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Eine tschechische Künstlerfamilie, eine Art Living Theatre, gastiert beim Shakespeare Festival in Großbritannien und wird von Brexit-Anhängern aus dem Land gejagt (LEAVE MEANS LEAVE! NO CZECH VERMIN!). Im Campingwagen reisen sie quer durch Europa, gegen den Strom der Flüchtlinge, Richtung Osten. Sie geraten ins russisch-ukrainische Kriegsgebiet, treffen Gerard Depardieu, klauen ihm seinen BMW und machen sich auf den Heimweg nach Böhmen. Ihre Odyssee führt durchs »Labyrinth der Welt« und ins »Lusthaus des Herzens«.
Als »politischer Gegenwartsroman« wurde Topols neuer Roman in Tschechien
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Produktbeschreibung
Eine tschechische Künstlerfamilie, eine Art Living Theatre, gastiert beim Shakespeare Festival in Großbritannien und wird von Brexit-Anhängern aus dem Land gejagt (LEAVE MEANS LEAVE! NO CZECH VERMIN!). Im Campingwagen reisen sie quer durch Europa, gegen den Strom der Flüchtlinge, Richtung Osten. Sie geraten ins russisch-ukrainische Kriegsgebiet, treffen Gerard Depardieu, klauen ihm seinen BMW und machen sich auf den Heimweg nach Böhmen. Ihre Odyssee führt durchs »Labyrinth der Welt« und ins »Lusthaus des Herzens«.

Als »politischer Gegenwartsroman« wurde Topols neuer Roman in Tschechien gefeiert. Er spielt 2015 und nimmt Motive aus seiner mitteleuropäischen 1989er-Road-Novel Die Schwester auf, mit der Topol als junger Dichter berühmt wurde. Damals reisten seine Helden durch eine Landschaft nach dem Ende des Ost-Westkonflikts, die ihnen die Lavabrocken der Vergangenheit vor die Füße schleuderte - alles war in Bewegung, die einst geschlossenen Gesellschaften brachen auf in eine ungewisse, aber lockende Freiheit.

Sprachgewaltig und karnevalesk ist auch Topols heutige Vermessung Europas. Ein Kontinent, der wieder Mauern hochzieht und sich in nationalistische Träumereien verkriecht, während die Suche nach dem Sinn menschlichen Daseins und der eigenen Identität immer weiter geht.


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Autorenporträt
Jáchym Topol, 1962 in Prag geboren und Sohn des Dramatikers Josef Topol, war nicht nur der Star des literarischen und musikalischen Underground vor 1989 sondern ist auch heute noch der bekannteste tschechische Autor seiner Generation. Als Sechzehnjähriger unterzeichnete er die Charta 77, 1985 begründete er das Underground-Magazin Revolver Revue, seine Zeit als Wehrpflichtiger verbrachte er mit anderen Intellektuellen in der Irrenanstalt, er arbeitete als Heizer und Lagerarbeiter. In den 90er Jahren studierte er Ethnologie und bereiste zwischen 1989 und 1991 als Journalist für die Wochenzeitung Respekt und Drehbuchautor Osteuropa. 1988 erschien in Samizdat sein erster Gedichtband Ich liebe Dich bis zum Irrsinn, 1992/93 folgten Am Dienstag gibt es Krieg und Ausflug zur Bahnhofshalle. Seinen Durchbruch als Schriftsteller hatter er mit dem Roman Die Schwester; es folgten Engel EXIT, Nachtarbeit, Zirkuszone undDie Teufelswerkstatt. Topol lebt in Prag.

Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.03.2019

Zwischen Königgrätz und Kater Mikesch
Ein Streifzug durch die tschechische Gegenwartsliteratur

Die junge Hana weiß nicht mehr weiter und zieht in einen Schrank. Den hat ihre Schwester auf "schmeissmichnichtweg.cz" annonciert, der Name der Website könnte aber auch Hana meinen. Ihr Freund ist gestorben, es war keine gute Beziehung, sie ist eigentlich erleichtert, hat aber keine Idee, was sie jetzt anfangen soll. Wie machen es bloß die anderen, mit ihren Kindern und Jobs und Wochenendhäuschen, den Kochrezepten und Fernsehsendungen? Ihrer besorgten Mutter erzählt Hana, sie fange demnächst in einer Bank zu arbeiten an, tatsächlich aber wandert sie durchs sommerheiße Prag, beobachtet, wie sich die anderen einrichten, um dann, wenn sie sich eingerichtet haben, unglücklich zu sein, macht Zufallsbekanntschaften und Zufallsjobs, befragt die Vergangenheit und versteckt sich vor der Zukunft.

Was man als Flucht deuten könnte, ist gerade das Gegenteil: Hana lenkt sich nicht ab. "Das also ist die Zeit, in der ich lebe. Das bin ich", sagt sie. Einen Sommer und Herbst lang lässt Tereza Semotamová, die 1983 geborene Autorin von "Der Schrank", ihre Hauptfigur die Freiheit kosten. Erzählt mal nüchtern-sarkastisch, mal komisch-grotesk vom Leerlauf junger und alter Durchschnittsleben im Tschechien der Gegenwart, die sich von denen anderer Bewohnerinnen und Bewohner Mitteleuropas nicht so sehr unterscheiden. In Semotamovás Erzählung finden sich unser aller Selbstbeschwichtigungen, Ausweichmanöver und Lügen, mit denen wir einigermaßen anständig und zufrieden durchs Leben zu kommen hoffen, wobei wir allzu oft vergessen, dass es unser einziges ist, wir es also nicht wegschmeißen sollten.

Der tschechischen Gegenwartsliteratur, die sich in diesem Frühjahr auf der Leipziger Buchmesse präsentiert, kann man vor allem eines bescheinigen: wach zu sein. Vorbei die Zeit, in der die tschechische Prosa vor sich hin dümpelte und man Aufregendes fast nur in der Lyrik fand. Nach der "Samtenen Revolution" war die Zeit der großen Gesellschaftsromane erst mal vorbei, das Genre durch die sozialistische Kulturpropaganda kontaminiert. Jetzt aber lohnt es sich, den lesenden Blick ins Nachbarland zu richten. Eine neue Autorengeneration ist herangewachsen, die die tschechische und mitteleuropäische Gegenwart kartiert und sich mit dem historischen Erbe selbstbewusst auseinandersetzt. Mit mehr als siebzig Neuerscheinungen von 55 Autoren und Autorinnen bekommt das deutschsprachige Publikum in diesem Frühjahr die Chance, die tschechische Literatur in ihrer ganzen Breite zu erkunden und sich dabei von Klischeevorstellungen zu lösen, die von den literarischen Heroen des 20. Jahrhunderts, wie Hasek, Hrabal, Kundera, herrühren.

Im österreichischen Wieser-Verlag sind, in Zusammenarbeit mit Vetrné Mlýny aus Brno, gleich zehn schön gestaltete Bände in einer "Tschechischen Auslese" erschienen, die vor allem Erzählungen präsentieren, unter anderem von Petra Soukupová, Dora Cechova und Markéta Pilátová, allesamt sehr empfehlenswert. Kleine Alltagsgeschichten stehen da neben historischen Grotesken, durchaus auch mal, wie bei Jirí Kratochvil, von einem Pferd erzählt. Erstaunlich kritisch ist der Blick auf das Tschechien der Gegenwart, ein Land, das von Subventionen der Europäischen Union profitiert und trotzdem gegen die EU polemisiert, das von korrupten Politikern regiert wird und in dem nicht wenige Einwohner einen neuen Nationalismus pflegen.

Die in Leipzig auftretenden Autorinnen und Autoren zeigen ein anderes Gesicht: liberal, weltoffen, europafreundlich. Auffallend viele Romane beschäftigen sich mit Themen aus der jüngeren Vergangenheit, die in Tschechien lange Zeit Tabu waren, fragen nach dem Verhalten ihrer Vorfahren während des sogenannten Protektorats, im Holocaust oder bei der Vertreibung der Deutschen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Der Stalinismus der fünfziger Jahre wird ebenso ausgeleuchtet wie die bleierne Zeit der "Normalisierung" nach der Niederschlagung des Prager Frühlings und das Chaos der Nachwendezeit.

