»Kindsein in Zeiten des Krieges« Krieg und NS-Zeit aus der Sicht eines Kindes. Ein Roman über die Südtiroler Auswanderung und die NS-Verbrechen an Menschen mit Behinderung Eine Familie aus Südtirol entscheidet sich 1942 im Zuge der »Option» für die Auswanderung ins Deutsche Reich. Der 11-jährige Ludi erzählt von den letzten Tagen im Dorf und der ersten Station im Deutschen Reich: Innsbruck. Auf Anweisung der Ärzte muss sein behinderter Bruder Hanno in eine Anstalt bei Hall gebracht werden. Die restliche Familie zieht weiter nach Oberösterreich. Der Vater wird in die Wehrmacht eingezogen und auch Hanno kehrt nicht mehr zurück. Ein Brief aus einer »Heil- und Pflegeanstalt« des Reiches ist alles, was der Familie von ihm bleibt. Sepp Mall gilt als einer der wichtigsten Schriftsteller Südtirols, der sich in seinem Werk mit komplexen Themen der jüngsten Zeitgeschichte auseinandersetzt. Wie lässt sich das Unbegreifliche verstehen und wie überlebt man ein kollektives Trauma? Ein bewegender Roman, der in bilddichter Sprache der Trauer eines Kindes um seinen Bruder nachgeht.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Tief bewegt liest Rezensent Hannes Hintermeier diesen Roman des in Meran lebenden Schriftstellers Sepp Mall, der vom Schicksal der Südtiroler erzählt, die sich Ende der Dreißigerjahre zwischen der Übersiedlung ins "Deutsche Reich" oder der Zwangsumsiedlung nach Süditalien entscheiden mussten. Der Kritiker folgt einem zunächst elfjährigen Ich-Erzähler, dessen Familie sich für die Übersiedlung entscheidet. Schon bald wird der jüngere Bruder Hanno, der sprachlich und körperlich behindert ist, von der Familie getrennt und in ein Heim zu "Untersuchungen" geschickt. Später bekommen die Eltern per Brief den Tod des Sohnes mitgeteilt. Mall muss nicht mal das Wort "Euthanasie" aussprechen, so schlank und genau vermag er zu erzählen, staunt der Rezensent, der in jeder Zeile das Elend jener Jahre spürt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.09.2023Es gibt nur eine Heimat
Auf der Suche nach den verlorenen Wörtern: Sepp Mall folgt mit "Ein Hund kam in die Küche" einer Südtiroler Familie ins Verderben
Gehen oder bleiben, das war die "Option" für die Südtiroler, die in den Dreißigerjahren in das Räderwerk von italienischem Faschismus und Nationalsozialismus gerieten. Der "Reichsführer SS", Heinrich Himmler, wurde 1939 zum "Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums" ernannt. Um die Südtirolfrage endzulösen, ließ er eine Propagandawelle über das Land rollen. Er versprach einerseits, die Südtiroler geschlossen in einem Gebiet anzusiedeln, andererseits drohte Dableibern die Zwangsumsiedlung nach Süditalien.
"Heim ins Reich", zurück in den "Volkskörper" oder Italiener ohne Sonderrechte werden - "deutsch oder walsch": Bei dieser Wahl zwischen Pest und Cholera votierten rund 75.000 Südtiroler für die Übersiedlung ins Deutsche Reich - eine Entscheidung, deren Folgen bis heute in Familien und Dorfgemeinschaften fortwirken. Und damit Gegenstand von Literatur werden. So auch im Fall des in Meran lebenden Schriftstellers Sepp Mall, Jahrgang 1955. Auch jüngere Autoren haben sich zuletzt des Themas angenommen, etwa Marco Balzano, Jahrgang 1978, mit "Ich bleibe hier" (F.A.Z. vom 13. August 2020) und Maddalena Fingerle, Jahrgang 1993, mit "Muttersprache" (F.A.Z. vom 21. Februar 2022). "Ein Hund kam in die Küche" steht auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis.
