»Herr Hauptmann, ach, o halten Sie doch jetzt die Fresse, in diesem Augenblick ertrag' ich Unsinn nicht!« - Heinrich Bölls lyrisches Werk. Wenn man an Heinrich Böll denkt, denkt man an Prosa. Und doch hat er zeitlebens auch Lyrik geschrieben, von den jungen Jahren an bis ins hohe Alter. Die Gedichte sind kein Nebenprodukt seines Schreibens, sondern wichtiger Werkbestandteil. Diese bibliophile Ausgabe macht sie zum ersten Mal sorgsam ediert verfügbar. Böll als Lyriker entdecken, heißt, einen Autor in seiner Stimmfindung erleben. Angefangen bei den ersten lyrischen Gehversuchen, in denen deutlich sein früher Lektürekanon mitschwingt (und sich alles ordentlich reimt!), über freie Klangexperimente wie dem Gedicht »Preußentum« (1938), das seinen Gegenstand in eine absurd-militaristische Lautfolge zerlegt - »Ra Ta, / Tra Ra / Ra Ta Ta! [...] Romm, Bomm, Bomm ...« - bis zu den späteren Texten, aus denen ein Böll spricht, den man im Ohr zu haben meint: mit all seinem warmen und doch immer scharfzüngigen Humor, seiner gelassenen Menschenfreundlichkeit, seiner politischen Wachsamkeit. Die Veröffentlichung einer so umfassenden Auswahl mit teils unveröffentlichtem Material ist eine Premiere. Und ein Geschenk für alle, die Böll bereits gut kennen oder auch über die kurze Form neu kennenlernen möchten.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensent Martin Oehlen nimmt die Einladung der Herausgeber Jochen Schubert, Gabriele Ewenz und Rene Böll an und befasst sich mit der Lyrik von Heinrich Böll. Sein Fazit nach der Lektüre lautet: Böll ist vor allem in der Prosa stark, doch die Gedichte bieten eine lohnende Ergänzung. Themen und Tonlagen findet Oehlen in den Texten vorgeprägt, ob in den ganz frühen Gedichten um Glauben und Nächstenliebe oder in den Spott-Gedichten aus der NS-Zeit. Besonders erwähnenswert erscheinen Oehlen die Köln-Gedichte. Die von Gabriele Ewenz diagnostizierte Bild- und Sprachmächtigkeit dieser Texte scheint auch ihn zu bannen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.12.2021Im Zeichen des Kreuzes
Lyrik gegen die Perversionen der Zeit: Erstmals sind Heinrich Bölls Gedichte aus allen Lebensphasen gesammelt in einem Band erschienen
Zarte neunzehn Jahr' - und schon ein Greis? Welcher Knabe, gerade das Abitur in der Tasche, macht das schon: im Spaziergang nach Ruhe vor "Disharmonien" suchen? Der "Hölle" entkommt er an den Rhein, wo es noch etwas fromme Stille gibt: "Nur vereinzelt dringt das vorlaute Bellen / eines der Götter unserer Zeit / eines 'Automobilisten' / bis hierher." Aber es wäre doch ganz falsch, hier nur den spießigen Antimodernisten zu sehen, den Motorenverächter, der Heinrich Böll immer blieb. Schließlich steht da auch das Entstehungsdatum des kleinen Gedichts: November 1937.
Schon gerät alles ins Rutschen, denn der Lärm ist bereits der der Pogrome, aus denen ein Völkermord werden wird, fürwahr ein Höllenlärm. Stille zu suchen ist im November 1937 alles andere als spießig. Und dass einer, kaum erwachsen, in diesen Jahren Gedichte voll von christlichem Pathos schreibt, Erweckungs-, Preis- und Verdammungspoeme, die nun erstmals (zusammen mit den späteren: Böll hat immer gedichtet) in einer Buchausgabe zusammengestellt sind, das ist weniger Frömmigkeit als Widerstand gegen den Suizid aller Humanität. Der Neinsager vom Rhein wendet sich an den einen, richtigen Gott, weil er ihm mächtiger scheint als die selbst ernannte Herrenrasse: "Gottes ist das Gericht". Kreuz gegen Haken, darin steckt ein verzweifelter Existenzialismus. Eine Kampfansage.