Bereits 2006 (2009 auf Deutsch) erschien Radka Denemarkovás Roman "Ein herrlicher Flecken Erde", in dem die 1968 Geborene vom Schicksal einer deutschen Jüdin und KZ-Überlebenden erzählt, die nach ihrer Befreiung wieder Opfer von Gewalt wird, diesmal von tschechischer Seite. Der Roman brach das Schweigen über eines der dunklen Kapitel tschechischer Nachkriegsgeschichte und führte zu einer äußerst polemisch geführten Diskussion. Die 1980 in Brno/Brünn geborene Katerina Tucková begibt sich mit ihrem Roman "Gerta - Das deutsche Mädchen" nun gewissermaßen in Denemarkovás Fußstapfen. Ebenfalls anhand eines Einzelschicksals erzählt sie vom lange verleugneten "Todesmarsch" der deutschsprachigen Brünner nach Ende des Zweiten Weltkriegs, bei dem mehrere tausend Menschen durch Seuchen, Hunger und Gewaltexzesse den Tod fanden. Der Roman, mit einer Auflage von mehr als hunderttausend Exemplaren in Tschechien ein Mega-Bestseller, überrascht durch seine prodeutsche Gesinnung und wird sicher auch hierzulande, trotz seiner nur knapp an Kolportage und psychologischen Klischees vorbeischrammenden Machart, viel gelesen und diskutiert werden.

Von Radka Denemarková liegt zur Messe auch der aktuelle, hochpolitische Roman vor, der den rätselhaften Titel "Ein Beitrag zur Geschichte der Freude" trägt. Zunächst kann man nicht anders, als diesen Titel sarkastisch, wenn nicht gar zynisch zu verstehen, geht es doch um die sexuelle Gewalt, die sich in die Körper missbrauchter Frauen ebenso eingeschrieben hat, wie sie, über die Jahrhunderte hinweg, in das kollektive Gedächtnis aller Frauen eingegangen ist. Was Quelle der Freude sein könnte, wird überall auf der Welt als Instrument der Demütigung, Ausbeutung, Vernichtung eingesetzt, dabei oftmals als Bagatelldelikt abgetan. Im Roman nun sind drei ältere Damen am Werk, die, quasi als weibliche Simon Wiesenthals, in einer Villa in Prag ein riesiges unterirdisches Archiv angelegt haben, in dem sie Tausende Fälle von Gewalt gegen Frauen dokumentieren und Beweise sammeln, um die Täter verfolgen und bestrafen zu können, durchaus auch in Eigenregie.

Wann hat es angefangen, dass Frauen als Menschen zweiter Klasse behandelt werden - das ist die Frage, die Denemarková umtreibt. Wann hat das große Morden begonnen, fragt Jaroslav Rudis, einer der derzeit bekanntesten tschechischen Autoren, in seinem ersten auf Deutsch geschriebenen Roman, "Winterbergs letzte Reise", mit dem der 1972 Geborene für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert ist. Ein 99-jähriger ehemaliger Sudetendeutscher, Winterberg aus Liberec/Reichenberg, liegt im Krankenhaus und wartet auf den Tod. Sein aus Böhmen, nämlich Vimperk/Winterberg stammender Pfleger aber weckt noch einmal die Lebensgeister in ihm, zusammen begeben sie sich auf eine lange Zugreise durch Mittel- und Südosteuropa, mit dem letzten Vorkriegs-Baedeker für Österreich-Ungarn im Gepäck. Ein abgründiges Setting und ein ungleiches Paar, der eine pausenlos redend, der andere schweigsam. Beide mit einem dunklen Fleck in der Biographie, der zu dem riesigen Blutfleck der Geschichte gehört, die, so meint Winterberg, 1866 in der Schlacht bei Königgrätz begann, als die Preußen die Österreicher besiegten, der Anfang vom Ende der k. u. k. Monarchie und der Beginn des "Dritten Reichs". Nichts lässt sich wiedergutmachen, das weiß der über 500 Seiten sebaldesk-melancholisierende, bernhardesk-kalauernde Rudis, aber es muss erzählt werden. Nur so kommt das Verdrängte ins Bewusstsein und ist Versöhnung möglich. Bewusst doppelbödig agiert Rudis in seinem Roman, wie es der Baedeker schon immer unfreiwillig tut, wenn er neben Museen, Schlössern und Grandhotels auch die Kasernen und Friedhöfe erwähnt, Ausgangs- und Endpunkte der Vernichtung. Verstörend wirkt allerdings, dass Rudis seine beiden Protagonisten ausgerechnet mit der Bahn reisen lässt, dem willfährigen Werkzeug nicht nur des Tourismus, sondern auch des Krieges, und zwar ohne je zu reflektieren, dass auf diesem Schienennetz Millionen Menschen deportiert wurden.