Es ist der Vater, der die Option Übersiedlung wählt. Seine Frau ist nicht überzeugt, fügt sich eher. Der bei Beginn des Romans elfjährige Icherzähler beobachtet vieles, so wie Kinder immer mehr wahrnehmen, als Erwachsene es registrieren. Er spürt, dass Wörter abhandenkommen, nicht nur solche, die mit Abschied zu tun haben. Dann gibt es da noch den fünfjährigen Bruder, der eigentlich Anton heißt, der nicht richtig sprechen kann und körperlich stark eingeschränkt ist. Seinen älteren Bruder nennt er "Ludi", und weil er von sich immer als "Ao" redet, hat man ihn Hanno genannt. Ludi liebt ihn zärtlich und selbstverständlich, kümmert sich um den sabbernden und spastisch zuckenden Hanno. Nebenbei ist er ein bisschen verliebt in Kathrina, die ebenfalls bald auswandern wird und mit der er auf Abschiedstouren durchs Dorf streift. Man sitzt auf gepackten Habseligkeiten.
Die erste Station im "Draußen" ist Nordtirol. In Innsbruck wird Hanno von der Familie getrennt, er muss in ein Heim zu Untersuchungen. "Er wackelte an der Hand der Schwester über den glänzend gewienerten Boden, sein linkes Bein war nach außen gedreht, und bereits an der ersten Treppenstufe blieb er mit dem Absatz hängen. Die Schwester fasste ihn am Oberarm und unter der Schulter und so schaukelten sie weiter, Schritt für Schritt den Gang entlang. Hanno wand sich wie eine Katze, einmal nach links, einmal nach rechts, dann begriff ich, dass er sich nach uns umdrehen wollte, nach Mutter und mir."
Es ist das letzte Mal, dass Ludi und die Mutter Hanno sehen. Die Familie landet im Reichsgau Oberdonau, im heutigen Oberösterreich, in einem fiktiven Ort namens Sonnau. Flaches Land am Strom, das Gegenteil zum Südtiroler Bergdorf. Ludi gewinnt einen neuen Freund, Siegfried, der erst einmal fragt: "Kane Italiener?" Worauf Ludi wahrheitsgetreu sagen kann: "Total deitsch." Die beiden durchleben die Jahre mit einigen Abenteuern, verzehren sich wie alle anderen Jungmänner im Dorf auch nach der schönen Postbotin Erna. Ludis Vater ist eingerückt. Von der Westfront bringt er sich der Familie als Verfasser von Feldpostbriefen in Erinnerung. Der Krieg ist so lange fern, bis die überfliegenden Bomber zur Luftflotte der Alliierten gehören.
Der weltpolitischen Katastrophe geht eine private Katastrophe voraus. Ein Brief aus der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee meldet Hannos Tod - Lungenentzündung. Dass dort Behinderte in Euthanasieprogrammen ermordet wurden, dass man Kinder zu medizinischen Versuchen missbrauchte, wird vom Autor nicht einmal angedeutet. Das muss er auch nicht, denn das "ohrenbetäubende Rauschen", das beim Eintreffen der Nachricht alles Leben der Mutter verschlingt, spricht Bände. Ludi sieht seinen kleinen Bruder fortan als Geist neben sich, lebt mit ihm so wie früher - als sei er noch am Leben.
Mall arbeitet mit leitmotivischen Gegenständen wie den Sandalen Hannos, die Ludi ebenso bewahrt wie die Schneekugel, die der Vater Hanno aus Frankreich mitbrachte. Immer dabei ist auch das Taschenmesser, das Ludi mit Siegfried tauschte, und in der Erinnerung ein Hirschgeweih, das er mit Kathrina entdeckte. Dinge, die eine Kontinuität suggerieren, die es in der Wirklichkeit nicht mehr gibt.
In der Diktion erinnert das an Robert Seethaler, auch weil Sepp Mall nah an der gesprochenen (Kinder-)Sprache bleibt, einfache Register wählt, diese aber dank Politur und Straffung zu einem stimmigen Aroma ausbaut und so das Elend greifbar macht. Immer wieder tauchen verlorene Wörter auf wie "Heimaterde" - als Synonym für Südtirol. Die Heimkehr im Chaos des Kriegsendes wird zur Odyssee, alle Opfer für den "Volkskörper" waren vergebens: Volksdeutsche, Reichsdeutsche, Sudetendeutsche, Pommern beharken sich nun; und mittendrin die Katzelmacher, wie die Italiener in Österreich genannt werden, die nach Südtirol zurückdrängen.
