 des Buches steht der Satz: „Bei der Lektüre dieser Telegramme stellt sich ein unangenehmes Gefühl ein, man ist mit einer eher seltenen Mischung aus Ernsthaftigkeit und Konfusion konfrontiert...“ Bei den genannten Telegrammen geht es um sich manchmal widersprechende Botschaften, die der französische Indochina-Oberbefehlshaber General Henri Navarre im Mai 1954 nach Paris schickte. Allerdings trifft der Satz insgesamt auch für das Buch zu, das der Geschichten- und Geschichte-Erfinder Éric Vuillard über das Ende der französischen Kolonialherrschaft in Indochina – die heutigen Länder Vietnam, Laos und Kambodscha – geschrieben hat. Es ist eine eher seltene, wenn auch für Vuillard typische Mischung aus Ernsthaftigkeit und Konfusion.
Vuillards Ernsthaftigkeit liegt in seinem Weltbild begründet. Er gehört zu jenen spezifisch französischen Linken, die ideologisch vielleicht mit dem westdeutschen Postpost-68er-Flügel der Linkspartei verwandt sind. In Frankreich ist deren bekanntester Protagonist der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon, zu dessen Wahl als Präsidentschaftskandidat Vuillard im vergangenen Jahr gemeinsam mit dem Schriftsteller Pierre Lemaitre („Wir sehen uns dort oben“) und dem Filmregisseur Robert Guédiguian aufgerufen hatte.
Der „ehrenhafte Abgang“ liest sich, fast möchte man sagen: haltungsmäßig, wie eine erweiterte, allerdings nicht ganz so wortmächtige Fassung von Bob Dylans Song „Masters of War“. Vuillards Grundtenor wird ganz gut in diesen Dylan-Zeilen beschrieben: You fasten all the triggers / For the others to fire / Then you sit back and watch / When the death count gets higher (ihr spannt die Abzüge / damit die anderen schießen / dann lehnt ihr euch zurück / und seht zu, wie die Verlustrate steigt). Die „Anderen“ sind bei Vuillard konservative Abgeordnete, die Frankreichs Kolonialreich erhalten wollen; Bankiers, die „skrupellos“ geboren wurden; ehrpusselige, manchmal dumme Generale, die Vuillard gerne mal auch nach körperlichen Merkmalen be- oder verurteilt (besonders angetan hat es Vuillard die Kleinwüchsigkeit eines Generals, dem er außerdem auch noch ein „Reptiliengehirn“ bescheinigt).
Die Konfusion bei der Lektüre von Vuillards Buch stellt sich ein, weil er auf einer dokumentarischen Basis frei und munter Gedanken, Gespräche und Assoziationen der Handelnden erfindet. Wo er es noch deutlicher machen will, lässt er einen indirekten Erklärer sprechen, der nicht als „ich“ oder „er“ auftaucht, gelegentlich aber als „man“: „Man stellt sich den armen General vor, verloren am Ende der Welt...“ Das wiederum gibt dem Buch auch einen deutlichen Anstrich von Feuilleton-Aufsatz. Nun ist der Feuilleton-Aufsatz als solcher eine schätzenswerte Textform. Man darf ihn nur weder mit einem Roman noch mit einer Dokumentation verwechseln.
Wirklich existierenden oder existiert habenden Personen Gedanken, Wörter und Gefühle in Herz, Seele und Mund zu implantieren, gehört zu den Privilegien der Literatur. Belletristik muss nicht „wahr“ sein. Vuillard zielt darauf ab, dass das, was er schreibt, sich so anfühlt, als könnte es wahr sein. Das kann er gut. Er findet durch seine Erfindungen jene Wahrheiten, die zwar nur Möglichkeiten sind, von denen heute aber noch mehr Menschen als früher glauben, dass die „Anderen“ sie verschleiert haben wollen. Je näher eine Leserin oder ein Leser der grundsätzlichen Einstellung, der Haltung von Vuillard steht, desto mehr wird sie oder er in diesem Buch eine literarische und wahre Auseinandersetzung mit dem Frankreich der Fünfzigerjahre, aber auch mit dem Kapitalismus von heute sehen.
Es schadet bei der Lektüre nicht, wenn man gewisse Grundkenntnisse über die französische Kolonialpolitik und deren Akteure hat. Hat man die nicht, liest sich das Buch dennoch prinzipiell gut – solange man mit seinem Grundtenor – das französische Militär hat gegen das vietnamesische Volk einen Krieg der Banken und der Industrie geführt – übereinstimmt.
