Als der fast 91-jährige Albert Pawlak an Heiligabend vor seinem Computer in Vancouver zusammenbricht, ist es nicht die erste lebensbedrohliche Situation, der er sich ausgesetzt sieht. Schon ein paar Jahre zuvor musste er sich nach einem Herzinfarkt einer Operation unterziehen. Doch im Vergleich zu
dem Leben, das Albert führte, muten diese eigentlich doch so dramatischen Ereignisse fast…mehrAls der fast 91-jährige Albert Pawlak an Heiligabend vor seinem Computer in Vancouver zusammenbricht, ist es nicht die erste lebensbedrohliche Situation, der er sich ausgesetzt sieht. Schon ein paar Jahre zuvor musste er sich nach einem Herzinfarkt einer Operation unterziehen. Doch im Vergleich zu dem Leben, das Albert führte, muten diese eigentlich doch so dramatischen Ereignisse fast unspektakulär an. Denn Albert lebte ein "Leben in vier Welten": vom Nationalsozialismus über die neu gegründete DDR, von der Flucht in die Bundesrepublik bis zur Auswanderung nach Kanada.
Man muss zunächst einmal festhalten, wie professionell dieser selbstverlegte Roman geraten ist. Neben einem ansprechenden Cover hat sich Brachvogel in seinem Debüt ein sehr gutes Lektorat und offenbar auch Korrektorat geleistet. Äußerst gelungen ist auch der Schachzug, vielen der insgesamt 20 Kapiteln ein Zitat voranzustellen, das unmittelbar auf die Handlung Bezug nimmt.
Die Geschichte, die Ich-Erzähler Albert präsentiert, ist spannend genug. Wohl kaum jemand kann von sich behaupten, in vier verschiedenen Welten gelebt zu haben. Brachvogel wählt konsequent die Retrospektive. Gemeinsam mit den Leser:innen lässt der schwerkranke Albert diese unterschiedlichen Welten vor seinen Augen Revue passieren. Man folgt dem jungen Albert, als er für die Nationalsozialisten als 14-jähriger Junge Flugzeugteile herstellt. Man begleitet ihn als jungen Mann auf seinen Einsätzen in einem Bergwerk im Erzgebirge in der frisch gegründeten DDR. Man leidet mit ihm nach seiner Flucht in den Westen unter den rassistischen Anfeindungen, denen er sich wegen seines aus dem Polnischen stammenden Nachnamens ausgesetzt sieht. Und man atmet mit ihm den Duft der Freiheit und des Neuanfangs nach seiner Auswanderung nach Kanada.
Das Überraschendste an dem Roman ist jedoch, dass er auf einer zweiten Ebene ebenfalls gut funktioniert, ohne dies vielleicht überhaupt zu wollen. Denn auf den ersten Blick ist Albert ein klarer Sympathieträger. Ein charmanter und fleißiger Protagonist, der sich trotz aller Widrigkeiten durchkämpft und dadurch letztlich zu seinem persönlichen Glück findet. Ein empathischer Mensch, der stets an seine Familie denkt und ihr einen Großteil des hart erarbeiteten Lohns zur Verfügung stellt. Und dennoch rattert es im Kopf des Lesenden. Was ist das eigentlich für ein Mensch, der in allen politischen Systemen zu bestehen weiß und dabei immer strebsam seinen Dienst für die Mächtigen leistet? Warum erfahren wir so wenig über sein Privatleben, dafür aber fast alles über die verschiedenen Arbeitsstellen? Kann man es als Leser so durchgehen lassen, dass er Nationalsozialimus und Kommunismus gleichsetzt? Ist es Albert abzunehmen, dass er und vor allem sein gesamtes Umfeld keine Ahnung über die Vorkommnisse hatten, die sich in einem Konzentrationslager in unmittelbarer Nähe abspielten? Der Roman gibt auf all diese Fragen keine Antworten, sondern überlässt es der Leserschaft, diese zu finden. Das macht aus dem eindeutig positiv konnotierten Albert eine erstaunlich komplexe Figur, die stets auf dem schmalen Grat zwischen Anpassung und Widerstand zu wandeln scheint.
Ein paar Schwächen weist der Roman in seiner Dramaturgie auf. Durch die Retrospektive wirkt das Buch bisweilen wie eine Nacherzählung. Albert erzählt zu kleinteilig, wodurch Redundanzen entstehen. Gefühle der Figuren werden zu oft betitelt. Hier könnte das Vertrauen in die Leserschaft noch größer sein, denn Freude, Trauer und Wut lassen sich aus dem Roman auch so deutlich herauslesen, ohne dass sie benannt werden müssten. Brachvogel könnte sich längere Satzkonstruktionen zutrauen, anstatt über weite Strecken vornehmlich auf Hauptsätze zu setzen. Zudem fehlt in einigen Momenten die Atmosphäre. Dass der Autor diese nämlich sehr gut beherrscht, blitzt immer wieder auf, wie beispielsweise auf Seite 21, wo sich Albert als Kind gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder Emil nach einem Versteckspiel seinem Lieblingsplatz mit Blick auf die Ostsee nähert. Ein magischer Kindheitsmoment und meine absolute Lieblingsstelle im Buch, von denen ich mir noch mehr gewünscht hätte.
Insgesamt ist "Ein Leben in vier Welten" jedoch ein lesenswerter Debütroman, der nicht nur durch die unglaubliche Geschichte des Protagonisten Albert zu überzeugen weiß, sondern auch zum Nachdenken anregt. Zum Nachdenken über deutsch-deutsche Geschichte, über Alberts Geschichte und Person speziell, aber auch über sich selbst und die eigene Haltung. Und zur Reflexion über aktuelle Kriege und Konflikte - und über Menschen, die gezwungen sind, ihre Welt aufzugeben, um in einer anderen Welt ein vermeintlich besseres Leben zu finden.