In leuchtenden, konzentrierten Szenen blättert sich ein Jahrhundertleben auf: Das Mädchen Seka aus Sarajevo reitet mit dem Vater in bosnische Bergdörfer. In den 1930er Jahren trifft sie als junge Journalistin in Zagreb auf den deutschen Emigranten, einen Mann vom Theater mit einem Krokodil. Ado ist der jüngste Sohn einer adligen, kaisertreuen Landratsfamilie, aber ein Rebell und Kom- munist. Sie verlieben sich, zwei Kinder werden geboren. Als deutsche Truppen in Zagreb einziehen, verschlägt es sie ins Kriegsberlin und weiter in den Norden an die kühle Ostsee. Seka und Ado verlieren einander, sie findet ihn im KZ-Außenlager Leuna wieder und schleust ihn unerschrocken gegen eine Packung Zigaretten für eine Nacht nach draußen. Nach Kriegsende richten sie ihre Hoffnun- gen auf die DDR. Sie gehen nach Weimar, um eine freie, moderne Theaterschule aufzubauen. Doch die Familie wird erschüttert. Eine Rückkehr nach Zagreb scheitert, Seka findet sich im Westen wieder. Im belagerten Sarajevo der 1990er sehen Tochter und Sohn Jugoslawien blutig zerfallen. In Deutschland wird Seka noch lange leben und immer wieder jene finden, die wie sie die Verhältnisse ändern wollen. Sie ist die Mutter der Autorin, die mit dem wundersamen Erzählstrom der Eltern aufwuchs und die hier ein farbenprächtiges Mosaik des Lebens auslegt, ein poetisches Tableau, mit dem Grundton des Staunens.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.03.2017Ihre Mutter, die Rückkehrerin
"Für etwaige Zweifler also sei es Roman", schrieb Fontane einmal. Marina Achenbach berichtet vom Leben in jugoslawischen und deutschen Wirren.
Von Andreas Platthaus
Lassen wir Titel und Gattungsbezeichnung beiseite; beide sind ersichtlich Resultat von Verlagserwägungen, wie dieses Buch wohl am besten ans Publikum zu bringen sei. Und wenn das Bemühen von Erfolg gekrönt sein sollte, mag es auch keine Rolle spielen, ob "Ein Krokodil für Zagreb" als Titel nicht etwas zu amüsant geraten ist für diese höchst dramatische und tief bewegende Lebensgeschichte im zwanzigsten Jahrhundert. Und ob die Charakterisierung als Roman nicht gleich ganz an der Sache vorbeigeht, wo doch hier ein reales Schicksal erzählt wird, in dem es keine Spur von Fiktion gibt, nicht einmal Namensänderungen, das auch gar keine Fiktion braucht, denn ein solches Leben kann man sich nicht ausdenken. Marina Achenbach hat es zum großen Teil miterlebt. Das unterscheidet sie von Natascha Wodin, die gerade ein ganz ähnlich gearbeitetes Buch herausgebracht hat: das nebenstehend rezensierte "Mariupol". Die Mutter, um die es darin geht, brachte sich um, als ihre Tochter zehn war, Seka von Achenbach dagegen, Marina Achenbachs Mutter, wurde neunzig Jahre alt.
Mit ihrem Tod 2007 endet das Buch, in einer Apotheose der Zurichtung des Leichnams, so dass noch einmal vertraute Züge zurückkehren. "Vom Fenster her fällt Licht auf ihre linke Seite, auf die sachte Mulde der Schläfe mit dem großen Leberfleck unter dem Haar, auf die kühnen Konturen der Augenbrauenknochen, Nasenwurzel, Nasenflügel. Ein neuer langer Abstand von der Nase zu den Lippen macht ihr Gesicht ruhig und souverän. Die Oberlippe eine schmale Linie, eine Schwingung, wie Kinder einen fliegenden Vogel zeichnen. Die rechte, beschattete Seite ihres Gesichts ist streng, unberührbar." Die se Dialektik von Zugewandtheit und Strenge prägte auch die Persönlichkeit, doch eine Eigenschaft zeichnete sie besonders aus, vermittelte die Gegensätze und gibt nun das Muster fürs Erinnerungsbuch vor: "Seka erzählt ihr Leben lang Geschichten, wir hören süchtig zu, obwohl wir sie verdächtigen, dass sie übertreibt. Aber wir spornen sie an mit einem geflüsterten ,Und dann?' Sie rollt ihren Erzählfaden auf, lässt ihn schwirren und kreisen."