Am Ende sehen wir die Mutter und ihren Erstgeborenen im Heimatdorf, in ihrer ehemaligen Wohnung leben mittlerweile andere. Den Rückkehrern schlägt Misstrauen entgegen, das Leichengift der "Option" wirkt schon. Dass der Vater als seelischer Krüppel aus der Gefangenschaft wiederkehrt, macht die Lage nicht einfacher. Immerhin findet Hannos Name einen Platz auf dem Grabkreuz.
Man hätte gewarnt sein können: Das dem Roman den Titel gebende Kinderlied ist ein eindringlicher Warnschuss. "Ein Hund kam in die Küche / und stahl dem Koch ein Ei / da nahm der Koch den Löffel / und schlug den Hund zu Brei". Zerschlagen ist in diesem todtraurigen Roman am Ende die heile Welt von einst, die neue Welt von gestern und jede Aussicht auf eine gedeihliche Zukunft. HANNES HINTERMEIER
Sepp Mall: "Ein Hund kam in die Küche". Roman.
Leykam Verlag, Graz 2023. 192 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auf der Suche nach den verlorenen Wörtern: Sepp Mall folgt mit "Ein Hund kam in die Küche" einer Südtiroler Familie ins Verderben
Gehen oder bleiben, das war die "Option" für die Südtiroler, die in den Dreißigerjahren in das Räderwerk von italienischem Faschismus und Nationalsozialismus gerieten. Der "Reichsführer SS", Heinrich Himmler, wurde 1939 zum "Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums" ernannt. Um die Südtirolfrage endzulösen, ließ er eine Propagandawelle über das Land rollen. Er versprach einerseits, die Südtiroler geschlossen in einem Gebiet anzusiedeln, andererseits drohte Dableibern die Zwangsumsiedlung nach Süditalien.
"Heim ins Reich", zurück in den "Volkskörper" oder Italiener ohne Sonderrechte werden - "deutsch oder walsch": Bei dieser Wahl zwischen Pest und Cholera votierten rund 75.000 Südtiroler für die Übersiedlung ins Deutsche Reich - eine Entscheidung, deren Folgen bis heute in Familien und Dorfgemeinschaften fortwirken. Und damit Gegenstand von Literatur werden. So auch im Fall des in Meran lebenden Schriftstellers Sepp Mall, Jahrgang 1955. Auch jüngere Autoren haben sich zuletzt des Themas angenommen, etwa Marco Balzano, Jahrgang 1978, mit "Ich bleibe hier" (F.A.Z. vom 13. August 2020) und Maddalena Fingerle, Jahrgang 1993, mit "Muttersprache" (F.A.Z. vom 21. Februar 2022). "Ein Hund kam in die Küche" steht auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis.
Es ist der Vater, der die Option Übersiedlung wählt. Seine Frau ist nicht überzeugt, fügt sich eher. Der bei Beginn des Romans elfjährige Icherzähler beobachtet vieles, so wie Kinder immer mehr wahrnehmen, als Erwachsene es registrieren. Er spürt, dass Wörter abhandenkommen, nicht nur solche, die mit Abschied zu tun haben. Dann gibt es da noch den fünfjährigen Bruder, der eigentlich Anton heißt, der nicht richtig sprechen kann und körperlich stark eingeschränkt ist. Seinen älteren Bruder nennt er "Ludi", und weil er von sich immer als "Ao" redet, hat man ihn Hanno genannt. Ludi liebt ihn zärtlich und selbstverständlich, kümmert sich um den sabbernden und spastisch zuckenden Hanno. Nebenbei ist er ein bisschen verliebt in Kathrina, die ebenfalls bald auswandern wird und mit der er auf Abschiedstouren durchs Dorf streift. Man sitzt auf gepackten Habseligkeiten.
Die erste Station im "Draußen" ist Nordtirol. In Innsbruck wird Hanno von der Familie getrennt, er muss in ein Heim zu Untersuchungen. "Er wackelte an der Hand der Schwester über den glänzend gewienerten Boden, sein linkes Bein war nach außen gedreht, und bereits an der ersten Treppenstufe blieb er mit dem Absatz hängen. Die Schwester fasste ihn am Oberarm und unter der Schulter und so schaukelten sie weiter, Schritt für Schritt den Gang entlang. Hanno wand sich wie eine Katze, einmal nach links, einmal nach rechts, dann begriff ich, dass er sich nach uns umdrehen wollte, nach Mutter und mir."