Einer von ihnen war Karol Sidons Vater. Er ist keine ausgedachte Figur, sondern war ein wirklicher Mensch, der ins KZ Theresienstadt gebracht wurde, da war sein Sohn gerade zwei Jahre alt. Der Vater kam nie mehr wieder. Sein Sohn hat ihn immer vermisst, von ihm geträumt, wurde nur ein halber Mensch. "Traum von meinem Vater" heißt Sidons Buch mit Erinnerungen an die vierziger und fünfziger Jahre, in denen er aufwuchs, mit dem Stiefvater, der als Einziger aus seiner Familie den Holocaust überlebt hat, und der Mutter, die unerträglich streng ist, jähzornig und ungerecht. Karol Sidon, 1942 geboren, Filmhochschulstudent, Dramaturg beim berühmten Trickfilmregisseur Trnka, 1977er Chartist, reiste 1983 in die Bundesrepublik aus, studierte Judaistik in Heidelberg, wurde 1992 Oberrabbiner von Prag und ist heute Landesoberrabbiner. Das Buch über seine Kindheit hat er schon 1968, während des Prager Frühlings, veröffentlicht, auf Deutsch kann man es erst jetzt lesen. Es ist schlicht und tief und wahr und macht unendlich traurig.

Denn alles, das lernt man, versteht man bei Sidon, beginnt in der Familie, unter Nachbarn und Freunden. Die Liebe, die Sehnsucht, der Verrat, der Ekel und der Hass. Einer, der das auch am eigenen Leib lernen musste, ist Jáchym Topol, in den achtziger Jahren Dissident und Underground-Dichter, seit seinem Nach-Wende-Anarchie-Roman "Die Schwester" auch in Deutschland bekannt. Jetzt, 25 Jahre später, hat er eine Art Fortsetzung geschrieben, eine umgekehrte Roadnovel, Geschichte einer Heimkehr und sprachliches Wunderwerk, von Eva Profousová in bewundernswertes Deutsch übertragen. "Ein empfindsamer Mensch" heißt der von Topol so bezeichnete "politische Gegenwartsroman", in dem ein schriftstellernder Ex-Dissident mit seiner Familie durch das Europa von 2015 zieht, um nach absurd-abenteuerlicher Reise, inklusive eines Abstechers ins Kriegsgebiet zwischen Ukraine und Russland, im heimatlichen Böhmen zu landen, wo ihn alle erkennen, ihn aber keiner haben will.

Topol verarbeitet in seinem ausufernden Genremix einen Großteil der tschechischen (Kultur-)Geschichte, angefangen bei den beiden Slawenaposteln Kyrill und Method über Jan Hus bis hin zu Kater Mikesch. Wer aber, so fragt man sich inmitten des erzählerischen Chaos zwischen Schrottplätzen, Kleinstadtrummelplätzen und Waldbordellen, skurrilen Dialogen, Saufgelagen und Dorfkeilereien, wer ist bloß dieser titelgebende "empfindsame Mensch"? Etwa der heimatsuchende, dauerflüchtende Vater? Oder sein Sohn, ein frühpubertärer, stummer Autist? Oder eine der vielen anderen im Roman auftretenden Figuren? Am Ende ist dieser Empfindsame wohl kein anderer als der Erzähler Topol selbst, der mit unbestechlichem Blick für die zwischenmenschliche und geschichtliche Verwüstung dieses große böhmische Familienporträt gezeichnet hat und dennoch unbeirrt geblieben ist in seinem Optimismus und seiner Menschenfreundlichkeit.

