Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Barbara Honigmann verstößt gegen das Verschwiegenheitsgebot
Das erste Gebot versteht sich von selbst: Du sollst nicht lügen. Das zweite ist ein Gebot des Pragmatismus: Aber wenn du lügst, dann lüge so nah wie möglich an der Wahrheit. So hat es Barbara Honigmann in ihrer Kindheit von der Mutter gelernt. Daran hält sie sich. Diese Sätze dienen ihr heute als Leitfaden des literarischen Schreibens. In all ihren Büchern schreibt sie so unverhüllt autobiographisch, daß man ihre fortgesetzte Familienrecherche, die eine Rekonstruktion ihrer jüdischen Wurzeln ist, fast schon als Dokumentarliteratur in eigener Sache lesen kann. Von Buch zu Buch schreibt sie sich tiefer hinein in diese Geschichte, benutzt Briefe, Tagebuchnotizen und Aktenmaterial als Quellen - soweit sie ihrer habhaft werden kann. Doch üppig ist die Hinterlassenschaft der Familie nicht. Die Mutter war eine Spurenvernichterin. Sie zerriß Briefe, die sie gelesen hatte, und verwahrte Fotos achtlos und ohne Beschriftung in einem Karton. Da bleibt der Tochter nichts anderes übrig, als ihre Version des Lebens der Mutter dicht an der Wahrheit entlang zu erfinden. "Ein Kapitel aus meinem Leben" heißt ihr neues Buch, das diese Geschichte erzählt.
Die Mutter war ein chamäleonhaftes Wesen. Sie hieß Alice Kohlmann oder Kollmann, wurde aber in früheren Lebensabschnitten Lizzy oder Litzy genannt. Ihre Haare färbte sie so lange in allen Tönen, daß sie ihre natürliche Farbe vergaß. Ihren Geburtstag feierte sie, weil es praktischer war, am 1. Mai - und nicht am 2. oder 3., an dem sie 1909 geboren wurde. Und noch das Datum ihres Todes, allein in einem Altersheim in Wien, ist unklar. Weil sie mitten in der Nacht starb, mußte die Tochter sich für eine Stunde entscheiden und den Schlußpunkt unter die mütterliche Undeutlichkeit am Rande der Wahrheit setzen.
Schon in den früheren Prosatexten konnte man einiges über die Mutter erfahren - vor allem, wie zurückhaltend sie war, wenn es galt, Auskunft über ihr Leben zu geben. In "Eine Liebe aus Nichts" (1991), wo es um das Sterben des Vaters ging, blieb sie eine Randfigur, die systematisch aus dem Geschehen hinausgeschrieben wurde. Während Barbara Honigmann ihre 1984 vollzogene Übersiedlung von Ost-Berlin nach Straßburg und damit gewissermaßen den Übertritt vom Sozialismus ins Tora-Judentum reflektierte, erfand sie für die Mutter eine Rückkehr ins angebliche Geburtsland Bulgarien. Dort habe sie bald nur noch bulgarisch gesprochen, so daß die weitere Verständigung mit ihr unmöglich wurde. In den essayistischen Erzählungen "Damals, dann und danach" wurde die Geschichte der Mutter schon etwas verständlicher. Ihr Geburtsort Wien, ihre Kindheit bei den Großeltern in einem ungarischen Dorf, die Exilstationen der Kommunistin in Paris und London, ihre Unzugehörigkeit in Ost-Berlin, wohin sie nach dem Krieg ihrem dritten Mann folgte, sind aus diesen Texten bekannt. Die Schwierigkeit der Tochter bestand darin, "daß unsere Eltern, indem sie ihr Judentum völlig beiseite gelegt, sich auch von ihrer Herkunft und Geschichte ganz abgeschnitten hatten und deshalb nur in Rätseln oder überhaupt nicht zu uns sprechen konnten. Diese Rätsel wollten wir nun sozusagen hinter ihrem Rücken lösen."
Für die 1949 geborene Barbara Honigmann ergab sich daraus die Pflicht zur Wiederentdeckung des eigenen Judentums - gegen die bis zur Selbstverleugnung assimilierten Eltern, die sie in einen "Zustand völliger Unbehaustheit" versetzt hatten. Deren Schweigen und die Verdrängung der Herkunft erklärte sie einerseits mit dem verbreiteten Schuldsyndrom der Überlebenden des Holocaust, vor allem aber mit der Unvereinbarkeit von jüdischer und kommunistischer Identität. So gab es 1951 in der DDR eine Verordnung, wonach Parteimitglieder nicht auch Mitglied der Jüdischen Gemeinde sein konnten. Die Mutter trat deshalb aus der Jüdischen Gemeinde aus. Für die Tochter ist es nun eine Überraschung zu entdecken, daß sie sich nach 1945 überhaupt für die Jüdische Gemeinde interessiert hat und dort Mitglied wurde.