Das ist - natürlich - auch das Programm der Autorin Marina Achenbach, die um das Leben ihrer Mutter 120 Szenen webt, nicht streng chronologisch, jede ein Schlaglicht auf einen Lebensumstand, den man sich selbst aus dem Kontext erschließen muss, weil die Schauplätze wechseln. Für ratlose Leser gibt es aber das abschließende Inhaltsverzeichnis, in dem die einzelnen Kapitel Titel bekommen und Handlungsort und -zeit angegeben werden.
Es ist kein Zufall, dass dieses Buch im Jahr des hundertsten Geburtstags von Seka erscheint. Marina Achenbach hat jahrelang daran gearbeitet, die eigenen Erinnerungen festgehalten, die Familienüberlieferung eingearbeitet. Und überall erkennt man die Beobachtungs- und Gestaltungsgabe wieder, die der Mitbegründerin der Wochenzeitung "Freitag" zu eigen ist und sich in ihren beiden früheren Büchern, "Auf dem Weg nach Sarajevo" (1994) und "Echoraum" (2009), beides journalistische Textsammlungen, schon zeigte. In der höchstpersönlichen Hommage an die eigene Mutter aber tritt zum unbestechlichen Blick eine Zärtlichkeit der Wahrnehmung, die ein Spiegelbild der beiden mütterlichen Gesichter abgibt: auch hier Strenge und Zugewandtheit.
Geboren im Jahr der Oktoberrevolution, heiratet die junge Bosnierin Seka 1938 den fast zwanzig Jahre älteren Deutschen Ado von Achenbach, der vor dem Nationalsozialismus nach Jugoslawien geflohen ist. Doch schon vier Jahre später geht es gemeinsam zurück nach Deutschland, denn der Terror der kroatischen Ustascha in Zagreb ist schlimmer als die Aussicht auf die Nazis, und Ados jüdische Mutter wohnt eh noch in Berlin. Dort erlebt Seka die Bombennächte, gemeinsam mit der kleinen Marina und deren gerade erst geborenem Bruder Andreas Tvrtko. Nach dem glücklich überlebten Krieg bleibt die bald um ein drittes Kind vergrößerte Familie in der DDR - es gibt ein faszinierendes Kapitel über den 17. Juni 1953 aus der Sicht einer überzeugten Sozialistin -, aber 1957 stirbt unerwartet der Vater. Und Seka treibt es zurück nach Jugoslawien.
Die Liebe zum Vielvölkerstaat im Süden hat sie ihren Kindern vermittelt, und die jugoslawischen Jahre werden zum Paradies. Doch nur so lange, bis Titos Regime endgültig mit dem Warschauer Pakt gebrochen hat und in Seka eine ostdeutsche Spionin vermutet, so dass sie ihre Heimat verlassen muss. "Zurückkehren endet übel", hat sie schon zweimal lernen müssen, also geht sie nun mit den Kindern in die Bundesrepublik, nach München, doch dort fehlt ihr das südliche Licht und - trotz allem - der Sozialismus. Die Kinder leben sich ein, Seka arbeitet sich ein, macht irgendwie ihren Frieden erst mit West-, dann dem vereinigten Deutschland. Einen schrecklichen Schock hält ihr letztes Lebensjahrzehnt noch parat: "Seka zieht ihre Ringe ab, hört auf, das Haar zu färben, an den Augenwinkeln bilden sich tiefe Einbuchtungen in die Nasenwurzel." Es entsteht das vom Leben gegerbte Gesicht, das am Todestag noch einmal so hergerichtet werden wird, wie es früher einmal war.
Es ist kein spektakuläres Schicksal, das Seka und die Ihren durchleben, eines wie so viele im ideologisch vergifteteten zwanzigsten Jahrhundert. Was es - auch hier ganz wie bei Natascha Wodin - zu einem besonderen macht, ist die Nahaufnahme von Seka. Und so liegt die einzige Schwäche des Buchs darin, dass Marina Achenbach einmal die Fokussierung auf die Mutter opfert und eine eigene Reportagereise von 1993 ins belagerte Sarajevo zwischenblendet: erschütternd erzählt und eine Liebeserklärung an Sekas Geburtsstadt, aber auch ein Fremdkörper. Darin allerdings auch wieder wie Seka selbst.