Der neue Band bietet die Gelegenheit, Böll, den man heute fast immer nur vom Ende her betrachtet, vom Kampf mit der Springer-Presse oder vom Nobelpreis aus, den viele Kritiker dem "guten Menschen von Köln", den sie eher für einen Volksschriftsteller hielten, nicht wirklich gönnten, noch einmal ganz neu und ab ovo - ein guter Teil sind Schülergedichte - kennenzulernen. Freilich gelingt der Versuch des ehernen Böll-Verlags Kiepenheuer & Witsch, den einst so populären, heute wenig gelesenen Autor nun als Poet zu reklamieren, nicht so ganz. Leider muss man also Robert Gernhardts Urteil - "Er wär' überhaupt erste Sahne / Wären da nicht die Romane" - präzisieren: Viel besser ist die Lyrik auch nicht. Wobei mit "besser" avantgardistischer gemeint ist, also formal gewagt, humorvoll, sprachlich verspielt, denn gut auf eine andere, verlässliche Weise sind die Gedichte durchaus. Sie rühren und erregen, schreiben sich kommentierend ein in ihre Zeit, über die sie gar nicht hinauswollen: "im Vorübergehen / das Vergangene / im Vergänglichen / . . . / festhalten".
Die meisten der frühen Gedichte wurden bislang einzig in der "Kölner Ausgabe" gedruckt, sieben sind sogar Erstveröffentlichungen. Böll selbst maß ihnen, wie das kenntnisreiche Nachwort ausführt, "einen geringen Stellenwert" bei. Nicht ganz grundlos. Nun müssen sie herhalten als "Feldversuche einer frühen Autorschaft". Es handelt sich um Etüden, mal heißblütige, mal sehnsüchtige. Gern bilden sie Expressionistisches nach, hier traklnd: "Draußen, wo das Ärgernis sich staute / wie ein Meer von faulig-trüben Tropfen / wo Getaufte und Geweihte / mit der Soße Sumpf den Hunger stopften", dort schwitternd: "Ra Ta Ta! / Schti - Schta! / Romm Bomm". Mehrere Themenkomplexe halten sich die Waage: Jugendverzweiflung ("O Tod, Du anmutiger Mörder / ich lade Dich jubelnd ein"), Auflehnung gegen die Verhältnisse ("Unsere Zivilisation stinkt . . . / Vorgestern roch sie übel nach Kohle und Blut . . . / heute trieft sie von Öl und Blut . . . / Eins blieb sich gleich: / DIVIDENDE!!!") und Identitätsfindung im Schatten des Kreuzes ("da blitzet groß und leuchtend / und siegend über Schmutz / ein Kreuz, ein Kreuz erleuchtet / nun wußt' ich, wo mein Schutz"). Dass dieses Erwachen vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus geschieht, wird nur hin und wieder deutlich, so im "Madrigal auf den 9. November" ("vom NS-Wahn angetrieben") oder in "Unsere Zeit": "Heil und Heil der neuen Geilheit".
Viel rhetorischer Bombast wird aufgeboten: "Auf dem Rücken thronte eine Kröte / deren Maul von Schleim und Blut und Eiter troff"; "Schleim" ist überhaupt eine Lieblingsvokabel. Auch feiert der junge Autor gern pathetisch Verbrüderung mit Ausgestoßenen, Vagabunden und Huren ("Ihr Könige und Fürsten des Elends"), bis all das - ein klarer Schnitt - in der Nachkriegszeit plötzlich endet. Der Reim wird aufgegeben, die Metrik befreit. Jetzt ist da eine eigene Sprache von kraftvoller Simplizität, Bölls Markenzeichen, und so verleihen vor allem die dreißig Gedichte zwischen 1952 und 1985 dem Buch seine Relevanz. Anders als der leicht bräsige Romancier schärft der Dichter Worte zu Waffen.
Man kann von gehobener Kasuallyrik sprechen, aber nicht, weil oft Geburtstagsgrüße den Anlass bieten (Helmut Heißenbüttel etwa vermacht Böll das schöne Kurzgedicht "Wortlos / den Wörtern nach / wörtlich / den Worten"), denn auch hier zielt der Autor auf eine weite Öffentlichkeit. Das Gebrauchsförmige dieser entschlackten, treffenden Lyrik liegt in ihrem starken Zeitbezug. Wenn er Hausdurchsuchungen wegen einer ihm unterstellten Nähe zur RAF verarbeitet, auf die Sitzblockade vor dem amerikanischen Atomraketenarsenal in Mutlangen oder auf die vielen Starfighter-Abstürze anspielt, dann ist darin ein ganzes Zeitalter aufgehoben. Bölls ungeformte Jugendwut scheint ihr Ziel gefunden zu haben. Dass ein derart engagierter Autor von wieder aktivistischen Gegenwartsautoren nicht stärker verehrt wird, liegt wohl daran, dass die leicht verwitterte Grundthematik - Kapitalismus versus Sozialismus - denn doch eine andere ist als heute. Um Feminismus, Gender-Identität oder postkoloniale Emanzipation geht es in den Gedichten nicht einmal unausgesprochen.