BETTINA HARTZ.

Radka Denemarková: "Ein Beitrag zur Geschichte der Freude". Aus dem Tschechischen von Eva Profousová. Hoffmann und Campe, 336 Seiten, 24 Euro.

Jaroslav Rudis: "Winterbergs letzte Reise". Roman. Luchterhand, 543 Seiten, 24 Euro Tereza Semotamová: "Im Schrank". Roman. Aus dem Tschechischen von Martina Lisa. Voland & Quist, 288 Seiten, 20 Euro.

Karol Sidon: "Traum von meinem Vater". Aus dem Tschechischen von Elmar Tannert. Ars Vivendi, 216 Seiten, 19 Euro.

Jáchym Topol: "Ein empfindsamer Mensch". Roman. Aus dem Tschechischen von Eva Profousová. Suhrkamp, 494 Seiten, 25 Euro.

Katerina Tucková: "Gerta - Das deutsche Mädchen". Roman. Aus dem Tschechischen von Iris Milde. Klak, 548 Seiten, 19,90 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.03.2019

DER RUSSE IST WIE
NATUR
VON BIRTHE MÜHLHOFF
Es ist Sommer, aber die tschechische Familie, die hier unterwegs ist, fährt nicht in den Urlaub. Die zwei Kinder sitzen hinten im Van, die Eltern vorne, ein paar Schnapsflaschen zwischen den Füßen. Sie reisen durch ganz Europa, um auf Kleinkunstbühnen selbstgeschriebene Theaterstücke aufzuführen. Wenn es gut läuft, ist das ein Leben in Freiheit, wenn es schlecht läuft, in Armut. Im Jahr 2015, dem Jahr der offenen Grenzen und des offenen Hasses, läuft es nicht so gut. Auf einem Festival in England ruft man ihnen zu allem finanziellen Unglück auch noch „Ausländer raus“ hinterher.
Eigentlich will Vater Mohrle Schriftsteller sein, ist aber nicht mehr der jüngste. Die Mama Sonja hat bunte Dreadlocks und ein Drogenproblem. Die Kindererziehung besteht hauptsächlich daraus, dass der eine Sohn sich um den anderen kümmert, seinen Zwillingsbruder. Dieser kam etwas zerquetscht auf die Welt und heißt nur „der Winzling“. Ab und zu schiebt der Vater ihm eine zerbröselte Schlaftablette in den Mund. Es gibt nicht viele Gründe, weshalb man die Charaktere aus dem neuen Roman des tschechischen Kultautors Jàchym Topol ins Herz schließen müsste, aber man tut es doch. Weil da eine ganze Familie Antiheld ist.
Dummerweise lässt sich der Vater zu einem kleinen Diebstahl hinreißen und wird erwischt. Damit beginnt eine buchstäblich abgefahrene Roadnovel durch Osteuropa. Die Familie trifft auf Vater Mohrles zwielichtigen Bruder Iwan, der Gérard Depardieu in seine Gewalt gebracht hat, samt Edelkarosserie mit einem Kofferraum voller französischer Delikatessen.
Irgendwann ist der Schlitten von Depardieu weg, der Schauspieler selbst ist nackt in einem Wald verschwunden und die Gründe für ihre Flucht sind inzwischen auch ganz andere. Die Odyssee geht in Tschechien weiter, durch ihre Heimat, eine waldige Gegend östlich von Prag. Zu Fuß, mit Motorrad, in Frauenkleidern per Anhalter oder mit improvisierten Booten die Sázava hinunter, einem Nebenfluss der Moldau, der hier durch enge Täler fließt. Der Dorflegende nach soll im Fluss das Wrack eines russischen Panzers liegen, weshalb die Dorfjugend natürlich davon träumt, ihn rauszuholen. Die advanced version des tschechowschen Gewehrs, das im ersten Akt an der Wand hängt und sicherlich nicht dort hängen bleibt.