Eine der kleinen Szenen, die dieses große Erinnerungsbuch ausmachen, endet mit dem Blick auf zwei Fischer in Sambia, wo Seka eine Freundin besucht und die Schönheit zweier Frauen bewundert, die sie beim Durchqueren eines Flusses beobachtet. Eine alltägliche Szene für die einheimischen Fischer, doch "vielleicht schauen sie in diesem Moment auf die Szene, die sie ihr Leben lang kennen, mit den Augen der fremden Frau". Das, und nicht weniger, leistet der angebliche Roman "Ein Krokodil für Zagreb". Das ist viel. Marina Achenbach nennt ihr Buch eine Wundertüte. Nein, es ist einfach wundervoll.
Marina Achenbach: "Ein Krokodil für Zagreb". Roman.
Edition Nautilus, Hamburg 2017. 224 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Für etwaige Zweifler also sei es Roman", schrieb Fontane einmal. Marina Achenbach berichtet vom Leben in jugoslawischen und deutschen Wirren.
Von Andreas Platthaus
Lassen wir Titel und Gattungsbezeichnung beiseite; beide sind ersichtlich Resultat von Verlagserwägungen, wie dieses Buch wohl am besten ans Publikum zu bringen sei. Und wenn das Bemühen von Erfolg gekrönt sein sollte, mag es auch keine Rolle spielen, ob "Ein Krokodil für Zagreb" als Titel nicht etwas zu amüsant geraten ist für diese höchst dramatische und tief bewegende Lebensgeschichte im zwanzigsten Jahrhundert. Und ob die Charakterisierung als Roman nicht gleich ganz an der Sache vorbeigeht, wo doch hier ein reales Schicksal erzählt wird, in dem es keine Spur von Fiktion gibt, nicht einmal Namensänderungen, das auch gar keine Fiktion braucht, denn ein solches Leben kann man sich nicht ausdenken. Marina Achenbach hat es zum großen Teil miterlebt. Das unterscheidet sie von Natascha Wodin, die gerade ein ganz ähnlich gearbeitetes Buch herausgebracht hat: das nebenstehend rezensierte "Mariupol". Die Mutter, um die es darin geht, brachte sich um, als ihre Tochter zehn war, Seka von Achenbach dagegen, Marina Achenbachs Mutter, wurde neunzig Jahre alt.
Mit ihrem Tod 2007 endet das Buch, in einer Apotheose der Zurichtung des Leichnams, so dass noch einmal vertraute Züge zurückkehren. "Vom Fenster her fällt Licht auf ihre linke Seite, auf die sachte Mulde der Schläfe mit dem großen Leberfleck unter dem Haar, auf die kühnen Konturen der Augenbrauenknochen, Nasenwurzel, Nasenflügel. Ein neuer langer Abstand von der Nase zu den Lippen macht ihr Gesicht ruhig und souverän. Die Oberlippe eine schmale Linie, eine Schwingung, wie Kinder einen fliegenden Vogel zeichnen. Die rechte, beschattete Seite ihres Gesichts ist streng, unberührbar." Die se Dialektik von Zugewandtheit und Strenge prägte auch die Persönlichkeit, doch eine Eigenschaft zeichnete sie besonders aus, vermittelte die Gegensätze und gibt nun das Muster fürs Erinnerungsbuch vor: "Seka erzählt ihr Leben lang Geschichten, wir hören süchtig zu, obwohl wir sie verdächtigen, dass sie übertreibt. Aber wir spornen sie an mit einem geflüsterten ,Und dann?' Sie rollt ihren Erzählfaden auf, lässt ihn schwirren und kreisen."
Das ist - natürlich - auch das Programm der Autorin Marina Achenbach, die um das Leben ihrer Mutter 120 Szenen webt, nicht streng chronologisch, jede ein Schlaglicht auf einen Lebensumstand, den man sich selbst aus dem Kontext erschließen muss, weil die Schauplätze wechseln. Für ratlose Leser gibt es aber das abschließende Inhaltsverzeichnis, in dem die einzelnen Kapitel Titel bekommen und Handlungsort und -zeit angegeben werden.