Noch ein Missverständnis besteht darin, dass man den Katholiken Böll immer mit Köln identifiziert hat, seiner Heimatstadt, gegen deren selbstverliebte Kleingeistigkeit er doch all die Jahre zu Felde gezogen ist. Wie zerrüttet dieses Verhältnis war, belegen die besten Texte im vorliegenden Band, die freilich schon häufig edierten vier Köln-Gedichte. In "Köln I" wird an Kanälen gelauscht, hinab ins halb christliche, halb römische Unterbewusstsein der Stadt, wo die "dunkle Mutter" Colonia Madonna und Dionysos verkuppelt - welch kölnischer Hochmut - und sich selbst, "durch Geschichte / nicht gebessert", allen feilbietet, "die guter Münze sind". "Versunken" ist für Böll die alte, würdevolle Stadt. "Köln III" rechnet 1971 mit dem "dreißigjährigen Krieg / der Bauplaner" ab, mit all der "Kunst am Bau" der "Preßlufthammerflakregimenter". Vorkriege gab es auch: Schon die preußischen Domtürme waren Böll ein Gräuel. Nur der ungerührt vorbeifließende Rhein blieb ihm immer heilig.
Ein wenig Kölner Großspurigkeit hat sich auch in diese Ausgabe geschlichen, die sich im Klappentext selbst als "bibliophile" lobt (einige maue Autographen-Fotos sind enthalten) und stolz anmerkt, dass "sorgsam ediert" wurde, dann aber gleich auf der Titelseite einen kapitalen Bock schießt: Jochen Schubert (vom Heinrich-Böll-Archiv), einer der Editoren neben René Böll und Gabriele Ewenz, firmiert da als "Joachim". Zu den gut gealterten Gedichten Bölls gehören die persönlichen, etwa über den früh gestorbenen Sohn Raimund: "Ein Jahr hat keine Zeit / Rai / ist keine / heilt nicht". Und das schönste, bekannteste und einfachste Böll-Poem von allen (das stärkste auch, vielleicht der "Splitter Unvergänglichkeit", auf den er an anderer Stelle hofft) ist eines der allerletzten, der Beitrag des Dichters zum Poesiealbum der neunjährigen Enkelin Samay: "Wir kommen weit her / liebes Kind / und müssen weit gehen / keine Angst / alle sind bei Dir / die vor Dir waren / Deine Mutter, Dein Vater / und alle, die vor ihnen waren / weit weit zurück / alle sind bei Dir / keine Angst". OLIVER JUNGEN
Heinrich Böll:
"Ein Jahr hat keine Zeit". Gedichte.
Hrsg. von René Böll, Gabriele Ewenz und Jochen Schubert. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2021. 188 S., geb., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Lyrik gegen die Perversionen der Zeit: Erstmals sind Heinrich Bölls Gedichte aus allen Lebensphasen gesammelt in einem Band erschienen
Zarte neunzehn Jahr' - und schon ein Greis? Welcher Knabe, gerade das Abitur in der Tasche, macht das schon: im Spaziergang nach Ruhe vor "Disharmonien" suchen? Der "Hölle" entkommt er an den Rhein, wo es noch etwas fromme Stille gibt: "Nur vereinzelt dringt das vorlaute Bellen / eines der Götter unserer Zeit / eines 'Automobilisten' / bis hierher." Aber es wäre doch ganz falsch, hier nur den spießigen Antimodernisten zu sehen, den Motorenverächter, der Heinrich Böll immer blieb. Schließlich steht da auch das Entstehungsdatum des kleinen Gedichts: November 1937.