Was den Gestalten, die einem im Verlauf der Geschehnisse begegnen, alles zustößt, ist bestenfalls schlimm, meistens absurd grausam. Geschätzt ein Viertel der Figuren bleiben auf der Strecke, ertrinken, werden erschlagen, erschossen. Wenn man den Roman trotzdem wunderbar vorm Einschlafen lesen kann, dann weil die Sprache charmant und leicht ist. Jàchym Topol ist dafür bekannt, dass er seine Romane in einer eigenwilligen Umgangssprache verfasst, quasi eine Umgangssprache von nicht sehr umgänglichen Menschen. So wirkt die Szenerie wie aus der Zeit gefallen, märchenhaft, aber hochgepitcht auf ein Tempo, als liefe auch die Sprache vor jemandem davon.
Da wirkt auch bitterer Ernst bisweilen drollig, ohne an Ernsthaftigkeit zu verlieren. Eine tattrige betrunkene Oma versucht ihren Sohn davon zu überzeugen, sie endlich ins Hospiz zu bringen und faselt, weil sie sich das Wort nicht merken kann, irgendwas vom „Hopsdings“. Für das sumpfige Ufer des Flusses hat Topol tausend Worte, „lebendgebärender Untergrund“ ist nur eines davon. Was die Übersetzerin Eva Profousová hier leistet, kann man gar nicht hoch genug einschätzen.
Der Roman greift also sprachlich wie inhaltlich viel von Topols erfolgreichem Roman „Die Schwester“ auf, der 1994 auf Tschechisch erschien und von vielen Kritikern als einer der wichtigsten Romane über die Wende von 1989 bezeichnet wurde. Auch in dem Buch sind die bewegten Zeiten übersetzt in eine Bewegung durch den Raum: Sind die Protagonisten in Topols neuem Roman auf der Flucht, waren sie in seinem Buch von 1994 vor allem auf der Suche – nach der „Schwester“ nämlich, einer mysteriösen Frau, von der unklar ist, wer sie ist und ob sie eigentlich existiert.
Seitdem sind dreißig Jahre vergangen und die Welt hat sich verändert, auch für diejenigen, die über sie schreiben. Die große Zeit der Ostblockdissidenten ist vorbei. Dem alt gewordenen Schriftsteller Mohrle wird im Roman sogar vorgeworfen, er wünsche sich heimlich eine russische Invasion, damit er sich wieder als Märtyrer fühlen könne. Jetzt sind da andere Leute aus Syrien und Nordafrika, mit denen er sich nicht nur die provisorischen Schlafplätze teilen muss, sondern auch die internationale Aufmerksamkeit. Vielleicht ist es eine große Metapher, dass an einer Stelle ein Stapel lange mühsam behüteter Manuskriptseiten die Sázava hinunter schwimmt.
Mit seinem Protagonisten Vater Mohrle teilt Topol die Erfahrung von Repression durch die Sowjetunion. In Tschechien ist Topol Kultautor. Studieren durfte er nicht, weil schon sein Vater Josef Topol nicht nur ein großer Schriftsteller, sondern auch ein bekannter Dissident war, also brach Topol die Schule gleich ganz ab, schrieb Songs für die lange verbotene Undergroundband Psi vojaci („Hundesoldaten“), in der sein Bruder Frontsänger war.
Über den Roman wurde gesagt, er sei eine Beschreibung der aktuellen Situation in Tschechien wie in der EU generell. De facto wirkt die EU darin wie etwas, das in einem anderen Sonnensystem stattfindet, in dem sich die Dinge um etwas ganz anderes drehen. Gleichzeitig ist es ein Buch über Russland, wie die EU abwesend und allgegenwärtig zugleich. Faszination mischt sich mit Angst: „Die Russen sind wie Natur, die hältst du nicht auf. Afghanistan, Tschetschenien, alles olle Kamellen, vorgestern Georgien, gestern Krim, heute Syrien, morgen die Ukraine, dann das Baltikum, Polen, alles wie gehabt, sie sind wieder hier und das Kosakenpferd wird noch aus der Sázava trinken. Wer hindert sie daran?“ Ist das Russenfeindlichkeit?