Es ist das letzte Mal, dass Ludi und die Mutter Hanno sehen. Die Familie landet im Reichsgau Oberdonau, im heutigen Oberösterreich, in einem fiktiven Ort namens Sonnau. Flaches Land am Strom, das Gegenteil zum Südtiroler Bergdorf. Ludi gewinnt einen neuen Freund, Siegfried, der erst einmal fragt: "Kane Italiener?" Worauf Ludi wahrheitsgetreu sagen kann: "Total deitsch." Die beiden durchleben die Jahre mit einigen Abenteuern, verzehren sich wie alle anderen Jungmänner im Dorf auch nach der schönen Postbotin Erna. Ludis Vater ist eingerückt. Von der Westfront bringt er sich der Familie als Verfasser von Feldpostbriefen in Erinnerung. Der Krieg ist so lange fern, bis die überfliegenden Bomber zur Luftflotte der Alliierten gehören.
Der weltpolitischen Katastrophe geht eine private Katastrophe voraus. Ein Brief aus der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee meldet Hannos Tod - Lungenentzündung. Dass dort Behinderte in Euthanasieprogrammen ermordet wurden, dass man Kinder zu medizinischen Versuchen missbrauchte, wird vom Autor nicht einmal angedeutet. Das muss er auch nicht, denn das "ohrenbetäubende Rauschen", das beim Eintreffen der Nachricht alles Leben der Mutter verschlingt, spricht Bände. Ludi sieht seinen kleinen Bruder fortan als Geist neben sich, lebt mit ihm so wie früher - als sei er noch am Leben.
Mall arbeitet mit leitmotivischen Gegenständen wie den Sandalen Hannos, die Ludi ebenso bewahrt wie die Schneekugel, die der Vater Hanno aus Frankreich mitbrachte. Immer dabei ist auch das Taschenmesser, das Ludi mit Siegfried tauschte, und in der Erinnerung ein Hirschgeweih, das er mit Kathrina entdeckte. Dinge, die eine Kontinuität suggerieren, die es in der Wirklichkeit nicht mehr gibt.
In der Diktion erinnert das an Robert Seethaler, auch weil Sepp Mall nah an der gesprochenen (Kinder-)Sprache bleibt, einfache Register wählt, diese aber dank Politur und Straffung zu einem stimmigen Aroma ausbaut und so das Elend greifbar macht. Immer wieder tauchen verlorene Wörter auf wie "Heimaterde" - als Synonym für Südtirol. Die Heimkehr im Chaos des Kriegsendes wird zur Odyssee, alle Opfer für den "Volkskörper" waren vergebens: Volksdeutsche, Reichsdeutsche, Sudetendeutsche, Pommern beharken sich nun; und mittendrin die Katzelmacher, wie die Italiener in Österreich genannt werden, die nach Südtirol zurückdrängen.
Am Ende sehen wir die Mutter und ihren Erstgeborenen im Heimatdorf, in ihrer ehemaligen Wohnung leben mittlerweile andere. Den Rückkehrern schlägt Misstrauen entgegen, das Leichengift der "Option" wirkt schon. Dass der Vater als seelischer Krüppel aus der Gefangenschaft wiederkehrt, macht die Lage nicht einfacher. Immerhin findet Hannos Name einen Platz auf dem Grabkreuz.
Man hätte gewarnt sein können: Das dem Roman den Titel gebende Kinderlied ist ein eindringlicher Warnschuss. "Ein Hund kam in die Küche / und stahl dem Koch ein Ei / da nahm der Koch den Löffel / und schlug den Hund zu Brei". Zerschlagen ist in diesem todtraurigen Roman am Ende die heile Welt von einst, die neue Welt von gestern und jede Aussicht auf eine gedeihliche Zukunft. HANNES HINTERMEIER
Sepp Mall: "Ein Hund kam in die Küche". Roman.
Leykam Verlag, Graz 2023. 192 S., geb., 24,- Euro.
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