Schon gerät alles ins Rutschen, denn der Lärm ist bereits der der Pogrome, aus denen ein Völkermord werden wird, fürwahr ein Höllenlärm. Stille zu suchen ist im November 1937 alles andere als spießig. Und dass einer, kaum erwachsen, in diesen Jahren Gedichte voll von christlichem Pathos schreibt, Erweckungs-, Preis- und Verdammungspoeme, die nun erstmals (zusammen mit den späteren: Böll hat immer gedichtet) in einer Buchausgabe zusammengestellt sind, das ist weniger Frömmigkeit als Widerstand gegen den Suizid aller Humanität. Der Neinsager vom Rhein wendet sich an den einen, richtigen Gott, weil er ihm mächtiger scheint als die selbst ernannte Herrenrasse: "Gottes ist das Gericht". Kreuz gegen Haken, darin steckt ein verzweifelter Existenzialismus. Eine Kampfansage.
Der neue Band bietet die Gelegenheit, Böll, den man heute fast immer nur vom Ende her betrachtet, vom Kampf mit der Springer-Presse oder vom Nobelpreis aus, den viele Kritiker dem "guten Menschen von Köln", den sie eher für einen Volksschriftsteller hielten, nicht wirklich gönnten, noch einmal ganz neu und ab ovo - ein guter Teil sind Schülergedichte - kennenzulernen. Freilich gelingt der Versuch des ehernen Böll-Verlags Kiepenheuer & Witsch, den einst so populären, heute wenig gelesenen Autor nun als Poet zu reklamieren, nicht so ganz. Leider muss man also Robert Gernhardts Urteil - "Er wär' überhaupt erste Sahne / Wären da nicht die Romane" - präzisieren: Viel besser ist die Lyrik auch nicht. Wobei mit "besser" avantgardistischer gemeint ist, also formal gewagt, humorvoll, sprachlich verspielt, denn gut auf eine andere, verlässliche Weise sind die Gedichte durchaus. Sie rühren und erregen, schreiben sich kommentierend ein in ihre Zeit, über die sie gar nicht hinauswollen: "im Vorübergehen / das Vergangene / im Vergänglichen / . . . / festhalten".
Die meisten der frühen Gedichte wurden bislang einzig in der "Kölner Ausgabe" gedruckt, sieben sind sogar Erstveröffentlichungen. Böll selbst maß ihnen, wie das kenntnisreiche Nachwort ausführt, "einen geringen Stellenwert" bei. Nicht ganz grundlos. Nun müssen sie herhalten als "Feldversuche einer frühen Autorschaft". Es handelt sich um Etüden, mal heißblütige, mal sehnsüchtige. Gern bilden sie Expressionistisches nach, hier traklnd: "Draußen, wo das Ärgernis sich staute / wie ein Meer von faulig-trüben Tropfen / wo Getaufte und Geweihte / mit der Soße Sumpf den Hunger stopften", dort schwitternd: "Ra Ta Ta! / Schti - Schta! / Romm Bomm". Mehrere Themenkomplexe halten sich die Waage: Jugendverzweiflung ("O Tod, Du anmutiger Mörder / ich lade Dich jubelnd ein"), Auflehnung gegen die Verhältnisse ("Unsere Zivilisation stinkt . . . / Vorgestern roch sie übel nach Kohle und Blut . . . / heute trieft sie von Öl und Blut . . . / Eins blieb sich gleich: / DIVIDENDE!!!") und Identitätsfindung im Schatten des Kreuzes ("da blitzet groß und leuchtend / und siegend über Schmutz / ein Kreuz, ein Kreuz erleuchtet / nun wußt' ich, wo mein Schutz"). Dass dieses Erwachen vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus geschieht, wird nur hin und wieder deutlich, so im "Madrigal auf den 9. November" ("vom NS-Wahn angetrieben") oder in "Unsere Zeit": "Heil und Heil der neuen Geilheit".
Viel rhetorischer Bombast wird aufgeboten: "Auf dem Rücken thronte eine Kröte / deren Maul von Schleim und Blut und Eiter troff"; "Schleim" ist überhaupt eine Lieblingsvokabel. Auch feiert der junge Autor gern pathetisch Verbrüderung mit Ausgestoßenen, Vagabunden und Huren ("Ihr Könige und Fürsten des Elends"), bis all das - ein klarer Schnitt - in der Nachkriegszeit plötzlich endet. Der Reim wird aufgegeben, die Metrik befreit. Jetzt ist da eine eigene Sprache von kraftvoller Simplizität, Bölls Markenzeichen, und so verleihen vor allem die dreißig Gedichte zwischen 1952 und 1985 dem Buch seine Relevanz. Anders als der leicht bräsige Romancier schärft der Dichter Worte zu Waffen.