Hinderlich beim Lesen, ganz unabhängig von der eigenen Haltung, sind seltsame Sprachbilder und manchmal etwas eklige Ausdrücke, die wohl zu gleichen Teilen auf den Autor wie auf die Übersetzerin zurückgehen. Das beginnt bei altmütterlichen Metaphern („... haute einen glatt aus den Socken“) und setzt sich fort über Sprachfetzen, die möglicherweise eine bestimmte Diktion karikieren sollen, aber nur Selbstkarikaturen sind: „Zwei Reporter ... kriegen eine Sprengladung ab. Der eine stirbt, der andere verliert seine Haxe.“ Vollends daneben klingt es manchmal, wenn der Man-Erklärer nachdenkt. Zum Beispiel sinniert er wegen des Namens einer französischen Stellung bei Dien Bien Phu – Beatrice – über Dante und dessen Idealfrau Beatrice. Dante habe „uns“ (wer ist das?) mit dieser Liebe „bücherweise bequatscht“. Dabei habe Dante vielleicht nur „zwischen Tür und Angel sein Dienstmädchen gehobelt“.
Gehobelt? Die Haxe verloren? Das hört sich nach Schülerzeitung an.
KURT KISTER
Ist das Aufsatz,
Dokumentation oder
doch ein Roman?
Die Kolonialarmee ist geschlagen: Die Niederlage in Bien Dien Phu 1954 bedeutete das Ende der Herrschaft Frankreichs über Vietnam.
Foto: AFP
Éric Vuillard: Ein ehrenhafter Abgang. Übersetzt von Nicola Denis. Berlin 2023, Matthes & Seitz. 139 Seiten, 20 Euro
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
sein können
Wenn der Geschichten- und Geschichte-Erfinder
Éric Vuillard von Frankreichs Kolonialkrieg in Vietnam
erzählt, passt das in ein französisches linkes Weltbild
Auf der Seite 105 des Buches steht der Satz: „Bei der Lektüre dieser Telegramme stellt sich ein unangenehmes Gefühl ein, man ist mit einer eher seltenen Mischung aus Ernsthaftigkeit und Konfusion konfrontiert...“ Bei den genannten Telegrammen geht es um sich manchmal widersprechende Botschaften, die der französische Indochina-Oberbefehlshaber General Henri Navarre im Mai 1954 nach Paris schickte. Allerdings trifft der Satz insgesamt auch für das Buch zu, das der Geschichten- und Geschichte-Erfinder Éric Vuillard über das Ende der französischen Kolonialherrschaft in Indochina – die heutigen Länder Vietnam, Laos und Kambodscha – geschrieben hat. Es ist eine eher seltene, wenn auch für Vuillard typische Mischung aus Ernsthaftigkeit und Konfusion.
Vuillards Ernsthaftigkeit liegt in seinem Weltbild begründet. Er gehört zu jenen spezifisch französischen Linken, die ideologisch vielleicht mit dem westdeutschen Postpost-68er-Flügel der Linkspartei verwandt sind. In Frankreich ist deren bekanntester Protagonist der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon, zu dessen Wahl als Präsidentschaftskandidat Vuillard im vergangenen Jahr gemeinsam mit dem Schriftsteller Pierre Lemaitre („Wir sehen uns dort oben“) und dem Filmregisseur Robert Guédiguian aufgerufen hatte.
Der „ehrenhafte Abgang“ liest sich, fast möchte man sagen: haltungsmäßig, wie eine erweiterte, allerdings nicht ganz so wortmächtige Fassung von Bob Dylans Song „Masters of War“. Vuillards Grundtenor wird ganz gut in diesen Dylan-Zeilen beschrieben: You fasten all the triggers / For the others to fire / Then you sit back and watch / When the death count gets higher (ihr spannt die Abzüge / damit die anderen schießen / dann lehnt ihr euch zurück / und seht zu, wie die Verlustrate steigt). Die „Anderen“ sind bei Vuillard konservative Abgeordnete, die Frankreichs Kolonialreich erhalten wollen; Bankiers, die „skrupellos“ geboren wurden; ehrpusselige, manchmal dumme Generale, die Vuillard gerne mal auch nach körperlichen Merkmalen be- oder verurteilt (besonders angetan hat es Vuillard die Kleinwüchsigkeit eines Generals, dem er außerdem auch noch ein „Reptiliengehirn“ bescheinigt).