Es ist kein Zufall, dass dieses Buch im Jahr des hundertsten Geburtstags von Seka erscheint. Marina Achenbach hat jahrelang daran gearbeitet, die eigenen Erinnerungen festgehalten, die Familienüberlieferung eingearbeitet. Und überall erkennt man die Beobachtungs- und Gestaltungsgabe wieder, die der Mitbegründerin der Wochenzeitung "Freitag" zu eigen ist und sich in ihren beiden früheren Büchern, "Auf dem Weg nach Sarajevo" (1994) und "Echoraum" (2009), beides journalistische Textsammlungen, schon zeigte. In der höchstpersönlichen Hommage an die eigene Mutter aber tritt zum unbestechlichen Blick eine Zärtlichkeit der Wahrnehmung, die ein Spiegelbild der beiden mütterlichen Gesichter abgibt: auch hier Strenge und Zugewandtheit.
Geboren im Jahr der Oktoberrevolution, heiratet die junge Bosnierin Seka 1938 den fast zwanzig Jahre älteren Deutschen Ado von Achenbach, der vor dem Nationalsozialismus nach Jugoslawien geflohen ist. Doch schon vier Jahre später geht es gemeinsam zurück nach Deutschland, denn der Terror der kroatischen Ustascha in Zagreb ist schlimmer als die Aussicht auf die Nazis, und Ados jüdische Mutter wohnt eh noch in Berlin. Dort erlebt Seka die Bombennächte, gemeinsam mit der kleinen Marina und deren gerade erst geborenem Bruder Andreas Tvrtko. Nach dem glücklich überlebten Krieg bleibt die bald um ein drittes Kind vergrößerte Familie in der DDR - es gibt ein faszinierendes Kapitel über den 17. Juni 1953 aus der Sicht einer überzeugten Sozialistin -, aber 1957 stirbt unerwartet der Vater. Und Seka treibt es zurück nach Jugoslawien.
Die Liebe zum Vielvölkerstaat im Süden hat sie ihren Kindern vermittelt, und die jugoslawischen Jahre werden zum Paradies. Doch nur so lange, bis Titos Regime endgültig mit dem Warschauer Pakt gebrochen hat und in Seka eine ostdeutsche Spionin vermutet, so dass sie ihre Heimat verlassen muss. "Zurückkehren endet übel", hat sie schon zweimal lernen müssen, also geht sie nun mit den Kindern in die Bundesrepublik, nach München, doch dort fehlt ihr das südliche Licht und - trotz allem - der Sozialismus. Die Kinder leben sich ein, Seka arbeitet sich ein, macht irgendwie ihren Frieden erst mit West-, dann dem vereinigten Deutschland. Einen schrecklichen Schock hält ihr letztes Lebensjahrzehnt noch parat: "Seka zieht ihre Ringe ab, hört auf, das Haar zu färben, an den Augenwinkeln bilden sich tiefe Einbuchtungen in die Nasenwurzel." Es entsteht das vom Leben gegerbte Gesicht, das am Todestag noch einmal so hergerichtet werden wird, wie es früher einmal war.
Es ist kein spektakuläres Schicksal, das Seka und die Ihren durchleben, eines wie so viele im ideologisch vergifteteten zwanzigsten Jahrhundert. Was es - auch hier ganz wie bei Natascha Wodin - zu einem besonderen macht, ist die Nahaufnahme von Seka. Und so liegt die einzige Schwäche des Buchs darin, dass Marina Achenbach einmal die Fokussierung auf die Mutter opfert und eine eigene Reportagereise von 1993 ins belagerte Sarajevo zwischenblendet: erschütternd erzählt und eine Liebeserklärung an Sekas Geburtsstadt, aber auch ein Fremdkörper. Darin allerdings auch wieder wie Seka selbst.
Eine der kleinen Szenen, die dieses große Erinnerungsbuch ausmachen, endet mit dem Blick auf zwei Fischer in Sambia, wo Seka eine Freundin besucht und die Schönheit zweier Frauen bewundert, die sie beim Durchqueren eines Flusses beobachtet. Eine alltägliche Szene für die einheimischen Fischer, doch "vielleicht schauen sie in diesem Moment auf die Szene, die sie ihr Leben lang kennen, mit den Augen der fremden Frau". Das, und nicht weniger, leistet der angebliche Roman "Ein Krokodil für Zagreb". Das ist viel. Marina Achenbach nennt ihr Buch eine Wundertüte. Nein, es ist einfach wundervoll.
Marina Achenbach: "Ein Krokodil für Zagreb". Roman.
Edition Nautilus, Hamburg 2017. 224 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main