Man kann von gehobener Kasuallyrik sprechen, aber nicht, weil oft Geburtstagsgrüße den Anlass bieten (Helmut Heißenbüttel etwa vermacht Böll das schöne Kurzgedicht "Wortlos / den Wörtern nach / wörtlich / den Worten"), denn auch hier zielt der Autor auf eine weite Öffentlichkeit. Das Gebrauchsförmige dieser entschlackten, treffenden Lyrik liegt in ihrem starken Zeitbezug. Wenn er Hausdurchsuchungen wegen einer ihm unterstellten Nähe zur RAF verarbeitet, auf die Sitzblockade vor dem amerikanischen Atomraketenarsenal in Mutlangen oder auf die vielen Starfighter-Abstürze anspielt, dann ist darin ein ganzes Zeitalter aufgehoben. Bölls ungeformte Jugendwut scheint ihr Ziel gefunden zu haben. Dass ein derart engagierter Autor von wieder aktivistischen Gegenwartsautoren nicht stärker verehrt wird, liegt wohl daran, dass die leicht verwitterte Grundthematik - Kapitalismus versus Sozialismus - denn doch eine andere ist als heute. Um Feminismus, Gender-Identität oder postkoloniale Emanzipation geht es in den Gedichten nicht einmal unausgesprochen.
Noch ein Missverständnis besteht darin, dass man den Katholiken Böll immer mit Köln identifiziert hat, seiner Heimatstadt, gegen deren selbstverliebte Kleingeistigkeit er doch all die Jahre zu Felde gezogen ist. Wie zerrüttet dieses Verhältnis war, belegen die besten Texte im vorliegenden Band, die freilich schon häufig edierten vier Köln-Gedichte. In "Köln I" wird an Kanälen gelauscht, hinab ins halb christliche, halb römische Unterbewusstsein der Stadt, wo die "dunkle Mutter" Colonia Madonna und Dionysos verkuppelt - welch kölnischer Hochmut - und sich selbst, "durch Geschichte / nicht gebessert", allen feilbietet, "die guter Münze sind". "Versunken" ist für Böll die alte, würdevolle Stadt. "Köln III" rechnet 1971 mit dem "dreißigjährigen Krieg / der Bauplaner" ab, mit all der "Kunst am Bau" der "Preßlufthammerflakregimenter". Vorkriege gab es auch: Schon die preußischen Domtürme waren Böll ein Gräuel. Nur der ungerührt vorbeifließende Rhein blieb ihm immer heilig.
Ein wenig Kölner Großspurigkeit hat sich auch in diese Ausgabe geschlichen, die sich im Klappentext selbst als "bibliophile" lobt (einige maue Autographen-Fotos sind enthalten) und stolz anmerkt, dass "sorgsam ediert" wurde, dann aber gleich auf der Titelseite einen kapitalen Bock schießt: Jochen Schubert (vom Heinrich-Böll-Archiv), einer der Editoren neben René Böll und Gabriele Ewenz, firmiert da als "Joachim". Zu den gut gealterten Gedichten Bölls gehören die persönlichen, etwa über den früh gestorbenen Sohn Raimund: "Ein Jahr hat keine Zeit / Rai / ist keine / heilt nicht". Und das schönste, bekannteste und einfachste Böll-Poem von allen (das stärkste auch, vielleicht der "Splitter Unvergänglichkeit", auf den er an anderer Stelle hofft) ist eines der allerletzten, der Beitrag des Dichters zum Poesiealbum der neunjährigen Enkelin Samay: "Wir kommen weit her / liebes Kind / und müssen weit gehen / keine Angst / alle sind bei Dir / die vor Dir waren / Deine Mutter, Dein Vater / und alle, die vor ihnen waren / weit weit zurück / alle sind bei Dir / keine Angst". OLIVER JUNGEN
Heinrich Böll:
"Ein Jahr hat keine Zeit". Gedichte.
Hrsg. von René Böll, Gabriele Ewenz und Jochen Schubert. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2021. 188 S., geb., 20,- Euro.
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»Wunderbar, dass Bölls Sohn René und seine beiden Mitherausgeber nun [...] auch bislang unveröffentlichte Texte in einem band vorgelegt haben.« Michael Augustin Lesart 20220204