Im Roman selbst kommt kein einziger Russe vor. Wohl aber zwei Tschechen, die übereifrig ihrem russischen Phantasma nachrennen und dabei eine Schneise der Verwüstung hinterlassen: Iwan, der große Bruder von Vater Mohrle, und Waska träumen von einem Noworossija und verteilen im Geiste bereits Ämter in den Kultusministerien neu annektierter Gebiete. „Du verwestlicht, aber das nur Schale“, sagt Iwan zu seinem jüngeren Bruder in dem russischen Akzent, den er sich zugelegt hat. „Die schalen wir ab! Jung Bruder darf man vermobeln.“
Was ist Russland? Großes Vorbild oder Feind, Zukunft oder Vergangenheit? Die Odyssee von Mohrle führt auch durch ein Panorama an politischen Meinungen, durch ein Dickicht aus versoffenen Wahrheiten. „Die Russen“, sagt Lomoz, einer der Alten aus dem Dorf, „sind wie wir, aber sie sind nicht wie wir“.
„Ein empfindsamer Mensch“ ist ein enigmatischer aber passender Titel für diesen Roman. Weil man sich wünschte, es gäbe wenigstens einen davon. Weil man sich die Frage stellen muss, was das eigentlich ist, ein empfindsamer Mensch. Und wie müssen Kinder aufwachsen, um gegebenenfalls dazu zu werden? Denn das wäre doch gut, oder nicht? Man stellt sich zwangsläufig die Frage, ob man mit dem empfindsamen Menschen nicht vielleicht selbst gemeint ist. Oder ob man nur empfindlich ist.
So skurril die Handlung ist, so realistisch ist sie auf eine Weise. Den Wahrheitsgehalt von Märchen stellt man schließlich nicht in Frage. Es ist wie bei Hans im Glück, der seinen kopfgroßen Goldklumpen gegen die Gans eintauscht, diese gegen den Schleifstein, immer weiter, bis er mit leeren Händen dasteht – nur dass bei Topol die Menschen alle schon am Anfang mit leeren Händen dastehen.
Aus diesem realexistierenden Setup aus Armut und Alkohol gibt es keinen einfachen Ausweg. Wenn Utopien Nicht-Orte sind, ist die Topologie dieses Romans eine Vorhölle aus viel zu vielen Orten, an denen man nicht bleiben kann. Orte ohne Zukunft, eingeklemmt zwischen Postkommunismus und Spätkapitalismus: „Man könnte vielleicht meinen, jetzt sollte ein Wunder geschehen“, sagt der alte Dorflehrer und Spitzel Lojda einmal nachdenklich. „Aber weißt du was? Ich glaube das nicht mal. Hier sind die Dinge an ihrem Ende angelangt, dieser Trieb ist verdorrt. Passiert manchmal.“
Was den Gestalten alles zustößt,
ist bestenfalls schlimm,
meistens absurd grausam
Was passiert mit den kommunistischen
Dissidenten, wenn es keinen Kommunismus mehr
gibt und sie sich die Aufmerksamkeit
des Westens mit syrischen Flüchtlingen
teilen müssen? In Jáchym Topols pessimistischem
Roman „Ein empfindsamer Mensch“ gehen
sie einfach vor die Hunde.
Jáchym Topol:
Ein empfindsamer Mensch.
Aus dem Tschechischen
von Eva Profousová.
Suhrkamp Verlag,
494 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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»Solange der Zustand Europas zu solchen Kunstwerken anregt, ist es nicht verloren.« Jörg Plath Neue Zürcher Zeitung 20190603