Die Konfusion bei der Lektüre von Vuillards Buch stellt sich ein, weil er auf einer dokumentarischen Basis frei und munter Gedanken, Gespräche und Assoziationen der Handelnden erfindet. Wo er es noch deutlicher machen will, lässt er einen indirekten Erklärer sprechen, der nicht als „ich“ oder „er“ auftaucht, gelegentlich aber als „man“: „Man stellt sich den armen General vor, verloren am Ende der Welt...“ Das wiederum gibt dem Buch auch einen deutlichen Anstrich von Feuilleton-Aufsatz. Nun ist der Feuilleton-Aufsatz als solcher eine schätzenswerte Textform. Man darf ihn nur weder mit einem Roman noch mit einer Dokumentation verwechseln.
Wirklich existierenden oder existiert habenden Personen Gedanken, Wörter und Gefühle in Herz, Seele und Mund zu implantieren, gehört zu den Privilegien der Literatur. Belletristik muss nicht „wahr“ sein. Vuillard zielt darauf ab, dass das, was er schreibt, sich so anfühlt, als könnte es wahr sein. Das kann er gut. Er findet durch seine Erfindungen jene Wahrheiten, die zwar nur Möglichkeiten sind, von denen heute aber noch mehr Menschen als früher glauben, dass die „Anderen“ sie verschleiert haben wollen. Je näher eine Leserin oder ein Leser der grundsätzlichen Einstellung, der Haltung von Vuillard steht, desto mehr wird sie oder er in diesem Buch eine literarische und wahre Auseinandersetzung mit dem Frankreich der Fünfzigerjahre, aber auch mit dem Kapitalismus von heute sehen.
Es schadet bei der Lektüre nicht, wenn man gewisse Grundkenntnisse über die französische Kolonialpolitik und deren Akteure hat. Hat man die nicht, liest sich das Buch dennoch prinzipiell gut – solange man mit seinem Grundtenor – das französische Militär hat gegen das vietnamesische Volk einen Krieg der Banken und der Industrie geführt – übereinstimmt.
Hinderlich beim Lesen, ganz unabhängig von der eigenen Haltung, sind seltsame Sprachbilder und manchmal etwas eklige Ausdrücke, die wohl zu gleichen Teilen auf den Autor wie auf die Übersetzerin zurückgehen. Das beginnt bei altmütterlichen Metaphern („... haute einen glatt aus den Socken“) und setzt sich fort über Sprachfetzen, die möglicherweise eine bestimmte Diktion karikieren sollen, aber nur Selbstkarikaturen sind: „Zwei Reporter ... kriegen eine Sprengladung ab. Der eine stirbt, der andere verliert seine Haxe.“ Vollends daneben klingt es manchmal, wenn der Man-Erklärer nachdenkt. Zum Beispiel sinniert er wegen des Namens einer französischen Stellung bei Dien Bien Phu – Beatrice – über Dante und dessen Idealfrau Beatrice. Dante habe „uns“ (wer ist das?) mit dieser Liebe „bücherweise bequatscht“. Dabei habe Dante vielleicht nur „zwischen Tür und Angel sein Dienstmädchen gehobelt“.
Gehobelt? Die Haxe verloren? Das hört sich nach Schülerzeitung an.
KURT KISTER
Ist das Aufsatz,
Dokumentation oder
doch ein Roman?
Die Kolonialarmee ist geschlagen: Die Niederlage in Bien Dien Phu 1954 bedeutete das Ende der Herrschaft Frankreichs über Vietnam.
Foto: AFP
Éric Vuillard: Ein ehrenhafter Abgang. Übersetzt von Nicola Denis. Berlin 2023, Matthes & Seitz. 139 Seiten, 20 Euro
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Rezensentin Katharina Teutsch ist begeistert, aber sie vergisst darüber ein bisschen klarzumachen, was in dem Buch eigentlich geschieht. Ein Roman scheint es nicht zu sein, auch wenn Vuillard als Literat gilt und 2017 den Goncourt-Preis bekam. Teutsch schildert ihn als Spezialisten für das "vermaledeite 20. Jahrhundert" und den französischen Anteil daran. Bei kritischen Franzosen sind immer die Eliten an allem schuld, und so sei es auch mit dem Indochinakrieg: "Die französische Finanzbourgeoisie mit ihrer strikten Heiratsordnung hat ihn zusammen mit einer exklusiven Verwaltungselite zu verantworten, die ihre Privilegien zum Teil noch von den Bourbonen ableitet", resümiert Teutsch. Es klingt vielleicht ein bisschen verschwörungstheoretisch, aber natürlich gibt es in Frankreich die von Vuillard beschriebene sehr große Kontinuität der Großbourgeoisie und der Notablen. Und hinzukommen natürlich all die Spekulanten und Minenbesitzer, die nur ans Geld denken. Vuillard habe mal wieder ein tolles Buch zur Devise "Follow the Money" geschrieben, schließt die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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