In "Ein Kapitel aus meinem Leben" drängen sich jedoch andere Gründe für die mütterliche Geschichtsverschwiegenheit auf. Der "junge Engländer", dessen Bild sich einst in der Schachtel mit Fotos fand, entpuppt sich als zweiter Ehemann der Mutter. Es ist Kim Philby, ein britischer Geheimdienstmann, der 1964 in England als russischer Agent enttarnt wurde, sich aber rechtzeitig in die Sowjetunion absetzen konnte. Die Mutter war von 1933 bis 1945 mit ihm verheiratet und teilte mit ihm die Konspiration. Ja, vielleicht war sie es sogar, die den Kontakt zum sowjetischen Geheimdienst herstellte. Als Achtzigjährige erzählte sie der Tochter erstmals von "diesem Kapitel aus meinem Leben". Doch viele Fragen blieben offen. Barbara Honigmann begnügt sich damit, die Geheimnisse, die ihre Mutter umstellen, zu benennen, anstatt die Lücken mit Erfindungen auszufüllen. Rätselhaft etwa, warum der sowjetische Geheimdienst der Mutter so vertraute, daß er sie zwischen 1945 und 1964, als Philby enttarnt wurde, unbehelligt ließ. Als Geheimnisträgerin war sie ein Risiko und hätte jederzeit nach West-Berlin fahren können, um ihr Wissen preiszugeben. Oder stand sie auch da noch in Diensten des KGB?
Folgenreicher für die Tochter ist es jedoch, daß das Schweigen der Mutter nun weniger als Verdrängung des Jüdischen denn als eine in Fleisch und Blut übergegangene Konspiration erscheint. Damit revidiert Barbara Honigmann ihre frühere Sichtweise, ergänzt sie zumindest durch ein anderes, widersprüchliches und gefährliches Element. Auch die eigene Suche nach ihrer jüdischen Identität muß sie nun neu begründen. Tradition und Religiosität wurden ihr einst um so wichtiger, je unhaltbarer die kommunistischen Ideale der Eltern waren. Jetzt, mehr als ein Jahrzehnt nach dem Untergang des Sozialismus und dem Tod der Mutter, kann diese Frontstellung schon lange nicht mehr genügen. Das eigene Jüdischsein hat unterdessen an Selbstverständlichkeit gewonnen. Der in früheren Büchern gelegentlich spürbare, unangenehm eifrige Ton der frisch Bekehrten ist verschwunden. Deshalb wird jetzt der Blick frei für die andere Geschichte der Mutter.
Indem Barbara Honigmann diese Geschichte erzählt, verstößt sie jedoch gegen das Verschwiegenheitsgebot, lehnt sich also doch noch einmal auf. Die Mutter hatte sich allen Auskunftsbegehren von Philby-Biographen hartnäckig verweigert. Sie wollte nicht in solchen Büchern als Frau des Spions vorkommen. Barbara Honigmann "verrät" nun mit dem Roman ihre Mutter. Ihr Erzählen ist ein Akt der Dekonspiration, ihr Buch ein Epitaph voll zärtlicher Zuneigung. Liest man ihre Bücher nacheinander, läßt sich erkennen, wie mühsam es gewesen ist, Nähe zu dieser Mutter herzustellen. Alice Kohlmann hat ihre Eltern in London in Gräbern ohne Steine und Namen zurückgelassen. Nur eine gezeichnete Karte im Nachlaß verriet, wo diese Gräber sich befinden. Barbara Honigmann ist nicht bereit, die mütterliche Spurenverwischung fortzusetzen, im Gegenteil. Sie arbeitet hartnäckig daran, ihre Herkunft kenntlich zu machen. Ein größerer Gegensatz als der zwischen einer Geheimdienstlerin und einer nach Öffentlichkeit strebenden Schriftstellerin ist wohl kaum denkbar.
JÖRG MAGENAU
Barbara Honigmann: "Ein Kapitel aus meinem Leben". Hanser Verlag, München/ Wien 2004. 142 S,, geb., 15,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Uwe Wittstock, Die Welt, 04.09.04
"Ein berührendes und unterhaltsames Porträt einer eigenwilligen Frau, ein vielschichtiges Zeitbild, in dem sich individuelle Widersprüche in den Paradoxien der Zeitgeschichte spiegeln. ... So souverän und zugleich liebevoll muss man die Freiheiten des biografischen Schreibens erst einmal auszureizen wissen."
Sibylle Birrer, Neue Zürcher Zeitung, 25./26.09.04
"Barbara Honigmann gibt der Sache, auch den Gefühlen, den einfachsten und manchmal gerade deshalb umso raffinierteren Ausdruck - oft voller Witz und Ironie."
Claudia Kühner, Tages-Anzeiger, 21.10.04
"Barbara Honigmanns Buch ist ein sprachliches und erzählerisches Ereignis."
Volker Breidecker, Süddeutsche Zeitung, 18./19.12.04